Dietmar Wetzel | Rezension | 12.05.2023
Umwelt denken, Umwelt gestalten
Rezension zu „Über Maurice Halbwachs“ von Georges Canguilhem und Henning Schmidgen

Der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs, der am 15. März 1945 im Konzentrationslager Buchenwald an den Folgen von Deportation und Lagerhaft starb,[1] ist einer breiteren Öffentlichkeit bis heute vor allem in Zusammenhang mit dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses bekannt.[2] Vor über zwanzig Jahren erschien im UVK-Verlag eine von Stephan Egger und Franz Schultheis herausgegebene deutschsprachige Werkausgabe in mehreren Bänden, in der deutlich wird, dass Halbwachs weit mehr als „nur“ der Soziologe des kollektiven Gedächtnisses war. Seine überaus ergiebige Forschung umfasst unter anderem auch Beiträge zur Theorie sozialer Klassen, zur soziologischen Bedeutung von Religion sowie zum Verhältnis des Menschen zur Materie beziehungsweise seiner Umwelt. Diesen Aspekt des Halbwachs‘schen Werkes, das Verhältnis von Mensch und Umwelt, rückt der Weimarer Medienwissenschaftler Henning Schmidgen als Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes nun in den Vordergrund.
Über Maurice Halbwachs enthält zwei Aufsätze zum Werk des Soziologen sowie zu seiner Person und einen Anhang mit einsichtsreichen wie erschütternden Dokumenten aus dessen Leidenszeit im KZ Buchenwald. Außerdem findet sich in dem Band auch eine Bibliografie, die einen Überblick über Halbwachs‘ gesamte Publikationen bietet, einschließlich seiner in deutscher Sprache erschienenen Schriften. Der erste Beitrag (S. 7–31) stammt von dem Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem. Es handelt sich um die Übersetzung seines Nachrufs auf Maurice Halbwachs, der bereits 1947 im französischen Original erschien. Insgesamt bietet der Text eine knappe, aber lesenswerte Einführung in Leben und Werk des französischen Intellektuellen. Als Herausgeber hat Henning Schmidgen den Text mit aufschlussreichen biografischen Informationen und kenntnisreichen Anmerkungen zu den Arbeiten von Halbwachs in Fußnoten versehen und um einen eigenen Essay zu den Anknüpfungspunkten zwischen Halbwachs und Canguilhem in Bezug auf „das Problem der Umwelt“ (so der Titel des Aufsatzes) ergänzt.
In seinem Nachruf würdigt Canguilhem Halbwachs als durch und durch „humanistischen“ Soziologen (S. 10) und vielseitig interessierten Zeitgenossen. Dabei schildert Canguilhem insbesondere Halbwachs‘ Straßburger Jahre, in denen Letzterer zwischen 1919 und 1935 als Ordinarius lehrte, als eine Zeit der prägenden Begegnungen und produktiven Zusammenarbeit – unter anderem mit dem Psychologen Charles Blondel und dem Historiker Marc Bloch. Wenig überraschend durchzieht den Nachruf ein Ton des Bedauerns und der Trauer darüber, dass Halbwachs durch seine „Ermordung“[3] daran gehindert wurde, sein Werk fortzusetzen und zu vollenden. Canguilhem betont, dass die soziologischen Arbeiten von Halbwachs stets in weitergehende und grundsätzliche philosophische Fragestellungen eingebettet waren. Hier stellten Leibniz und Bergson wiederkehrend affirmative beziehungsweise kritische Bezugspunkte für Halbwachs dar. Insbesondere die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis des Menschen zu Materie habe bei ihm schon damals im Mittelpunkt gestanden:
„Nun gibt es im Werk von Halbwachs ein Thema, das ihm am Herzen liegt, das er wiederholt auf verschiedenen Wegen anspricht, nämlich das Verhältnis von Mensch und Materie, und zwar in der Existenz der Form einer Klasse der modernen Gesellschaft, die auf die Bearbeitung der Materie spezialisiert ist, der proletarischen Klasse.“ (S. 18)
In Anschluss an Marx attestiere Maurice Halbwachs Arbeitern ein besonderes Verhältnis zur Materie (und eben nicht zu den Menschen, wie das bei anderen gesellschaftlichen Gruppen der Fall sei, beispielsweise den Angestellten oder den Lehrer:innen), da sie etwa als Handwerker oder Industriearbeiter täglich mit Artefakten und Materialien zu tun haben. Neben dem breit gefächerten wissenschaftlichen Interesse, das Canguilhem Halbwachs in seinem vergleichsweise knappen Beitrag nachvollziehbar attestiert, betont er immer wieder die besondere Haltung und Einstellung, mit der Halbwachs seinen Lehrern und Schülern begegnet sei, nämlich mit „Güte“ und „Diskretion“ (S. 23).
