Günter Dux, Ulrich Bröckling, Axel T. Paul | Interview |

Die Logik der Sozialwelt

Günter Dux im Gespräch mit Ulrich Bröckling und Axel T. Paul

Günter Dux ist Begründer der historisch-genetischen Theorie der Gesellschaft, die er seit Ende der 1960er-Jahre systematisch ausgearbeitet hat. Sein im Hinblick auf Anspruch und Reichweite mit Niklas Luhmanns Systemtheorie und Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns vergleichbares Forschungsprogramm umfasst zum einen eine Konstitutionstheorie des Sozialen, welche die Entstehung von Bewusstsein, Sinn und Kultur im Anschluss an naturale Bedingungen rekonstruiert. Zum anderen expliziert es eine Theorie der Geschichte, in der praktisch-soziale Anforderungen an die Lebensführung die Subjekte einerseits zur Fortentwicklung ihrer Denkformen nötigen und diese Denkformen andererseits den Rahmen ihres Welt- und Selbstverständnisses abstecken. Die von Dux behandelten Themen reichen von der Hominisation bis zur modernen Demokratie, von der neolithischen Ausbildung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bis zu den Glaubenskämpfen der Gegenwart, von der Genese des Zeitbegriffs bis zur historischen Entwicklung moralischer Kategorien. Mit der für 2018 geplanten Veröffentlichung der letzten Bände der Gesammelten Schriften (bei Springer VS) liegen die Monografien sowie die wichtigsten Aufsätze Dux’ erneut in gebündelter Form vor.

Erst nach seiner rechtswissenschaftlichen Promotion ist der gelernte Jurist Dux zur Soziologie gestoßen. Wichtig für seinen intellektuellen Werdegang waren die Lehrzeit bei und die Auseinandersetzung mit Thomas Luckmann sowie sein langjähriger Austausch mit Helmuth Plessner. In der Sache verdankt seine historisch-genetische Theorie Jean Piaget wichtige Impulse. Von 1974 bis 1997 lehrte und forschte er als Professor für Soziologie an der Universität Freiburg/Br. Neben Heinrich Popitz und Wolfgang Eßbach zeichnet Dux für die anthropologische, historische und kulturtheoretische Prägung der Freiburger Soziologie verantwortlich. Er lebt in Titisee im Schwarzwald und feiert am 23. Juni diesen Jahres seinen 85. Geburtstag. Das kommende Jubiläum sowie der baldige Abschluss der Gesammelten Schriften waren Anlass für das nachstehende Interview, das wir am 19. Januar und 9. Februar 2018 in Titisee geführt haben.

I. Leben

Sie sind 1933 geboren. Aufgewachsen sind Sie in der Nazizeit, welche Erinnerungen sind damit verbunden?

Bis 1939 habe ich keine prägenden Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gemacht. Eine Rolle gespielt hat die Nazizeit in meiner Kindheit lediglich insofern, als mein Vater sich beharrlich geweigert hat, in die NSDAP einzutreten. Die Begründung wurde aber mit uns nicht diskutiert. Es hieß nur: „Mit diesen Leuten will ich nichts zu tun haben.“

In was für einer Familie sind Sie aufgewachsen?

Aufgewachsen bin ich in Lippe, in agrarisch-handwerklicher Umgebung, in einer, wie man heute sagt, bildungsfernen Familie. Mein Vater hatte Schuhmacher gelernt und war Meister in einer Schuhfabrik.

Was änderte sich mit dem Eintritt in die Schule?

1939 fing auch der Krieg an. Ich bin auf eine sogenannte Volksschule gegangen: Der Unterricht war sehr knapp und sparsam. Der einzige Lehrer an dieser Schule war stark eingebunden in seine Arbeit für die SA und den NS-Lehrerbund. Das führte dazu, dass er häufig auf die Tafel zeigte und zu mir sagte: Macht das mal weiter. Das heißt, ich habe bis zum Kriegsende außer Rechnen und Lesen nicht viel gelernt in der Schule.

Wie ging es nach dem Krieg weiter?

Ich habe die Volksschule neun Jahre besucht und bin dann auf die Aufbauschule nach Detmold gegangen. Das war 1948. Die Aufbauschule war ein allgemeinbildendes Gymnasium, das wohl von der Gewerkschaftsbewegung mitbegründet worden war, um der ländlichen Jugend eine weiterführende Schulausbildung zu ermöglichen. In der Nazizeit wurde sie geschlossen, 1947/48 wiedereröffnet. Es gab in Detmold auch ein reguläres Gymnasium. Der Lehrplan der Aufbauschule sah vor, dass in sechs Jahren der Anschluss an das Gymnasium erreicht werden sollte. Mein eigenes Abitur habe ich 1954 gemacht.

Waren Sie während ihrer Zeit auf der Aufbauschule in einem Internat?

Ja, durch das Internat wurde die Schule zu einer anderen Welt als der, in der ich aufgewachsen war. Ich war urplötzlich in eine Welt versetzt, in der es etwas zu bedenken gab.

Gab es in Ihrer Oberschulzeit prägende Lehrerpersönlichkeiten oder Fächer, für die Ihr Herz geschlagen hat?

Unbedingt. Wenn die Schule der Ort war, an dem es etwas zu bedenken gab, so waren es Lehrer, an denen man beobachten konnte, dass etwas zu wissen das Leben ausmachen konnte. Ich erinnere mich an eine Episode, in der wieder einmal fraglich war, ob ich wegen des leidigen Schulgeldes die Schule würde verlassen müssen. Da hat der Mathe-Lehrer mir auf der Treppe von hinten auf die Schulter geklopft und gesagt: „Dux, das geht nicht. Sie sind bei uns in die Welt des Geistes eingestiegen; Sie können sie jetzt nicht verlassen.“

Sind Sie bereits als Oberschüler zum Leser geworden? Haben Sie die Belletristik für sich entdeckt? Oder die Geschichtsschreibung? Oder anderes? Was haben Sie gelesen?

Ich habe sehr bald mitbekommen, dass man, um etwas zu bedenken, lesen musste. Ich wurde Bibliothekswart. Das hatte den großen Vorzug, dass ich die Bibliothek als eigenes Zimmer hatte. Gelesen habe ich vor allem Literatur, viel zu wenig Geschichte, fast nichts Soziologisches. Dazu fehlte die Anleitung. Irgendwann habe ich mich an Heidegger versucht. Natürlich habe ich so gut wie nichts verstanden. Aber ich war doch sehr beeindruckt, dass man dergleichen denken konnte. Im Abitur habe ich einen Vortrag über Hölderlin gehalten.

Und was kam nach dem Abitur?

Glücklicherweise wurde ich in das Evangelische Studienwerk in Villigst aufgenommen. Es gab damals noch kein Bafög. Und erst während meines Studiums kam auf, dass man sich in den Ferien Geld verdienen konnte.

Stand damals für Sie schon fest, dass Sie Jura studieren wollten?

Ich habe es mir wohl gegen Ende der Schulzeit überlegt. Es sollte sich zeigen, dass mir das Fach auf den Leib geschrieben war. Es fiel mir nicht schwer, die Systematik des Bürgerlichen Gesetzbuches zu durchschauen. Überhaupt hatte ich während des Studiums das Gefühl, in der Juristerei zu Hause zu sein.

Sie haben in Heidelberg begonnen. Warum Heidelberg? Später sind Sie nach Bonn gegangen, gab es dafür einen Grund?

Heidelberg hatte für jemanden vom Lande einfach einen Namen. Das Glücksgefühl, nach einem Werksemester in Villigst in Heidelberg studieren zu können, kann sich ein heutiger Studienanfänger kaum vorstellen. Bleiben konnte ich in Heidelberg nicht und wollte es auch nicht, weil ich aus Nordrhein-Westfalen stammte, und, wenn ich dort in den Justizdienst wollte, in Nordrhein-Westfalen Examen machen musste. Deshalb bin ich 1956 nach Bonn gegangen. Überdies wollte ich zu Scheuner, der einen Namen im Öffentlichen Recht hatte. Bei ihm habe ich dann auch promoviert.

Die Promotion gehörte als das i-Tüpfelchen zur juristischen Ausbildung?

Für mich, ja. Mich hat das Glücksgefühl, studieren zu können, während der ganzen Zeit des Studiums nicht verlassen. Und natürlich wollte ich die Spitze erreichen. Und das war die Promotion.

Hat Politik für Sie damals eine Rolle gespielt? Wurde über die Ausrichtung der jungen Bundesrepublik gestritten? Was waren Themen, mit denen Sie sich als Student beschäftigt haben?

Wir haben im Freundeskreis natürlich über Politik diskutiert: über die Wiederaufrüstung, die Art der Bewaffnung und natürlich über die Nazizeit und die Demokratie. Im Studium selbst spielte die jüngste Vergangenheit keine Rolle, auch nicht im Öffentlichen Recht. Man muss sich das Jurastudium als ein sehr technisches Studium vorstellen, in dem es darum geht, sich in die Systematik des Rechts einzuarbeiten.

Haben Sie außerhalb der Jurisprudenz Seminare und Vorlesungen in anderen Fächern besucht? Heidelberg und Bonn, da waren ja auch große Namen, die man hätte hören können.

Ich habe ein wenig in die Philosophie hineingehört, ich erinnere mich an eine Vorlesung über Sprachphilosophie bei Löwith und an ein Seminar über Hölderlin bei Gadamer, beide in Heidelberg. In Bonn war ich dann, mehr noch als in Heidelberg, mit dem Jura-Studium ausgelastet.

Wann kamen Ihnen Zweifel, ob die Juristerei für Sie eine berufliche Zukunft haben sollte?

Spätestens in der juristischen Ausbildung während der Referendarszeit. Ich war mit etlichen Sachen in Berührung gekommen, ohne dass ich denen hätte nachgehen können.

Wo steckte der Stachel, wenn Sie doch eine Passion für die Juristerei entwickelt hatten? Überdies haben Sie gesagt, dass der juristische Denkstil, insbesondere der des Bürgerlichen Rechts, Ihren Neigungen entgegenkam.

