Claus Leggewie | Rezension |

Vom Generalgefühl der Überforderung

Rezension zu „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser

Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser:
Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft
Deutschland
Berlin 2023: Suhrkamp
540 S., 25 EUR
ISBN 978-3-518-02984-8

Das Buch von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser (alle HU Berlin) könnte nostalgische Glückgefühle bewirken, dass damit (nach Ulrich Becks „Risikogesellschaft“) wohl wieder ein Bestseller vorliegt, der „nichts als Soziologie“ (René König) betreiben will und dafür das klassische Repertoire theoriegeleiteter empirischer Forschung auffährt. Man möchte fast, um im Titel-Bild zu bleiben, Triggerwarnungen aussprechen an jene, die in den letzten Jahren aus kultursoziologischer Sicht eine weitreichende Entstrukturierung und kulturkämpferische Polarisierung der Gesellschaft konstatieren. Ungleichheiten haben sich verschoben, bleiben aber markant, Konflikte sind vielschichtiger und schärfer geworden, haben aber nicht zu jener Radikalität geführt, die in der öffentlichen Debatte häufig unterstellt wird. Die Autoren definieren den verführerisch eingängigen Begriff Triggerpunkte als

„jene neuralgischen Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, an denen Konsens, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissens, ja sogar Gegnerschaft umschlagen. Physiotherapeuten verstehen unter Triggerpunkten verhärtete Stellen oder ‚verkrampfte Zonen‘ des Körpers. Im Zuge von Übertragungen kann eine Berührung solcher Punkte – ein ‚Triggern‘ – auch in ganz anderen Körperregionen Schmerz auslösen. Ohne die Analogie zu medizinischen Begriffen überdehnen zu wollen, verstehen wir Triggerpunkte als jene Orte innerhalb der Tiefenstruktur von moralischen Erwartungen und sozialen Dispositionen, auf deren Berührung Menschen besonders heftig und emotional reagieren.“ (S. 246)

Mau (gemessen an seinen Auszeichnungen und Auflagen der derzeit erfolgreichste deutsche Soziologe) und seine Mitautoren identifizieren vier große Konfliktarenen: oben/unten-, innen/außen-, wir/sie- und heute/morgen-Ungleichheiten, die den sozialen Raum strukturieren und sich im politischen Raum spiegeln. Sie greifen auf die Cleavage-Theorie zurück, die relativ harte und dauerhafte Konflikt-Konstellationen identifiziert, entlang denen sich bei kritischen Weichenstellungen in historischen Großprozessen nachhaltig soziale Interessen und Identitäten formiert und die (westlich-europäische) Parteienlandschaft durchzogen haben. Spaltungslinien wirken eingefroren, bis ein neuer Strukturwandel sie aufsprengt. Und neue aufwirft? Im Fach Soziologe, so konstatieren die Autoren, seien an deren Stelle zunächst anhand neuer Themen (Frauenbewegung, Ökologie) Cluster von pluralisierten Lebensstilen, dann in Reaktion auf den Wandel neue Großgruppen mit auseinanderklaffenden Interessen und Werten getreten, die die soziale Mitte erodieren ließen. Aus einer Dromedar-Gesellschaft mit einem einzigen breiten Buckel werde (wieder) eine Kamel-Gesellschaft mit einem tiefen Graben zwischen zwei steilen Höckern – diesem Bild widerspricht das Autorenkollektiv, und damit den in die öffentliche Debatte vorgedrungenen Befunden einer Gesellschaft der Singularitäten und der Polarisierung.

Empirische Grundlage sind Explorationen in 2021 und 2022 in Berlin und Essen gebildeten Fokusgruppen, die je eine Gruppe mit Angehörigen der Unterschicht, eine mit Angehörigen der oberen Mittelschicht und eine mit Personen, die gegenläufige Wertorientierungen vertreten (sogenannte Krisis-Gruppen) umfassten und dabei die Salienz gesellschaftlicher Konflikte, die zentralen Deutungsmuster, die genutzten argumentativen Repertoires und Triggerthemen identifiziert haben. Konzipiert und angereichert wurden sie mit Daten aus bundesweiten Telefon-Surveys und sozialstatistischem Sekundärmaterial. Die Auswertung bildet einen wahren Fundus an Erkenntnissen und Einsichten, aus denen sich viele Forschungsgruppen bedienen sollten.

Soziologie, die vor allem Soziologie sein will, konzentriert sich auf soziale Ungleichheiten – und was genau an ihnen umstritten ist – und Konflikte – und wie sie ausgefochten werden). Konflikte, bei denen Ungleichheitsfragen im Vordergrund stehen, drehen sich einer älteren Definition des Soziologen Reinhard Kreckel zufolge im Kern um „gesellschaftlich verankerte Formen der Begünstigung und Bevorrechtigung einiger, der Benachteiligung und Diskriminierung anderer“ (hier S. 21), wozu materielle Faktoren, institutionelle Rahmungen und kulturelle Einschätzungen gehören. Über der Kernfrage „Wem steht was zu?“ bilden sich, wie gesagt, vier „Ungleichheitsarenen“: (1) sozioökonomische Ungleichheiten (oben/unten), (2) Inklusionsunterschiede (wir/sie) und (3) Anerkennungsunterschiede in Bezug auf Migranten und Minderheiten sowie (4) Generationsansprüche (heute/morgen). Diese Strukturen wirken nicht als Klassenantagonismen „an sich“, sondern im Zusammenhang mit (nicht deckungsgleichen) kulturellen Begründungsfiguren, abrufbaren Wissensvorräten und moralischen Repertoires. Bemerkenswert ist, welche öffentlich vorherrschenden Antagonismen nicht oder nur indirekt behandelt werden: das in der deutschen Abrechnungs-Belletristik dominante Ost-West-Thema, der für manche fundamentale Frau-Mann-Gegensatz oder die Selbstbehauptung sexueller Orientierungen, das Gefälle von Stadt und Land sowie der Gegensatz zwischen Jung und Alt.