In seinem Aufsatz Das Problem der Umwelt. Maurice Halbwachs und Georges Canguilhem (S. 33–87) stellt Henning Schmidgen anschließend Konvergenzpunkte beider Denker heraus, insbesondere bezüglich des in den 1930er-Jahren kontrovers geführten Dialogs zwischen Geschichtswissenschaft, Biologie und Marxismus. Die Besonderheit des Umwelt-Konzepts bei Halbwachs und Canguilhem liege darin, dass sie im Gegensatz zu (rechts-)konservativen Ansätzen die Umwelt dezidiert als vom Menschen gestaltet theorisiert haben, woraus sich die Aktualität ihrer Konzepte ergebe. „Für Canguilhem ist das klassenspezifische Verhältnis Mensch-Materie eine Facette eines in seinen Augen noch umfassenderen Verhältnisses, nämlich das von Organismus und Umwelt.“ (S. 39) Im Anschluss an Halbwachs betonte Canguilhem, dass Umwelt als Produkt menschlicher Tätigkeit verstanden werden müsse. Diese gemeinsame Position rekonstruiert Schmidgen in seinem Aufsatz in sechs Schritten.
Zunächst wird im Kapitel Das Lebendige und seine Umwelt der Kontext skizziert, in dem der Umweltbegriff von Canguilhem aufgegriffen wird (S. 43).[4] Mit ihm übernehme Canguilhem ein zentrales Konzept von Halbwachs und betone so, ganz im Sinne der materialistischen Tradition, Fähigkeit und Tätigkeit des Menschen in der aktiven Gestaltung seiner Umwelt. Canguilhems Ausführungen müssten stets in ihrem historischen Kontext betrachtet werden, bemerkt Henning Schmidgen. So gehe es Canguilhem bei der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Mensch, Geschichte und Umwelt etwa auch darum, „die Konzentrationslager der Nazis als von Menschen geschaffene Umwelten zu begreifen, um sie in ihren Auswirkungen auf das menschliche Leben entsprechend genau zu untersuchen.“ (S. 52).
Im zweiten Abschnitt geht Schmidgen auf die Frage ein, inwiefern Canguilhem Halbwachs als „marxistischen Soziologen“ (S. 44) versteht. In der Lektüre Canguilhems greife Halbwachs die Metapher des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur (ebd.) nicht nur auf, sondern interpretiere sie als ein wesentliches sozialtheoretisches Moment, das im Phänomen der Technik zum Ausdruck komme. Der bei Halbwachs in Anlehnung an den Geografen Vidal de la Blache entwickelte Begriff der Lebensweise (genre de vie) umfasst dementsprechend neben den Beziehungen der Menschen untereinander und ihren Überzeugungen und Verhaltensweisen auch die Beziehungen zu ihrer materiellen Umwelt (Straßen, Häuser etc.) – was im Übrigen auch eine Differenz zu Durkheims Fokussierung auf soziale Tatsachen und deren (letztlich fiktive) kollektive Vorstellungen markiert. Folglich sehe Canguilhem in dem Vorsatz, „die Gesellschaft in die Natur zurückzuführen“ (S. 56), ein Leitmotiv im Halbwachs‘schen Werk. Und gerade dies zeige eindrucksvoll die Aktualität seines Denkens für unsere heutige Zeit.
Im Kapitel Lebensweisen und Techniken arbeitet Schmidgen den institutionellen Rahmen der 1930er-Jahre in Frankreich heraus, der für Canguilhems Rezeption von Halbwachs’ Arbeiten von zentraler Bedeutung gewesen sei. Die besondere Rolle der Technik „als normativer Aspekt der Lebensweise“ (S. 61) im Sinne von Fertigkeiten und Fähigkeiten (techniques) bestehe darin, dass sie als eine Art Vermittler fungiert, der den Austausch zwischen Mensch und Material beziehungsweise Organismus und Umwelt reguliere.
Anschließend rückt Schmidgen Halbwachs' Überlegungen zu kollektivem Gedächtnis, Technik und Umwelt in die Nähe der frühen Kritischen Theorie, insbesondere zu Walter Benjamins Ausführungen zum Kunstwerk im fortgeschrittenen Industriezeitalter. Zudem habe es institutionelle Verflechtungen und eine fruchtbare Zusammenarbeit französischer Soziologen mit Vertretern des Instituts für Sozialforschung in Paris, New York und anderen Orten gegeben, sodass eine Begegnung von Halbwachs, Canguilhem und Benjamin an der École Normale Supérieure in den frühen 1930er-Jahren nicht auszuschließen sei (S. 66). Zudem sind einige Arbeiten von und über Halbwachs in dieser Zeit in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen, wie Schmidgen anmerkt.
Im Kapitel Ein philosophischer Wissenschaftler wird Halbwachs‘ Würdigung als Wissenschaftler und Intellektueller mit gesundem Menschenverstand (bon sens) – in den Worten Canguilhems als „humanistischer Soziologe“ – wie bereits in dessen Nachruf mit Halbwachs‘ Orientierung an der philosophischen Anthropologie in Verbindung gesetzt. Canguilhem ist von der thematischen Breite des Werks von Halbwachs beeindruckt und charakterisiert ihn als inter- und transdisziplinären Forscher, der eine Wissenschaft von „unmittelbar philosophischer Reichweite“ (S. 74) betrieben habe.