Während der Ausbildung verbringt man längere Zeit am Gericht, man nimmt schon am Amtsgericht an der Beratung teil, das Gleiche an den Beratungen der Kammer am Landgericht. Ich habe dabei eine Hochachtung vor vielen Richtern erworben. Insbesondere die Kammer des Landgerichts in Oldenburg war ein beeindruckendes Gremium. Abgeschreckt haben mich vor allem die Routine und die damit einhergehende Eintönigkeit: Ich wollte nicht jeden Morgen einen fahrbaren Untersatz mit den Akten der Neuzugänge ins Büro geschoben bekommen, um die dann abzuarbeiten.

Fürchteten Sie intellektuelle Fremdbestimmung?

Das war der Punkt. Ich fand nicht, dass ich damit mein Leben verbringen sollte. Die Skepsis wurde dadurch befördert, dass mich der Leiter des Studienwerks Villigst nach dem Ersten Staatsexamen fragte, ob ich Interesse hätte, eine Assistentenstelle im Staatsrecht zu übernehmen. Die Stelle war angesiedelt bei Huber in Wilhelmshaven. In Wilhelmshaven gab es eine Hochschule für Sozialwissenschaften. Dieses Angebot war ein Wendepunkt.

Das war der Verfassungsrechtler Ernst Rudolf Huber, Schüler Carl Schmitts und nach 1945 Verfasser der Deutschen Verfassungsgeschichte?

Ja. Huber war ein Starjurist der NS-Zeit, er hatte die Nürnberger Gesetze kommentiert, was ich natürlich gewusst habe. Trotzdem glaubte ich damals nicht, etwa die Wahl zu haben und deshalb nicht nach Wilhelmshaven zu gehen. Das war 1960/61. Wenn ich schon das Studium als Glück empfunden hatte, so erst recht, unversehens an einer Universität zu sein und alle Möglichkeiten zu haben, mich selbst zu unterrichten. Überdies war die am Jadebusen gelegene Hochschule in Wilhelmshaven ein ideales Fleckchen. Ich habe damals auch geheiratet. Meine Frau ist Medizinerin. Nach ihrem Examen ist sie an die Nordsee nachgekommen.

Wie ging es weiter?

Irgendwann tauchte die Frage auf, ob das Land Niedersachsen die Hochschule weiterführen wollte. Das Angebot, sie der Universität Göttingen einzuverleiben, war höchst umstritten. Huber hat die Zusammenlegung entschieden mitbetrieben. Er wollte, nachdem er nach seinen Aktivitäten in der NS-Zeit mit Mühe wieder eine Professur gefunden hatte, in die große Universitätswelt zurück. Mir blieb nichts anderes übrig als mitzugehen. Ich bin ein Jahr in Göttingen an der juristischen Fakultät als Assistent gewesen, sah jedoch im Kreis derer, die alle schon in der Nazizeit bedeutende Juristen gewesen waren – Weber, Köpken, Wieacker und eben Huber – keine Möglichkeit, mich im Staatsrecht zu habilitieren, ohne, wie Huber erkennen ließ, stringenten Vorgaben unterworfen zu sein. Ich habe daraus die Konsequenz gezogen und bin gegangen.

Wohin?

Zurück nach Bonn. Ich bin zu Scheuner gegangen, um mich bei ihm zu habilitieren. Das war naiv. Denn Scheuner hat gesagt: „Ich nehme immer nur einen Habilitanden, den ich dann auch auf einer Professur unterbringen kann. Und diesen einen habe ich schon. In den nächsten Jahren gibt es hier keine Stelle für Sie.“

Was haben Sie daraufhin gemacht?

Zunächst gar nichts. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Zu nahe hatte mir über Jahre der Gedanke gelegen, mich in der Universität anzusiedeln. Nach dem Zweiten Staatsexamen am Oberlandesgericht in Mainz bekam ich Besuch von Richard Grathoff, der in Amerika studiert hatte und mit Thomas Luckmann nach Deutschland zurückgekommen war.

Grathoff war ein Freund von Ihnen?

Ja, wir waren seit Villigst befreundet. Er sagte: „Komm doch in die Soziologie!“ Ich antwortete: „Eigentlich bin ich mit Leib und Seele Jurist. Aber wirklich wichtig ist mir die Uni geworden. Was könnte ich in der Soziologie denn machen?“ Ich hatte eine Liste von Büchern im Kopf, einige noch aus der Zeit des Jurastudiums, andere aus meiner Assistententätigkeit in Rüstersiel. Das waren allerdings eher philosophische Titel, Hobbes, Montesquieu und solche Sachen. „Geht das?“, habe ich Grathoff gefragt. Er meinte: „Man muss sehen, das man das unter den Hut der Wissenssoziologie kriegt. Dann schon.“ Am Sonntag ist Grathoff zurück nach Frankfurt gefahren, am Montag ist er zu Luckmann und hat ihm gesagt: „Es gibt da den Dux, promoviert, vorzügliche Examina, an vielem interessiert, an dem Sie auch interessiert sind. Könnten Sie den nicht gebrauchen?“ Luckmann hatte eine Assistentenstelle frei. Er wollte zunächst, dass ich Rechtssoziologie mache, war darauf aber, wie sich später gezeigt hat, nicht fixiert. Am Montagabend war ich angestellt.

Als Assistent?

Zunächst nur als Hiwi. Etwa ein Jahr später aber wurde ich sein Assistent. Luckmann war sehr konziliant. Allerdings hatte ich ein schlechtes Gewissen Villigst gegenüber. Sie hatten mich so lange als Juristen gefördert. Am Ende hat sie jedoch meine Passion für die Wissenschaft überzeugt.

Und Ihre Frau?

Meine Frau war einverstanden, nach Frankfurt umzusiedeln. Möglich war das nicht zuletzt, weil sie umgehend eine Oberarztstelle in einer großen Klinik in Höchst gefunden hat.

In Frankfurt haben Sie sich eingeschrieben für ein reguläres Magisterstudium Soziologie und Philosophie?

So ist es. Als ich nach Frankfurt kam, habe ich Grathoff gefragt: „Was muss ich lesen, um in die Soziologie einzusteigen?“ „Max Weber, natürlich, Wirtschaft und Gesellschaft.“Habe ich gemacht. Ganz einfach war das nicht. Dabei ist mir etwas zugutegekommen, was ich in der Schule noch nicht gelernt, zu dem mich aber das Jura-Studium gezwungen hatte: mich hinzusetzen und systematisch zu arbeiten. Das habe ich in der Soziologie durchgehalten. Nach einer Weile fand ich Weber ungemein spannend, vor allem seine Wissenschaftstheorie.

Sind Sie in Frankfurt mit Adorno und Horkheimer in Kontakt gekommen?

Nicht persönlich. Dazu fehlte mir im ersten Jahr in Frankfurt auch hinreichendes Wissen. Grathoff hat einmal Habermas eingeladen. Der hatte gerade Erkenntnis und Interesse veröffentlicht, und Grathoff hat darauf bestanden, dass ich dazu Stellung nähme. Habermas muss gedacht haben: Der Dux hat ja gar keine Ahnung.

Gab es andere Autoren, andere Soziologen, Sozialtheoretiker, die für Sie ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben?

In meiner Umgebung in Frankfurt hatte ich in der Soziologie nur mit Phänomenologen zu tun. Ich habe mich sehr gewundert, womit die sich beschäftigten. Das gilt auch für Luckmann. Ich dachte, es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als deren Grundlagen zu studieren, um zu verstehen, warum sie denken, wie sie denken. So habe ich Husserl gelesen, dann Schütz. In guter Erinnerung ist mir Karl Meier, der aus den Staaten zurückgekommen war, ein überaus liebenswerter Gelehrter. Notwendig schien mir auch, Gurvitch zu lesen, aber nicht nur ihn, sondern auch sonst noch Autoren, die Rang und Namen hatten in der amerikanischen Phänomenologie.

Was sind Ihre Erinnerungen an Luckmann? Was haben Sie von ihm mitgenommen, wo haben Sie sich von ihm abgesetzt?

Das kann ich genau sagen. Ich danke ihm, über das kleine Büchlein The Social Construction of Reality, das er mit Peter Berger geschrieben hatte, in die moderne Soziologie eingeführt worden zu sein. Der Gedanke, dass die soziale Welt konstruiert werden muss, muss ja in der Tat als ein Schlüsselgedanke modernen Denkens verstanden werden. Gleichwohl fand ich The Social Construction of Reality überaus unbefriedigend.

Warum?

Weil nicht nachgefragt wurde, wie denn die Konstrukte zustande kommen. Gleich zu Beginn ihres Buches heißt es, übrigens in dem von Luckmann geschriebenen Kapitel: „Wie die Konstrukte zustande kommen, das zu erklären, ist nicht unser Geschäft, das überlassen wir der Philosophie.“ Mir war alsbald klar, das geht nicht: Wenn man in der soziologischen Erkenntnis sozialen Wissens nur einen Schritt weiterkommen will, muss man nach den Begründungen fragen.

Sie haben mit Luckmann über diesen Punkt gestritten? Was hat er Ihnen entgegengehalten?

Er wollte nicht wahrhaben, damals jedenfalls nicht, dass die Wirklichkeit in die Konstrukte eingeführt werden muss, auch wenn alles Wissen von ihr nur als Konstrukt gewonnen werden kann. Dass Konstrukte an der Wirklichkeit entwickelt werden, das war die Differenz. Der Ärger, den ich darüber mit ihm hatte, dauerte und ging so weit, dass ich mich eines Tages wegbeworben habe auf eine Stelle für Rechtssoziologie in Würzburg. Gott sei Dank habe ich die Stelle nicht bekommen. Es war Unsinn, sich so über Luckmann zu ärgern.

Luckmann konnte recht autoritär sein?