Die zahlreichen und vielschichtigen, oft überraschenden und Stereotypen zerstörenden Befunde der Berliner Soziologen kann man so resümieren, dass die beschworene Spaltung in unversöhnliche Lager nicht stattgefunden hat und „Polarisierung“ ein medial-journalistisch „gehyptes“ Narrativ ist. Damit wird keine neue Nivellierung behauptet, denn der implizite Gesellschaftsvertrag ist durch zahlreiche, ungleich wahrgenommene und dramatisierte Konflikte bedroht. Der Antagonismus zwischen (transnationalen) Kosmopoliten und (lokal wie national orientierten) Kommunitaristen, den Michael Zürn und Wolfgang Merkel traktieren, löst sich jedenfalls für die deutsche Gesellschaft in eine weiter ausdifferenzierte Konfliktlandschaft auf, in der es um materielle Anwartschaftsannahmen (gerechte Verteilung), Bleiberechte (Grenzöffnung und Solidarität), Abweichungstoleranz (Lebensstile) und Zukunftsschulden an die nicht grundlos so titulierte „last generation“ geht. Es geht dabei selten um Alles oder Nichts, wie man in der Klimafrage durchaus annehmen dürfte und wie die besonders starken Haltungsunterschiede zu Migration und Flucht suggerieren, sondern um graduelle Verstöße gegen eine unterstellte Normalität, Ängste vor Verlust des gewohnten Lebens, Empörung über vermeintliche Grenzverletzungen unter dem Dach eines Generalgefühls der Überforderung. Triggerpunkte lauern in gebrochenen Gleichheitserwartungen, in Enttäuschungen von Normalitätsannahmen, in Verletzungen von Kontrollbemühungen und in Eingriffen in Autonomiehoffnungen.

In diesem übrigens sehr lesbaren Buch erfährt man sehr viel „Authentisches“ über die deutsche Gesellschaft. Und man versteht, wie sich diese Lockerungen – oder sind es Verkrampfungen? – in politische Konflikte und Spaltungen übersetzt haben, die sich – nicht erstaunlich – grob zwischen Grünen und AfD abspielen. Bei deren Stammwählerschaften bündeln sich am klarsten die Wahrnehmungsunterschiede des fraglich gewordenen Gesellschaftsvertrags. Ein auch von Lux, Mau und Westheuser ungewollt befördertes Missverständnis ist, dass es sich hier um eine symmetrische Polarisierung handele. Am ehesten trennt (und triggert) nicht die Wahrnehmung der sozioökonomischen Ungleichheit, deren Skandalon sich verschoben hat. Zusammenfassend:

„In der verteilungspolitischen Oben-Unten-Arena existiert zwar ein verbreitetes ‚Unbehagen mit der Ungleichheit‘, aber statt einer klassenpolitischen Mobilisierung dominieren meritokratische Verteilungsnormen und horizontale Positions-kämpfe. Die migrationspolitische Innen-Außen-Arena weist demgegenüber eine sehr viel stärkere Spannung auf. Hier geht es um Offenheit und Geschlossenheit, hier stehen Fragen der Regulierung und Begrenzung von Migration sowie der Integration der Neuankömmlinge auf der Tagesordnung. (…) In der identitätspolitischen Wir-Sie-Arena zeigt sich im Zeitverlauf eine starke Liberalisierung, die Gruppenunterschiede eher nivelliert. Trotz eines breiten Anerkennungskonsenses gegenüber diversen Identitäten und Lebensformen stoßen wir aber auch auf Entgrenzungsbefürchtungen (‚Das geht zu weit‘). Die umweltpolitische Heute-Morgen-Arena schließlich ist als Konfliktfeld erst im Entstehen und noch nicht vollständig konturiert. Unsere Befunde deuten darauf hin, dass der Klimawandel in der Breite der Bevölkerung zwar als drängendes Problem angesehen wird, aber zugleich sehr unterschiedliche – und durchaus klassenspezifische – Vorstellungen zu seiner Bewältigung vorhanden sind. Es handelt sich um einen »Klassenkonflikt im Werden«, für dessen weitere Entfaltung die Geschwindigkeit und die Tiefe des Umbaus wie auch die Verkopplung mit der sozialen Frage entscheidend sein werden.“ (S. 26 f.)

Die Studie könnte zur Beruhigung des Streits beitragen, der aktuell in Deutschland überfällige vernünftige Problemlösungen fast unmöglich macht. Polarisierungsunternehmer der AfD und ihrer Trolle bewirtschaften eine kaum noch ventilierte, nihilistische Wut, die aus Veränderungserschöpfung erwächst und vor dem Hintergrund einer meist schweigenden Mehrheit Vetopositionen aufbaut. Grüne versus Identitäre mag das neue Gegensatzpaar der politischen Kultur sein, aber beide als „extrem“ zu charakterisieren, halte ich für irreführend. Die vermeintliche Politisierung der Extreme entpuppt sich eher als Radikalisierung der Rechten. Das erweist sich im europäischen und internationalen Vergleich der politischen Cleavages, die mit dem relativen Gewicht der Grünen eher einen deutschen Sonderweg anzeigen, während der Druck von rechts überall spürbar ist.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Gesellschaft Methoden / Forschung Politik Soziale Ungleichheit

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Claus Leggewie

Claus Leggewie ist Ludwig Börne-Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitet das dortige „Panel on Planetary Thinking“. Von 2007 bis 2017 war er Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen.

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