Aufgrund gegenwärtiger geistes- und sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit der Umweltproblematik wird im sechsten Kapitel die „Aktualität von Halbwachs“ erörtert. Anders als etwa Bruno Latour, der die Ursachen der ökologischen Krise gerade nicht in einer „bestimmten Form und Formation der Gesellschaft“, sondern in einer „Glaubenskrise der modernen Kultur“ (S. 77) verorte, sehe Canguilhem mit Halbwachs das Problem vor allem in der gesellschaftlichen Organisation und Regulierung von Technik. Bereits Canguilhem und Halbwachs hätten die „künstliche Gestaltung von Umwelten, [und] die dabei eingesetzten Techniken sowie die auf diese Weise jeweils realisierten Machtverhältnisse“ (S. 79) theoretisch-konzeptionell eingefangen und somit einen Aspekt von Foucaults macht- und gouvernementalitätskritischer Perspektive auf Milieus und Umwelt als Schnitt- und Kreuzungspunkte moderner Lebensweisen vorweggenommen. Die entscheidende Instanz ist bei Halbwachs und Canguilhem die Technik, die zwischen Umwelt und Mensch respektive zwischen Mensch und Materie vermittelt. Mit Blick auf die digitale Welt sehen wir heute deutlicher als je zuvor, wie die Allgegenwärtigkeit von digitalen Technologien unsere Umwelt grundlegend umgestaltet.
Im Schlusskapitel ordnet Schmidgen die Auseinandersetzung mit Halbwachs und dem Problem der Umwelt als Übergangsphase in Canguilhems Werk ein. Die Begriffe Leben und Umwelt stehen in dieser Phase zwischen 1930 und 1950 im Mittelpunkt, bevor Canguilhem mit Beginn der 1950er-Jahre (gemeinsam mit Gaston Bachelard) eine Methodologie der Wissenschaftsgeschichte begründet und eine an Lebenswissenschaften und Medizin orientierte Philosophie etabliert. In diese Übergangsphase, bevor Canguilhem zu dem Wissenschaftshistoriker wird, als der er vielen heute bekannt sein dürfte, fallen neben wissenschaftlichen Arbeiten und Kontroversen auch eine Reihe von Festschriften, Erinnerungen und eben Nachrufe, die einen eindrucksvollen Einblick sowohl in Leben und Werk des Gewürdigten als auch in Canguilhems eigene Arbeit gewähren.
Über Maurice Halbwachs ist insgesamt sehr sorgfältig ediert und nicht nur für Spezialist:innen der Werke von Georges Canguilhem und Maurice Halbwachs interessant. Zum einen stellt der Nachruf Canguilhems wesentliche Aspekte des Halbwachs‘schen Denkens heraus; insofern kann dieser Text auch als Einstieg in sein Werk dienen. Folgt man Canguilhem, so war Halbwachs aber offensichtlich nicht nur ein hervorragender Wissenschaftler, wie seine Berufung an das Collège de France kurz vor seinem Tod in Buchenwald unterstreicht, sondern auch ein feinsinniger und weithin geschätzter Kollege und Mensch. Darüber hinaus ist es Henning Schmidgen in seinem wenn auch bisweilen verschlungenen Essay gelungen, die Bezüge der beiden Denker auf subtile und akribische Weise aufzuzeigen und Halbwachs in den aktuellen Forschungskontext des Mensch-Umwelt-Verhältnisses einzuordnen – etwa in Form einer kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeit Bruno Latours. Schmidgens Ausführungen sind stärker als die von Canguilhem an ein Fachpublikum gerichtet; auch Halbwachs-Kenner:innen dürften hier nicht nur Bekanntes erfahren. Vor allem in Bezug auf Ökologie und Technik sowie auf Fragen der Lebensweisen bietet der Band relevante Einsichten, um die Gegenwart zu verstehen und unseren Blick in die Zukunft zu schärfen.
Fußnoten
- Vgl. für weitere biografische Informationen: Annette Becker, Maurice Halbwachs. Un intellectuel en guerres mondiales 1914-1945, Paris 2003.
- Dietmar J. Wetzel, Maurice Halbwachs. Klassiker der Wissenssoziologie. 2. Auflage, Köln 2023 (i. E.).
- Pierre Bourdieu, Die Ermordung von Maurice Halbwachs, in: Stephan Egger (Hg.), Maurice Halbwachs – Aspekte des Werks. Maurice Halbwachs in der édition discours, Band 7, Konstanz, S. 229–234.
- Georges Canguilhem, Die Erkenntnis des Lebens. Aus dem Französischen von Till Bardoux, Maria Muhle und Francesca Raimondi, Berlin 2009.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nikolas Kill, Stephanie Kappacher.
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