Eher unbeweglich, jedenfalls in diesem Punkt. Für mich wurde das zum Lebensthema. Alle meine Arbeiten sind von der Frage bestimmt, wie die Wirklichkeit in die Erkenntnis eingeholt wird. Wie genau kommen soziale Konstrukte zustande? Weshalb haben sich zum Beispiel Familien gebildet? Weshalb die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern? Aber natürlich auch: Wie entstehen die Erkenntnisformen? Was erklärt deren Unterschiede in der Geschichte? Und so weiter.

Ihre Habilitationsschrift aus dem Jahre 1972, unter dem Titel Strukturwandel der Legitimation vier Jahre später erschienen, ist bei Luckmann entstanden. War das Buch eine Auseinandersetzung mit ihm oder eine Verarbeitung der Kontroverse, die Sie beschrieben haben?

Es ging mir in dem Buch um die Kritik einer kognitiven Struktur. Insbesondere bei der Beschäftigung mit Max Weber und den Rechtsphilosophen war mir aufgefallen, dass diese Autoren an absolutistischen Begründungsstrukturen hingen. Ich wollte zeigen, dass die Theorien und Vorstellungen der Rechtsphilosophie ohne Ausnahme von einer Begründungsstruktur beherrscht waren, die mir problematisch erschien. Strukturwandel der Legitimation ist eine Kritik der Denkstruktur der Rechtsphilosophen, aber auch von Max Weber. In Konstanz gab es einen Rechtsphilosophen, Bernd Rüthers hieß der. Er war Mitglied meiner Habilitationskommission. Ich hatte die Venia beantragt für Soziologie, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie. Nachdem Rüthers meine Arbeit gelesen hatte, erklärte er: „Was Sie da geschrieben haben, verstehe ich einfach nicht.“ Ich antwortete: „Ich verstehe, dass Sie das nicht verstehen. Das ist anders gedacht, als in der Philosophie gedacht wird. Ich denke, man muss darüber nachdenken, wie es dazu kommt, dass Philosophen so denken, wie sie denken. Genau das ist mein Thema.“

Haben Sie daraufhin die Venia für Rechtsphilosophie erhalten?

Ich habe darauf verzichtet. Das Verfahren in Konstanz verlief dann völlig problemlos. Ich wurde für Soziologie und Sozialphilosophie habilitiert. Luckmann stand mir in der Auseinandersetzung mit Rüthers zur Seite, obwohl mein Argument, den Denkstil der Philosophie zu kritisieren, auch Luckmann fremd war.

Können wir noch einmal auf The Social Construction of Reality zurückkommen? In dem Buch spielt die Philosophische Anthropologie eine wichtige Rolle. Haben Sie über diesen Text Gehlen und Plessner kennengelernt? Oder wie ist diese Brücke sonst geschlagen worden? Immerhin wurden Sie später neben Elisabeth Ströker und Odo Marquard einer der Herausgeber der Gesammelten Schriften Plessners.

Beide Autoren wurden von den Phänomenologen diskutiert, um den Begriff der Lebenswelt zu fundieren. Gehlen habe ich sehr bald gelesen. Mit Plessner hat es eine besondere Bewandtnis...

... Plessner hatte das Vorwort zur deutschen Ausgabe von Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit geschrieben und Monika Plessner, seine Frau, das Buch übersetzt.

Ja, gelesen habe ich zunächst Die Stufen des Organischen und der Mensch. Davon war ich sehr beeindruckt. Gelesen hatte ich auch den Band über Die Einheit der Sinne, überdies alles, was es von Plessner an soziologischen Aufsätzen gab. Eines Tages hat Luckmann mich dann gefragt, ob ich eine Einleitung zu einer Anthologie mit einigen älteren Arbeiten Plessners schreiben wolle, darunter Lachen und Weinen. Ich empfand das als eine große Ehre, ich hatte ja überhaupt noch nichts publiziert, und sagte zu. Der Band erschien dann 1970 unter dem Titel Philosophische Anthropologie bei Fischer. Ich hatte einen ziemlich umfangreichen Kommentar geschrieben, bin mit dem zu Plessner gegangen, der nach seiner Emeritierung von Göttingen nach Zürich gezogen war, und habe gesagt: „Herr Plessner, der Form nach würde ich vorschlagen, meine Interpretation nicht als Einleitung, sondern als Nachwort zu drucken. Dem Inhalt nach habe ich deutlich zu machen versucht, dass man aus Ihrer Anthropologie noch viel mehr herausholen kann, als bislang sichtbar geworden ist. Deshalb der Titel: „Philosophische Anthropologie im Prospekt.“ Plessner war mit beiden Vorschlägen einverstanden.

Aus diesem ersten Kontakt zu Plessner ist eine enge persönliche Beziehung entstanden?

So ist es. Plessner wohnte in Zürich. Meine Frau und ich sind hernach etwa alle vier Wochen nach Zürich gefahren, um ihn zu besuchen. Ich hatte zumeist einen Zettel in der Tasche und habe ihn gefragt: „Wissen Sie, ich habe hier einen neuen Gedanken, was halten Sie davon?“ Plessner war immer bereit, darüber zu diskutieren. Er ist später auch in Titisee gewesen, hat ein paar Tage hier im Hotel gewohnt, wir haben zusammen gefrühstückt und gemeinsam Philosophie und Soziologie getrieben. Plessner hat auch das externe Gutachten zu meiner Habilitation geschrieben. Den Schlusssatz hätte ich mir rahmen lassen sollen. Ich will ihn hier aber nicht wiederholen.

Nach Konstanz kam dann 1973 zunächst Linz.

Ja. Die Bewerbung nach Linz erschien mir angemessen, weil die Universität dort relativ klein war. Ich hatte mich eben habilitiert, ein richtiger Soziologe aber war ich noch nicht. Wirklich gute Gründe, Linz nach nur einem Jahr in Richtung Freiburg wieder zu verlassen, gab es eigentlich nicht. Zu meiner sogenannten „Lehrkanzel“ gehörten neben ausreichenden Räumlichkeiten vier Assistenten und die Zusage einer Fremdsprachensekretärin. Aber man saß dort natürlich etwas abseits.

War Freiburg eine Gelegenheitsbewerbung?

Ich hatte 1971/72 Heinrich Popitz vertreten, und Popitz hatte offensichtlich ein Interesse daran, dass ich mich bewerbe.

Wie war es, nach Freiburg zu kommen, an dieses Institut in der alten Villa in der Günterstalstraße, das sehr von Popitz geprägt war?

Ich fand Freiburg schlicht attraktiv. Die Vereinbarung mit Popitz war, dass ich nur nach Freiburg komme, wenn ich gleichberechtigter Mit-Direktor im Institut werde. Popitz hat dem schließlich zugestimmt und das Ministerium hat mich zum zweiten Direktor ernannt.

Wie haben Popitz und Sie sich die Lehre aufgeteilt? Wer übernahm welche Schwerpunkte? Besaß die Soziologie 1974 einen Lehrplan?

Nein, den gab es nicht. Mir war klar: Es müssten ontogenetische Entwicklung und selbstverständlich auch sozialer Wandel gelehrt werden. Damit war Popitz im Großen und Ganzen einverstanden. Er selbst war sehr auf Normentheorie fixiert. Ich weiß nicht mehr, wann Popitz damit begonnen hat, regelmäßig Sozialisations-Vorlesungen zu halten. Ich selbst habe Theorie des sozialen Wandels angeboten. Das entsprach unserer Absprache. Mit nur zwei Professoren am Institut konnte man einen wirklichen Lehrplan nicht durchziehen. Ich habe im Wintersemester immer eine Einführung gehalten, zumeist unter der Überschrift: „Warum denn Soziologie?“ Das war allerdings keine Überblicksveranstaltung. Das habe ich nie gemacht. Ich wollte schon die Einführung von meinem Ansatz beherrscht sehen. Das stieß anfangs auf den Protest der Studenten, am Ende wollte keiner die Veranstaltung gemisst haben.

Sie haben einmal erzählt, die schönste Erfahrung in der Lehre sei das Doktorandenkolloquium gewesen.

Ich hatte zwei Probleme im Kopf: eine erkenntniskritisch aufgeklärte Grundlegung der Sozialwelt und deren historische Ausprägung. Kultur und Gesellschaft nehmen in der Ontogenese ihren Anfang und setzen sich in der Geschichte fort. Beides war nur schwer zu vermitteln. Im Doktorandenkolloquium gab es jedoch immer eine Anzahl von Studenten, die bereit waren, sich auf Theorie einzulassen, und, um ein Beispiel zu nennen, Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus zu lesen. Über Jahre ist dieses Doktorandenkolloquium ein hochintellektuelles Unternehmen gewesen. Nur – dazu bedurfte es eines Institutsklimas, in dem Theoriebesessenheit eine Chance hatte. Und das war in den späten Jahren meiner Tätigkeit nicht länger der Fall.

II. Werk

Liest man Ihre ersten soziologischen Aufsätze aus den frühen 70er-Jahren, dann erstaunt im Rückblick, wie klar die Programmatik dessen, was schließlich die historisch-genetische Theorie wurde, bereits vorformuliert ist. Dennoch: Hat es wichtige Wegmarken oder Wendepunkte in der Ausarbeitung der historisch-genetischen Theorie gegeben?

Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war The Social Construction of Reality. Der Gedanke, dass unsere Lebensformen Konstrukte sind, war mir als Jurist in dieser Klarheit ebenso verborgen geblieben wie die Einsicht, dass alle kulturellen Lebensformen, auch die Grundformen der Erkenntnis, konstruktiv geschaffene Formen sind. Die Frage, die mich seit der Lektüre des Buchs von Berger und Luckmann bewegte, lautete: Wie kommen die Konstrukte, die kognitiven wie die praktischen, zustande? Zumindest den Zugang zu einer Antwort boten die Arbeiten von Piaget. Die Grundstrukturen der Kognition werden, das war die durchschlagende Einsicht, in der Ontogenese eines jeden Gattungsmitgliedes gebildet. Deshalb war die zweite Etappe der Theorieentwicklung die Auseinandersetzung mit Piaget.

Lassen Sie uns an dieser Stelle kurz nach einem Autor fragen, der aktuell heftig diskutiert wird: Für Michael Tomasello ist die Entdeckung der schon vorsprachlichen kollektiven Intentionalität die entscheidende Differenz zwischen Tieren, nicht-menschlichen Primaten, auf der einen und Menschen auf der anderen Seite. Das ist bei ihm die Urform der Geistigkeit. Können Sie sich dem anschließen?

Nicht wirklich. Bei Tomasello stellt die Intentionalität eine Urform dar, die sich ontogenetisch zwar zwischen dem 9. und 12. Monat in der Interaktion mit anderen ausbildet, sie ist jedoch genetisch bedingt. Wer jedoch darüber aufgeklärt ist, dass im Umbruch des Weltverständnisses am Beginn der Neuzeit jedwede Form von Intentionalität, Reflexivität und Sinnhaftigkeit aus der Natur eliminiert worden ist, kann das nicht ernsthaft behaupten. Die nachkommenden Gattungsmitglieder können mit diesen „Eigenschaften“ nicht geboren werden. Wenn man den Joker kennt, den Tomasello in das Kulturverständnis einbringt – die genetisch bedingte Intentionalität –, bleibt kein anderer Weg, als den konstruktiven Prozess zu klären, durch den die kognitiven Grundstrukturen ausgebildet werden. Und der geht mit dem Bildungsprozess der Handlungskompetenz einher. Der Bildungsprozess der Handlungskompetenz war in der Evolution die Bedingung, um überhaupt eine humane Lebensform auszubilden. Das habe ich in Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform deutlich zu machen versucht. Eingeleitet werden konnte der Prozess der Ausbildung der Handlungsform aber nur aus der Ontogenese der nachkommenden Gattungsmitglieder. Das ist auch heute noch so. Man muss den Bildungsprozess der Handlungskompetenz erklären, wenn man den Bildungsprozess der Interaktionskompetenz erklären will. Und man muss beide erklären, wenn man die Genese des Subjekts erklären will. – Nachdem ich nun einmal bei Piaget angekommen war, ist mir klar gewesen, dass man den Aufbau der Sozialwelt in seiner Gesamtheit erklären müsste, wenn man den in der Neuzeit und im Besonderen den in der Soziologie erworbenen Erkenntnisgrundlagen gerecht werden wollte.

Sie setzen bei der Ontogenese an, nicht nur um das neuzeitliche Denken zu verstehen, sondern die Geschichte selbst. Können Sie uns diesen Gedanken erläutern?

Wenn man verstanden hat, dass Kinder ihre kognitiven und sozialen Kompetenzen unter elementaren Bedingungen in der Interaktion mit der Außenwelt bilden, dann hat man auch verstanden, dass und warum sie sich anfangs in allen Kulturen gleich bilden. Und man hat dann ebenfalls verstanden, dass die Logik in ihrer anfänglichen ontogenetischen Entwicklung überall gleich ist. Das ist für Laien und, wie sich gezeigt hat, auch für Philosophen nicht ganz leicht einzusehen. Ich hatte bei einem Symposium über das Naturverständnis in der Geschichte Chinas einmal eine heftige Diskussion mit einem Philosophen aus London, der steif und fest behauptete, dass die ontogenetische Entwicklung in ganz unterschiedlichen Verhältnissen gar nicht dieselbe sein könne. Das konnte er aber nur behaupten, weil er von den elementaren Bedingungen, unter denen sich die anfänglichen Konzepte bilden, keine Vorstellungen hatte. Die Anfänge sind deshalb überall dieselben, weil die anfänglichen Bedingungen in der Ontogenese noch vor aller kulturellen Differenzierung überall dieselben sind. Kinder finden Objekte einfach vor; und es ist eine elementare Tatsache, dass in der Welt etwas geschieht. Diesen Befund muss jedes Kind dadurch zu bewältigen suchen, dass es eine „Objektform“ und eine „Ereignisform“ ausbildet. Dementsprechend elementar und universell sind die frühesten kognitiven Strukturen. Tatsächlich lässt sich mit Hilfe der kulturanthropologischen Literatur feststellen, dass die Weltbilder früher Gesellschaften – das sind die Gesellschaften auf dem Subsistenzniveau von Jägern und Sammlern, aber auch noch einfacher Bauern – den frühen ontogenetischen Strukturen verwandte Konstrukte darstellen.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Kinder interpretieren Objekte und Geschehnisse in der Außenwelt immer, wie sie Subjekte und Handlungen verstehen. Auch in der Frühzeit gelten alle Objekte in der Welt als belebt. Die kulturanthropologische Literatur ist voll davon, dass in einfachen Kulturen die Welt als von – wie ich sie nenne – subjektivischen Mächten bestimmt verstanden wird. Diese Mächte sind Objekten verhaftet, können aber auch losgelöst von ihnen tätig werden. Ich habe die entsprechenden Belege in Die Logik der Weltbilder ausgebreitet. In meinen späteren empirischen Untersuchungen hat sich dieser Befund nachhaltig bestätigt. Einen der ersten Probanden in Indien, einen stonebreaker, der Steine zum Pflastern der Straße zerschlug, haben wir gefragt, ob der Stein es merkt, wenn er draufschlägt. „Ein bißchen schon“, hat er geantwortet.

Sie gehen also von einer Strukturkonformität der Kognition zwischen der ontogenetischen und der anfänglichen geschichtlichen Entwicklung aus.

Der Befund ist unabweisbar, ich habe ihn wohl auch mehrfach so formuliert, er muss jedoch differenzierter gefasst werden. Keineswegs macht es Sinn, den Verlauf der Ontogenese mit dem der Geschichte parallelisieren zu wollen.

Sondern?

Recht verstanden sind es zwei Logiken, die sich in der Geschichte ausgebildet haben, eine praktische und eine kognitive. Ihre intrinsische Verbindung macht die Logik der Geschichte aus. Die Praxisformen der Lebensführung bilden sich im Umgang mit der Natur. Ihre Entwicklung wird davon bestimmt, wie weit es dem Menschen gelingt, die der Natur immanente Prozessualität in systemisch-relationalen Bezügen zu erfassen. Es steht jedoch außer Frage, dass bereits die historische Entwicklung der Praxisbezüge von Strukturen des Denkens bestimmt wird. Und die Strukturen des Denkens lassen sich als medial, symbolisch und vor allem sprachlich gebildete Formen auf ihre eigene Entwicklung hin befragen. Deren Logik setzt mit der Ontogenese ein und wird, wenn man so sagen kann, in, aber auch von der Geschichte fortgeschrieben. Man mag die Logik in der Geschichte des Geistes bestimmen wie man will, sie stellt sich als eine Weiterentwicklung der ontogenetischen Logik dar. Das würde ich als meine anfängliche Entdeckung bezeichnen. Für die Strukturkonformität zwischen den kognitiven Strukturen der frühen Ontogenese und den anfänglichen historischen Strukturen sprach insbesondere die schon erwähnte kulturanthropologisch vermittelte Einsicht in die Strukturen der Weltbilder in den frühen Gesellschaften. Sie lassen allesamt einfache Handlungsstrukturen als Grundlage erkennen. Wenn man sich einmal auf die Spur dieser Erkenntnis gesetzt hat, dann stellen sich zwei Fragen, die mich nicht mehr losgelassen haben: Wie sehen die anfänglichen Strukturen konkret aus? Welches sind insbesondere die Strukturen der Erwachsenen in diesen Gesellschaften? Und: Wodurch kommt in der Geschichte die weitere Entwicklung der Lebensformen, auch und gerade die weitere Entwicklung der kognitiven Strukturen in Gang?

Sie haben Ihre eigenen empirischen Untersuchungen, Ihre Forschungsreisen, die Sie in den 80er-Jahren nach Indien, Brasilien, Mexiko und auch in die Türkei unternommen haben, schon erwähnt. Wonach genau haben Sie gesucht, und was haben Sie entdeckt?

Die mich bedrängende Frage war, wie die kognitiven Strukturen der Menschen, der Kinder, aber auch und gerade der Erwachsenen ohne Schulbildung, in vorindustriellen Gesellschaften beschaffen sind. Ich war inzwischen so weit in der Soziologie zu Hause, dass die Antwort nur lauten konnte: Gehen wir hin und versuchen wir, empirisch zu klären, wie diese Strukturen tatsächlich aussehen. Wir haben uns dabei insbesondere derjenigen Fragen bedient, die Piaget zur Erforschung des Zeitverständnisses entwickelt hatte.

Um das Problem zu präzisieren: Ausgangspunkt der Untersuchungen war, dass die ontogenetische Entwicklung in allen Gesellschaften kognitiv gleich verläuft und von der gleichen Logik der Entwicklung bestimmt wird. Vor diesem Hintergrund wollten Sie wissen, wie es um die kognitive Entwicklung in den von ihnen besuchten vorindustriellen Gesellschaften beschaffen war?

So ist es. Die Frage war, wie weit sie auf der Piaget‘schen Skala der ontogenetischen Entwicklung reichte: bis zur formal-operationalen Kompetenz, wie sie Kinder bei uns mit etwa elf Jahren entwickeln? Piaget hatte das zunächst angenommen. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen haben jedoch etwas anderes gezeigt: Kinder wie Erwachsene ohne Schulbildung gelangen in einfachen Gesellschaften nur bis an die Schwelle zur konkret-operationalen Kompetenz. Das heißt, auch die Erwachsenen operieren dort mit logischen Strukturen, wie sie Kinder bei uns bis zum fünften oder sechsten Lebensjahr entwickeln. Danach bricht die Entwicklung ab. Praktisch wird die Grenzlinie zwar überschritten, aber reflexiv ist die operationale Kompetenz nicht verfügbar.

Was heißt das? Können Sie diesen Befund konkretisieren?

Nehmen wir die Macu. Sie leben am Oberlauf des Rio Negro in Brasilien, zum Zeitpunkt unserer Untersuchung im Wesentlichen noch als Jäger und Sammler. Mit ihren Booten veranstalteten sie Wettrennen. Selbstverständlich konnten sie sagen, wer gewonnen hatte. Praktisch werden dabei Weg und Zeit in Beziehung gesetzt. Den Begriff der Geschwindigkeit zu bilden, bereitete ihnen jedoch einige Schwierigkeiten. Ein Versuch, den wir unternommen haben, zeigte das eindeutig: Auf einem Apparat, den wir mitgebracht hatten, laufen zwei Figuren gleichzeitig los. Die eine ist schneller als die andere. Dann bleiben beide gleichzeitig stehen; eine weiter hinten, eine weiter vorne. Auf unsere Frage, ob die beiden Läufer gleich viel Zeit gebraucht hätten, bekamen wir von den Macu im Prinzip zwei verschiedene Antworten, entweder: „Der, der hinten war, hat mehr Zeit gebraucht, weil er so langsam war.“ Oder: „Der andere hat mehr Zeit gebraucht, weil er so schnell war.“ Strecke und Zeit reflexiv zum Begriff der Geschwindigkeit zu verbinden, war ihnen nicht möglich.

Wie kommt es zu einer solchen Blockade?

Die Entwicklung der kognitiven Kompetenz – man kann ruhig sagen: des Geistes – ist offenbar kein selbsttreibender Prozess. Sonst würden Jugendliche oder Erwachsene überall und immer schon formal-operationale Kompetenzen ausbilden. Tun sie aber nicht. Der Schluss kann nur sein: Die Entwicklung der kognitiven Kompetenz wird von Anforderungen der Praxis bewirkt. Und für deren Bewältigung reicht auf dem Subsistenzniveau der Jäger und Sammler, aber auch noch dem einer einfachen agrarischen oder hortikulturellen Reproduktion eine kognitive Kompetenz an der Schwelle zum konkret-operationalen Stadium.

Wenn die kognitive Kompetenzentwicklung auch der Erwachsenen an dieser Schwelle stockt, wie ist dann der doch in allen Gesellschaften bedeutsame, faktische Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen in der Lebensführung zu fassen? Inwiefern sind Erwachsene einfacher Gesellschaften „wie Kinder“? Es gibt doch einen Unterschied zwischen der Kompetenz von Kindern und Erwachsenen.

Ohne Frage. Erwachsene sind keine Kinder! Ihre physische Entwicklung, nicht zuletzt ihre sexuelle und psychische, lassen Erwachsene in der praktischen Lebensführung ungleich kompetenter sein als Kinder. Nur sind die operationalen kognitiven Kompetenzen in der Weise beschränkt, wie ich das angedeutet habe. Die Anforderungen der Praxis führen nicht darüber hinaus.

Der Zweck, den Sie mit Ihren empirischen Untersuchungen zu den frühen Kompetenzen verfolgt haben, bestand auch darin, wie Sie gesagt haben, zu einer Theorie der Geschichte vorzustoßen. Können Sie uns diesen Sprung – wenn es denn einer ist – näher erläutern? Was heißt für Sie überhaupt ‚Geschichte‘?

Mir geht es nicht um die Geschichte, wie sie in der Geschichtswissenschaft zum Thema wird. Die wird, wenn ich das recht sehe, als Nacherzählung betrieben, in der es um die Aufdeckung von Zusammenhängen geht. Mir geht es demgegenüber darum, die historische Entwicklung von den kognitiven Strukturen her zu verstehen, die unter den jeweils vorgegebenen Bedingungen ausgebildet werden konnten. Eingeleitet wurde der Prozess, kognitive Strukturen auszubilden, im Bildungsprozess der humanen Lebensform. Mit diesen wurde auch der Bildungsprozess der Sozialwelt als einer kulturell formierten Welt eingeleitet. Die Organisationsformen auf dem Subsistenzniveau des Jagens und Sammelns, wie sie am Anfang der Geschichte stehen, sind Organisationsformen, die sich diesseits der virtuellen Schnittlinie zwischen Evolution und Geschichte ausgebildet haben. Den Bildungsprozess der humanen Lebensform in der Evolution und den daraus hervorgegangenen Übergang in die Geschichte habe ich in Die Evolution der humanen Lebensform eingehend erörtert. Wenn man um deren Bildungsprozess in Evolution und Geschichte weiß, stellt sich unabweisbar die Aufgabe, eine historisch-genetische Theorie der Sozialwelt zu entwickeln. Sie muss zeigen, wie sich die Sozialwelt, von den frühen Organisationsformen auf dem Subsistenzniveau des Jagens und Sammelns bis hin zu den Organisationsformen eines säkularen Naturverständnisses und der modernen Marktgesellschaften, ausbilden konnte. Das ist das Thema einer historisch-genetische Theorie der Kultur.

Wie steht es unter dieser Theorieperspektive mit dem Vorwurf, der Ihnen nicht selten gemacht wird, eurozentrisch fixiert zu sein?

Er ergibt schlicht keinen Sinn. Die historisch-genetische Theorie geht von humanen Lebens- und sozialen Organisationsformen aus, die überall die Frühzeit der Geschichte bestimmt haben. Die Frage, wie man von ihnen zu den Organisationsformen unserer säkularen Welt kommt, schließt alle inhaltlichen Differenzierungen ein, wie sie die Vielfalt der Kulturen veranschaulichen. Wohl aber behaupte ich, zeigen zu können, dass alle Gesellschaften und Kulturen einer sozialen und kognitiven Entwicklungslogik verhaftet sind. Sie bestimmt den jeweiligen Entwicklungsstand einer Gesellschaft oder Kultur. Auch vorneuzeitliche Gesellschaften befinden sich sozusagen auf dem Weg in die Neuzeit.

Sie sagen, dass zwei Logiken das Geschehen bestimmen. Können Sie deren Zusammenhang näher erläutern?

Man muss in der Entwicklung der Sozialwelt die Ebene der gesellschaftlichen Organisationsformen von der Ebene der kognitiven Entwicklung unterscheiden. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Entwicklung werden die gesellschaftlichen Lebensformen vermöge der zuvor erworbenen kognitiven Kompetenzen in Auseinandersetzung mit der Außenwelt gewonnen. Auf der Grundlage der jeweils gesellschaftlich entwickelten Lebensformen werden dann allerdings die kognitiven Strukturen weiterentwickelt.

Wie hat man sich die Entwicklung auf der Ebene der gesellschaftlichen Organisationsformen vorzustellen, wenn man mit den Organisationsformen auf dem Niveau des Jagens und Sammelns anfängt?

Die Frage ist: Wie ist die Menschheit von den frühen gesellschaftlichen Organisationsformen zu denen der Moderne gelangt? So schlicht die Frage sich ausnimmt, sie erfordert eine Umkehrung der Perspektive, ohne die man nicht weiterkommt: Man muss die Geschichte von hinten lesen. Man muss sie in eine Entwicklungslinie stellen, die in der säkularen Moderne terminiert. Nur so lässt sich für jede Epoche, gleich wo und wie sie zustande gekommen ist, ermitteln, ob und inwiefern sie als Schritt in die Gegenwart, ja als Vorbedingung der säkularen Strukturen der Moderne verstanden werden kann.

Die kognitiven Strukturen einfacher Gesellschaften haben Sie empirisch ermittelt. Es handelt sich um die „Übersetzung“ von Handlungsstrukturen, wie sie in jeder Ontogenese ausgebildet werden. Wie steht es mit den kognitiven Strukturen „der Moderne“? Wenn man Ihrer Argumentation folgt, hängt an eben diesen Ihr Verständnis von Geschichte.

In der Tat. Und man kann sich den Kontrast der Strukturen gar nicht deutlich genug bewusst machen. In der Frühzeit der Geschichte wurden die Ereignisstrukturen oder Deutungsmuster von Geschehnissen in der Welt, in der Natur wie in der Sozialwelt, von einer Handlungslogik bestimmt, in der jedes Geschehen eines Anstoßes bedarf, der subjektivisch oder intentional verstanden wird. Die frühe Welt war bevölkert von Geistern, Göttern, Dämonen oder anderen Mächten, von denen jeweils die Initiative ausging. Auch als die Welt, in den frühen Weltbildern, als ganze in den Blick rückte, bedurfte sie, um zu sein, eines Grundes. Und dieser Weltgrund wird durchgängig als die Handlung eines Subjekts verstanden. Die säkulare Welt der Moderne ist dagegen eine Welt, in der die Handlungslogik im Hinblick auf das Verständnis des Universums eliminiert worden ist. Nichts ist und nichts geschieht in ihr, das nicht einem systemischen Bedingungszusammenhang verhaftet wäre, aus dem es hervorgegangen ist. Das gilt seit Darwin auch für die Lebensform des Menschen. Das Universum trägt sich selbst. Was immer im Universum geschieht, stellt sich dar als Manifestation einer ihm eigenen, zuständlich verstandenen Dynamik.

Was heißt das für die Sozialwelt?

Die hat sich im Universum evolutiv auszubilden vermocht. Die humane Lebensform hat sich dabei von Anfang an als soziale Lebensform gebildet. Es ist entscheidend, ihren Bildungsprozess aus der Evolution heraus zu verstehen. Sonst kommt man auf den Gedanken, sie habe sich als Manifestation einer Geistigkeit gebildet, die dem Universum innewohne. Sie stellt aber nur die Manifestation einer Geistigkeit dar, die sich der Mensch selbst mit der Handlungsform seiner Lebensführung geschaffen hat.

Schließen hier die Vorbehalte an, die Sie Habermas und Luhmann gegenüber hegen?

Ja. Habermas hat vom Hominisationsprozess und dem mit diesem einhergehenden Bildungsprozess der Gesellschaft ganz einfach keine hinreichende Vorstellung. Er hat auch keine Vorstellung davon, wie sich die kognitiven Strukturen des Geistes ausbilden konnten. Er schreibt sie der Religion zu, statt die Religion der konstruktiven Geistigkeit des Menschen zuzuschreiben. Der Systemtheorie kommt hingegen das große Verdienst zu, den Systembegriff als Grundlagenbegriff in die Soziologie eingeführt zu haben. Offen bleibt jedoch, und zwar gerade bei Luhmann, wodurch sich Systeme gebildet haben und warum in den Formen, in denen wir sie in der Geschichte finden. Es reicht nicht zu sagen, dass Gesellschaften als Systeme Konstrukte darstellen. Man muss die Bedingungen klären, unter denen sie sich gebildet haben.

Wie kann man unter einer solchen Maßgabe Geschichte periodisieren? Was bestimmt aus Ihrer Perspektive, was eine Epoche, was ein bloßes, ephemeres Ereignis ist?

Die Praxisformen der Lebensführung auf dem anfänglichen Subsistenzniveau des Jagens und Sammelns bestimmen die längste Zeit der Geschichte. Ihre Ablösung ist, wenn sie denn erfolgt ist, allerorts durch den Übergang in die agrarische Produktion erfolgt. In der Geschichte hätte sich manches ereignen können, aber nichts von Bedeutung, das der hinter uns liegenden Geschichte vergleichbar wäre, wenn es nicht zum Übergang in die agrarische Produktion gekommen wäre. Sie ist die Grundlage aller nachfolgenden Epochen, gleich wo die Geschichte spielt. Die nächste historische Schwelle sehe ich durch die Ausbildung von Staat und Herrschaft bestimmt. Das Schibboleth ihres Bildungsprozesses ist die „Selbstorganisation“ oder die Organisationskompetenz Weniger, die sich vermöge eines Herrschaftsstabes die Vielen zu unterwerfen vermochten. Bei der in meiner Zählung dritten bedeutsamen Epoche, der Antike, will ich mich auf den Hinweis beschränken, dass hier erstmalig ein Bewusstsein von der Machbarkeit der gesellschaftlichen Lebensformen auftaucht. Es liegt nicht nur der athenischen Demokratie zugrunde, sondern hat auch die Ausbildung der Erkenntniskritik in der Philosophie bewirkt.

Was löste „das griechische Wunder“ aus? Die bloße Vergänglichkeit oder auch die Brüchigkeit von Herrschaftsverhältnissen dürfte es kaum gewesen sein. Derartige Fragilitäten dürften sowohl den Herrschenden als auch den Beherrschten längst vor der griechischen Antike einsichtig gewesen sein. Das Kontingenzbewusstsein, das erstmalig in der griechischen Antike aufscheint, müsste demnach andere, spezifischere Gründe gehabt haben.

Es ist davon auszugehen, dass sich bereits in den frühen Hochkulturen ein Bewusstsein davon ausgebildet hat, dass Herrschaft und Staat ein Werk der Herrschenden sind. In dieser Epoche wurden die menschlichen Daseinsformen jedoch noch so sehr aus ihrem Ursprung in Gott verstanden, dass die Absicherung der Herrschaft religiös unanfechtbar blieb. Auf Hammurabis Stele heißt es, um ein Beispiel zu nennen: „Gott hat mich eingesetzt, um unter den Menschen Ordnung zu halten und die Armen und Schwachen nicht zum Raube der Reichen werden zu lassen.“ Ein Bewusstsein der Machbarkeit der Sozialwelt, dass sich in eine Kritik der Herrschaftsform hätte umsetzen lassen, konnte sich auf dieser Grundlage nicht entwickeln. Das geschah erst in der griechischen Antike. Es wurde dadurch angestoßen, aber auch plausibilisiert, dass nach dem Zusammenbruch der archaischen Palastkulturen von Mykene und Knossos tatsächlich neue Ordnungsformen geschaffen werden mussten. Die griechischen Poleis sind ja auf deren Trümmern entstanden. In den neuen Städten Kleinasiens und besonders im nun aufblühenden Handel manifestiert sich das Bewusstsein der Machbarkeit auf eine eindrückliche Weise. Für den Erwerb dieses Bewusstseins bedeutsam war allerdings auch der Verteilungskonflikt zwischen Bauern und Bürgern zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert. Es drohte, wie wir von Solon wissen, ein regelrechter Bürgerkrieg.

Ist die Entstehung der Städte also der entscheidende Faktor?

In ihnen manifestiert sich jedenfalls das Bewusstsein der Machbarkeit. Für die historische Entwicklung wegweisend scheint mir die mit diesem Bewusstsein verbundene Erkenntniskritik gewesen zu sein. Sie insbesondere ist es, die sich im Mittelalter fortsetzt.

Inwiefern spielt die Entwicklung der Erkenntniskritik eine Rolle für die Entwicklung der Gesellschaftsformen?

Die moderne Welt – als Teil und Produkt des Universums – kann nur säkular verstanden werden. Insofern besteht meine historische Erkenntnisstrategie darin, jede Epoche daraufhin zu befragen, was sie dazu beigetragen hat, diesem heute unhintergehbaren Weltverständnis näher zu kommen. Wenn man das säkular verstandene Universum dahin versteht, dass es ein in sich geschlossenes relationales Gefüge darstellt, das sich selbst trägt, und darin auch die Sozialwelt eingeschlossen sieht, wird man in jeder Epoche danach forschen, inwiefern die Ereignisse in der Welt als relational verschränkt verstanden wurden. Sie wurden dadurch dem ontogenetisch begründeten Zwang, sie handlungslogisch bestimmt zu sehen, sukzessive entzogen. Dieser Befund lässt sich für die frühen Hackbaugesellschaften ebenso erheben wie für die von Herrschaft und Staat bestimmten Gesellschaften. Im Mittelalter wird diese Entwicklung dann voll thematisch. Bereits im 12. Jahrhundert erklärt der Benediktiner Adelard von Bath, man solle sich auf einen Eingriff Gottes zur Erklärung eines Geschehens nur berufen, wenn die Erklärung aus der Ordnung der Natur heraus versage. Im 14. Jahrhundert erklären die Philosophen Johannes Buridan und Nikolaus von Oresme, dass Gott die Welt zwar geschaffen, er sie im Übrigen aber, das heißt in ihren Bewegungen, sich selbst überlassen habe. Der eine nutzt zur Veranschaulichung die Mühle, der andere das Uhrwerk. Wenn man für die hier reklamierte Logik der historischen Entwicklung nach einem Begriff sucht, so drängt sich der der Säkularisierung geradezu auf. Säkularisierung indes ist kein Prozess, der weltanschaulich erst in der Neuzeit einsetzt – sie ist ein Prozess, der die ganze Geschichte durchzieht.

Wenn, wie Sie sagen, dass äußere Anforderungen gegeben sein müssen, damit kognitive Entwicklungsschübe, Veränderungen, Umbrüche in Gang kommen, worin bestanden diese Anforderungen für die vor allem mit dem Namen Newton verbundene Durchsetzung des modernen, naturwissenschaftlichen Weltbilds?

Versteht man die Geschichte als Prozess der Säkularisierung, könnte man sich damit begnügen, zu sagen, dass der Umbruch im Weltverständnis ganz einfach auf der Agenda des 17. Jahrhunderts stand. Die Vorgaben oder Bedingungen lassen sich jedoch präzisieren. Durch die Jahrhunderte des Mittelalters gewinnen maschinenförmige oder machinale Prozesse in der Praxis stetig an Bedeutung. Und als Muster des Weltverstehens dringt das machinale Verständnis in die philosophische Reflexion auf der Weltbildebene ein. Am Beginn der Neuzeit findet es sich bei so gut wie allen bedeutsamen Philosophen. Montaigne nutzt es so gut wie Descartes. Ich neige dazu, der im Anschluss an die Antike gewonnenen Kompetenz der Erkenntniskritik einen entscheidenden Part in der Kritik der tradierten Logik und im Umbruch des Weltbildes zuzuschreiben. Die Handlungslogik, durch die alles in der Welt von einem absoluten Grund her verstanden werden muss, und die säkulare Logik, die das Geschehen in der Welt allein aus einer sich selbst bestimmenden Prozessualität versteht, sind miteinander unvereinbare Logiken. Newton, der mit der Ordnung der Himmelskörper befasst war, sah sich gezwungen, sich allein an seine beziehungsweise von anderen verbürgte Beobachtungen zu halten. Seine in den Principia mathematica formulierten Bewegungsgesetze sind systemisch miteinander verbunden und holen mit dem Trägheitsgesetz eine sich selbst tragende Dauer in das Naturverständnis ein. Dass Newton gleichwohl noch Gott als Ursprung des Universums verstand und das Universum zum Zwecke seiner Erhaltung auf einen energetischen Zuschuss angewiesen sah, trug zum Verständnis des Geschehens schon nichts mehr bei.

Verstehen wir Sie richtig, dass Sie den von Ihnen konstatierten Umbruch im Verständnis der Welt im Kern durch die Naturwissenschaft ausgelöst sehen?

Mitnichten. Die sich im Ausgang des Mittelalters zunächst durch den Handel, dann durch die arbeitsteilige Produktion entwickelnde Marktgesellschaft hat daran entscheidenden Anteil. Mit der Ausbildung der Marktgesellschaft musste sozusagen bewusst werden, dass die gesellschaftlichen Ordnungsformen in der Welt gerade wegen ihrer chaotischen Entwicklung von Menschen selbst gemachte Ordnungen sind. Sie konnten unmöglich weiterhin Gott als einem Absoluten, als dem Ursprung zugerechnet werden. Montaigne versuchte bereits im 16. Jahrhundert zu zeigen, dass es nicht länger angehe, die von Menschen geschaffenen Ordnungsformen Gott anzulasten. Er stellt Gott nicht in Frage, dazu wurde er zu tief vom Denken des Mittelalters geprägt, aber erkenntniskritisch ist mit ihm die tradierte Logik an ihr Ende gekommen. Gott wird innerweltlich buchstäblich exkommuniziert. Montaigne war klar, was nicht mehr ging. Sein Problem war jedoch, dass er über keine andere Logik verfügte. Die neue Logik begrifflich zu fassen, war das Werk Newtons. Mit ihm wird die Säkularisierung der Welt thematisch. Seit Newton kann ernsthaft nichts, was in der Welt vorkommt und geschieht, gedacht werden, ohne dass es aus dem systemischen Gesamtzusammenhang des Universums hergeleitet wird. Das ist ein dramatischer Umbruch im Verständnis der Welt und, daran haftend, im Selbstverständnis der Menschheit. Bekräftigt und sogar noch forciert wird er durch die auf Planck zurückgehende Entdeckung der Quantenphysik.

Die Kritik absolutistischer Denkformen zieht sich durch all ihre Arbeiten.

Der Grund ist, dass sich im Ausgang von einem Absoluten die pristine Logik manifestiert. Mir geht es darum, diese Logik und das mit ihm einhergehende Weltverständnis aus den Bedingungen einer säkular verstandenen Welt einsichtig zu machen. Wenn man sich daran macht, den Bildungsprozess der kognitiven Strukturen zu rekonstruieren, ist die Einsicht unumgänglich, dass sich das ja heute noch bedeutsame Denken von einem Absoluten her einsichtigen, ontologischen Bedingungen verdankt. Man gewinnt dadurch insbesondere eine erkenntniskritische Grundlage für ein historisch-genetisches Verständnis der Religion. Dabei geht es nicht um eine Kritik der Religion als Glauben. Es geht um eine Kritik der Denkstruktur, über die sich die Religion gebildet hat. Das war das Thema von Die Logik der Weltbilder. Nach der Quantenphysik lässt sich ein Absolutes nicht länger denken. Das habe ich in Die Religion in der säkular verstandenen Welt eingehend erörtert.

Wie lassen sich dann das Fortleben oder gar neue Konjunkturen des Religiösen in einer säkularisierten Welt erklären? Ist das ein Relikt? Handelt es sich um eine Regression? Die neuere Religionssoziologie verwirft ja die These „Moderne gleich Säkularisierung“. Stattdessen nimmt sie eine Koexistenz von Moderne und Religion an, von säkularen und religiösen Denkformen sowie Lebenspraxen. Wie stellt sich die gegenwärtige Situation für Sie dar?

Faktisch gibt es diese Koexistenz, und dass es sie gibt, ist unschwer zu erklären: Es gibt eine Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung der Kulturen. Auch das Abendland ist nie wirklich säkular geworden, auch hier lebt die Religion weiter. Das muss man einfach festhalten. Die absolutistische Struktur wird ja in jeder Ontogenese neu aufgebaut. Jedes Kind beginnt damit, die Welt entsprechend der Handlungslogik zu begreifen. Überdies bedarf es erheblicher kognitiver Anstrengungen, um das Universum in seiner säkularen Verfasstheit zu verstehen. Dass sich die Handlungslogik im Weltverständnis auch der Erwachsenen behauptet, ist mithin kein Wunder. Erkenntniskritisch ist jedoch zu sagen, dass die Soziologie nicht nur einfach notieren kann, wie sich das Weltbild der Moderne darstellt, sie muss seine Genese rekonstruieren. Wenn es im Allerweltsverständnis von Philosophie und neuerer Religionssoziologie heißt, die Moderne dürfe nicht als Manifestation der Säkularisierug verstanden werden, so beruht das darauf, dass der strukturelle Konflikt zwischen der absolutistischen Logik und der Logik im Verständnis des Universums nicht verstanden wird. Nicht verstanden wird dann allerdings auch der Konnex zwischen dem Verständnis des Universums und dem Verständnis des Menschen im Universum. Der Mensch kann sich nicht anders verstehen, als er das Universum versteht. Wenn er es gleichwohl tut und sich weiterhin von einem Absoluten des Geistes her bestimmt, dann rekurriert er damit auf eine von den Verhältnissen überholte Denkform.

Könnte es nicht sein – als Gegenthese formuliert –, dass gerade die „Logiken“ moderner Lebensformen religiöse Denkformen hervorbringen? Nicht nur als Behauptung von etwas Altem, sondern als etwas, das in den Strukturen gegenwärtiger Vergesellschaftung angelegt ist. Wenn die zeitgenössischen Marktgesellschaften auf der abstrakten Logik des Werts beruhen, wie es Marx und andere beschrieben haben, auf einer Realabstraktion, die letztlich für keinen Menschen durchschaubar ist, aber sämtliche Lebenspraxen durchdringt, dann könnte man die These aufstellen, dass hier das Kapital beziehungsweise das Geld in die Rolle eintritt, die in religiösen Denkformen Gott innehat.

Dieser These würde ich nicht widersprechen wollen. Nur stellt sich einem aufgeklärten Denken für die Frage des Weltbildes die Aufgabe der Begründung. Luckmann wollte Religion als Sinnstiftung verstehen. Die war immer mit der Religion verbunden. Sinnstiftungen lassen sich auch heute in großem Umfang postulieren. Mir geht es demgegenüber um die Grundstrukturen im Verständnis der Welt. Es gibt allerdings eine offene Flanke in der Erkenntniskritik der säkular verstandenen Welt. Sie stellt auch die offene Flanke der historisch-genetischen Theorie dar: Der Anfang des Universums lässt sich nicht denken. Hinter ihn lässt sich auch heute, mit unseren Denkmitteln, nicht zurückgehen. Man kann versucht sein, daran die eine oder andere Form des Glaubens festzumachen. Wenn man dabei jedoch auf ein Absolutes als Geist rekurriert und ihn überdies als Subjekt versteht, bricht man mit den Denkformen einer säkular verstandenen Welt. Der Geist selbst hat eine Geschichte. Das habe ich in Die Evolution der humanen Lebensform zu zeigen versucht. Die Rekonstruktion der Genese des Geistes stand einfach aus, sie war der letzte Baustein.

Dennoch: Gibt es nicht absolutistische Motive in der historisch-genetischen Theorie selbst? Sie sprechen häufig von unausweichlich zu ziehenden Schlüssen, davon, dass etwas auf eine bestimmte Weise einfach nicht mehr gedacht werden könne. Die historisch-genetische Theorie beansprucht mehr zu sein als eine mögliche Beschreibung der menschlichen Geschichte, sie beansprucht eine wenigstens im Groben richtige Beschreibung der Ursprünge, Verlaufsformen und des jetzigen Zustands zu sein. Und sie entwickelt dieses Modell – ähnlich wie Weber – anhand der okzidentalen Geschichte. Wie stehen Sie zu dem Einwand, die historisch-genetische Theorie folge in ihrem Insistieren auf Denkzwängen selber einer absolutistischen Logik, und sie verabsolutiere eine bestimmte historische Entwicklungslinie, die okzidentale, zum Schicksal der Menschheit insgesamt?

Wir sind auf diese Frage schon einmal gestoßen. Wenn man die Lebensform des Menschen aus der Evolution herleitet und deren geistige Verfasstheit in ihrer Genese der Ontogenese der Gattungsmitglieder verhaftet sieht, setzt man sich an einen Anfang der Menschheit, der den Anfang aller Gesellschaften und Kulturen darstellt. Mit ihm kommt eine Entwicklung in Gang, die in ihrem Verlauf eine durchaus stringente Logik aufweist. Ich meine deshalb in der Tat, dass die historisch-genetische Theorie tatsächlich eine Prozesslogik einfängt, die dem Anspruch nach für alle Kulturen gilt. Nur haben sich die Kulturen unterschiedlich weit entwickelt. Es gibt Ungleichzeitigkeiten. Aus Gründen, die wir rekonstruieren können, ist die Entwicklung im Abendland sozusagen vorgeprescht. Mir ist bewusst, dass die Annahme einer linearen Logik auf Widerspruch trifft. Dann muss man jedoch erklären, warum sie nicht in der Weise zutrifft, wie ich es zu zeigen versucht habe. Wissenschaft ist immer fallibel. Auf keinen Fall aber trifft es zu, dass die Theorie auf Werturteilen beruht, die ein abendländisches Vorurteil darstellen. Ja, die säkulare Welt hat sich im Abendland gebildet. Ja, nur in ihr hat sich eine naturwissenschaftliche Revolution ereignet, in deren Folge sich ein säkulares Verständnis des Universums gebildet hat. Herausgesetzt hat sich jedoch die abendländische Geschichte aus einer Entwicklung der Menschheit, die universale Züge aufweist. Recht verstanden, stellt die abendländische Entwicklung mit der säkular verstandenen Welt lediglich die Spitze einer universalen historischen Entwicklung dar. Der Vorlauf zu ihr hat sich in aller Geschichte gebildet, nur waren anderwärts die Bedingungen nicht so, dass sie Neuzeit und Moderne hätten entstehen lassen.

Verlangte Ihre Kritik der absolutistischen Logik nicht auch eine andere Form der theoretischen Reflexion, eine nicht-systematische, geradezu antisystematische Theorie? Wären postmoderne „Schreibweisen“, wie sie beispielsweise Lyotard, Foucault oder Derrida praktiziert haben, nicht die angemessene Konsequenz aus Ihren Erkenntnissen?

Welche Weltdeutung und welches Selbstverständnis der moderne Mensch verlangt, weiß ich nur sehr bedingt zu sagen. Sicher scheint mir nur, dass ihm das säkulare Verständnis des Universums zugrunde gelegt werden muss. Und zu dem gehört auch, die Denkformen säkular zu verstehen und nicht absolut zu setzen. Ich würde mich allerdings anheischig machen, nachzuweisen, dass insbesondere bei Lyotard, aber auch bei Foucault der Umbruch im Verständnis des Geistes nicht oder nicht hinreichend reflektiert wurde. Es scheint mir problematisch, Denkformen und Denkinhalte absolut zu setzen, wie Lyotard es tut. So umfassend sich die historisch-genetische Theorie ausnimmt, es geht ihr ausschließlich um den Aufweis der säkularen Bedingtheit der kognitiven Formen und deren logische Entwicklung.

Welche Rolle spielt für Sie das Vergessen? Dass die lineare Entwicklung der kognitiven Strukturen nicht nur irgendwo festhängen kann, sondern Denkformen oder Handlungspraxen auch vergessen werden können und damit auch die Linearität des Prozesses in Frage steht, nehmen Sie das an?

Mehrfach bin ich auf die These gestoßen, die Menschheit habe vergessen, dass die Welt belebt sei. Aber stimmt das? Kann es überhaupt stimmen? Wenn es um die logische Entwicklung geht, kann die Menschheit nicht wirklich vergessen, weil die logischen Entwicklungen sich in Praxisformen umgesetzt haben. Wenn man für eine kognitive These einen Beleg suchen will, stößt man schlussendlich immer wieder auf die Praxisformen. Um beim prägnantesten Beispiel zu bleiben: Man kann die Quantentheorie nicht bestreiten, weil sie sich kerntechnisch umgesetzt hat. Die Naturwissenschaften mögen sie eines Tages modifizieren, aber einfach vergessen, dass es Quanten gibt, die für die Bewegung und den Aufbau des Universums von Bedeutung sind, kann man nicht.

Wir möchten abschließend ein letztes Thema aufgreifen. Einige ihrer Bücher, insbesondere Warum denn Gerechtigkeit und Demokratie als Lebensform, beschäftigen sich mit dem Thema Gerechtigkeit und Politik. Was lässt sich aus historisch-genetischer Perspektive zu den Möglichkeiten normativer Theorie sagen? Wie kann man historisch-genetisch für oder gegen bestimmte Formen politischer Organisation Stellung beziehen? Wie lässt sich aus der Warte einer Theorie, welche die Genese von Praxis- und Denkformen rekonstruiert, Partei ergreifen für die Demokratie?

Die Frage nach der Begründung des Normativen bereitet mir seit meiner Habilitationsschrift Schwierigkeiten. Die Notwendigkeit, politisch-konstruktiv geschaffene Organisationsformen der Gesellschaft legitimieren zu müssen, erscheint mir auch heute unabweisbar. In Strukturwandel der Legitimation meinte ich noch, dafür auf das Postulat der Gleichheit zurückgreifen zu können. Als ich nach Freiburg kam, hat Wilhelm Hennis erklärt, er sei von der Arbeit zwar beeindruckt, aber mit Gleichheit als Grundlage von Legitimation sei nichts anzufangen. Als blankes Postulat ist Gleichheit tatsächlich zu unbestimmt und allgemein, um das Legitimationsproblem zu lösen. Gänzlich eliminieren aber lässt sie sich nicht. In der Neuauflage von Strukturwandel der Legitimation habe ich sie durch Gerechtigkeit ersetzt.

Was wird dadurch gewonnen?

Ich argumentiere auf zwei Ebenen: Erstens versuche ich Gerechtigkeit kognitiv aus der Lebensform des Menschen heraus zu begründen. Recht verstanden – so meine ich –, kann der Mensch sich nicht nicht der Gerechtigkeit verpflichtet wissen. Sie wird von der Lebensform des Menschen eingefordert. Zweitens hat man sich klar zu machen, dass, selbst wenn sich das Postulat der Gerechtigkeit reflexiv aufweisen lässt, damit nicht auch schon gesagt ist, dass sie sich politisch ohne Weiteres umsetzen lässt. Denn zum einen kollidiert sie mit Macht als systemischem Gestaltungsprinzip der Gesellschaft, zum andern ist die Reflexion der Lebensform des Menschen im Interesse der Gerechtigkeit nicht jedermanns Sache.

Wie sieht die reflexive Begründung der Gerechtigkeit aus, die Sie im Sinn haben?

Es sind drei Einsichten, die man zu ihrer Begründung in Anspruch nehmen kann. Die erste lautet, dass die humane Lebensform im Laufe der Evolution, auf der Basis der biologischen Verfassung des Menschen, durch den Menschen selbst über Denken und Sprache gebildet worden ist. Und eine vom Menschen über Denken und Sprache gebildete Lebensform ist eine von Sinn bestimmte Lebensform. Die zweite Einsicht lautet: Wenn die humane Lebensform durch den Menschen selbst geschaffen worden ist, wenn die Gesellschaft, in der er lebt, Menschenwerk ist und wir dies wissen, dann müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse so gestaltet sein, dass Selbstbestimmung möglich wird. Was immer man unter dem Sinn des Lebens versteht, hinter das Postulat der Selbstbestimmung kann man nicht mehr zurück. Die dritte Einsicht ist im Grunde nur der Schluss aus den beiden vorherigen: Dass die humane Lebensform eine vom Menschen selbst geschaffene Lebensform darstellt und alle Sinnbestimmung dem Moment der Selbstbestimmung genügen muss, mündet in die Forderung nach Demokratie. Ihre Zielvorgabe ist allerdings nicht schon dadurch erreicht, dass alle an der gesellschaftlichen Gestaltung beteiligt werden, so bedeutsam das ist. Ihre Zielvorgabe wird erst dadurch erreicht, dass gesellschaftliche Lebensformen geschaffen werden, die für jeden eine sinnbestimmte Lebensform als selbstbestimmte Lebensform ermöglichen. Nichts anderes meine ich mit Gerechtigkeit.

Könnte man aus Ihren Darlegungen nicht auch einen nietzscheanischen Schluss ziehen? Wenn wir uns in menschengemachten Verhältnissen aufeinander beziehen, wer sollte uns dann etwas verbieten? Wenn es kein Absolutum gibt, ist dann nicht alles erlaubt? Das wäre aus derselben Begründung heraus eine der Ihren entgegengesetzte Schlussfolgerung.

Reflexiv eben nicht oder nur um den Preis eines Sakrilegs gegen die humane Lebensform.

Was heißt das politisch, auf der zweiten Ebene der Begründung, von der Sie sprechen?

In der Politik geht es bekanntlich um Macht. Ursprünglich war Macht die Bedingung der Selbstbestimmung eines jeden. In der Geschichte hat sie sich jedoch in einer Weise entwickelt, dass die Machtpotenziale der einen geeignet waren, die Selbstbestimmung der anderen zu unterdrücken. Aus diesem Widerspruch zwischen anthropologischer Verfassung und sozialer Organisation erwächst das Postulat der Gerechtigkeit, dem heute, in der modernen Gesellschaft, politisch oder eben demokratisch Rechnung getragen werden muss und kann.

In der modernen Gesellschaft? Oder nur in kleinen Gemeinschaften? Innerhalb kleiner, überschaubarer Gruppen besitzt die Reziprozität der Perspektiven eine hohe Plausibilität, wirkt oder gilt Moral, weil Kleingruppen anders gar nicht funktionieren würden. Aber in dem Maße, in dem wir mit anonymen Dritten interagieren und interagieren müssen, treten die Überlebens- oder „Gutlebens“-Interessen der anderen in den Hintergrund. Sie müssen mich nicht interessieren, weil diese anderen für mich anonyme, unbekannte, abstrakte Dritte sind, die gewiss Ansprüche haben, die wir aber nicht kennen und denen wir praktisch auch gar nicht nachkommen können. Verdampft der moralische Imperativ damit nicht ins Unverbindliche?

Sie haben Recht, aber wir müssen differenzieren: Anders als für Moral gibt es für die Gerechtigkeit keine interaktive Struktur, keine Gruppe, innerhalb derer sie vom anderen lebensweltlich eingefordert werden könnte. Auch wer sich dessen bewusst ist, dass Gerechtigkeit sein soll, weil die Lebensform des Menschen ein von Sinn bestimmtes Leben erfordert, kann andere mit diesem Argument nicht in die Pflicht nehmen. Die Geltung von Gerechtigkeit lässt sich zwar reflexiv ausweisen, wird deswegen aber nicht auch schon normativ umgesetzt. Solange es um alltägliche Beziehungen zwischen konkreten Subjekten geht, handelt es sich, wie bei der Aufteilung eines Geburtstagskuchens, bei Lichte besehen um Moral. Das Problem der Gerechtigkeit entsteht erst dadurch, dass Gesellschaften über Macht organisiert werden. Eingeklagt und praktisch oder politisch angegangen werden kann das Problem jedoch erst unter der Bedingung, dass die Unterdrückten um die Möglichkeit, – wenn Sie so wollen – um ihre Bestimmung zur Selbstbestimmung wissen. Die Bedeutung der Grundrechte liegt darin, diesen Anspruch zu sichern. Aber auch die Grundrechte sind als solche bloß ein Versprechen. Eingelöst werden kann und muss die Idee der Selbstbestimmung demokratisch. Demokratie meint eine alternative, neue Machtverfassung, die es denen, die unter organisierter Macht leiden, ermöglicht, sich gegen die bestehende Machtverfassung der Gesellschaft zu organisieren.

Kommen wir zum Schluss. Sie haben erwähnt, dass Sie mit dem im vergangenen Jahr gewissermaßen nachgelieferten Band Die Evolution der humanen Lebensform die historisch-genetische Theorie zum Abschluss gebracht haben. Was bleibt für Sie zu tun, was bleibt für diejenigen zu tun, die an Ihre Theorie anschließen, mit ihr weiterarbeiten wollen?

Für mich, will ich provokativ sagen, gar nichts. Das Leben geht zu Ende. Aber für Soziologen sehr viel: Die Geschichte der Lebensformen ist ungemein komplex; ich habe mit dem Aufweis der beiden Logiken nur erst einen dünnen Faden durch sie gezogen.

Sehen wir es richtig, dass Sie in der glücklichen Lage sind, die Bücher, die Sie haben schreiben wollen, die Themen, die Sie haben behandeln wollen, geschrieben und behandelt zu haben?

Eingedenk der Einsicht, dass die Kunst lang, das Leben kurz ist, würde ich sagen: Ja, ich bin zu Ende gekommen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Geschichte Gesellschaftstheorie Lebensformen

Günter Dux

Dr. Günter Dux ist emeritierter Professor für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, an deren Institut für Soziologie er von 1974 bis 1997 gelehrt hat. Seine Arbeitsschwerunkte sind: Theorie der Gesellschaft, Theorie der Kultur und Theorie der Geschichte.

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Ulrich Bröckling

Dr. Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.

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Axel T. Paul

Professor Dr. Axel T. Paul lehrt Allgemeine Soziologie an der Universität Basel. Sein derzeitiges Hauptarbeits- und Forschungsgebiet ist Gellschaftsgeschichte.

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