Charlotte Wiemann | Rezension |

Von Echokammern und Algorithmen

Rezension zu „Antisemitism on Social Media“ von Monika Hübscher und Sabine von Mering (Hg.)

Monika Hübscher und Sabine von Mering (Hg.):
Antisemitism on Social Media
Großbritannien/USA
London/New York 2022: Routledge
270 S., £35.99
ISBN 9781032059693

Über das Internet, insbesondere in sozialen Medien lassen sich Hassrede, Desinformation und menschenfeindliche Inhalte im Sekundentakt verbreiten. Spätestens seit dem Wahlkampf 2016, der Donald Trump unter anderem mittels digitaler Propaganda schließlich ins Amt des US-Präsidenten führte, ist klar, dass das Internet einen fruchtbaren Boden für die gezielte Streuung jeglicher Art von Informationen, auch von schwer prüfbaren Gerüchten sowie widerlegten Tatsachenbehauptungen bietet. Nicht selten adressieren solche Inhalte marginalisierte Gruppen und tragen dazu bei, Ressentiments gegen sie zu schüren. Die Laufbahnen der Attentäter von Utoya, München, Christchurch, Halle und Hanau haben zudem auf dramatische Weise gezeigt, dass die (sozialwissenschaftliche) Forschung zu Radikalisierungsprozessen nicht umhinkommt, den digitalen Raum in ihre Untersuchungen einzubeziehen.

Fachspezifisch werden die Zusammenhänge von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und dem Internet längst eingehend erforscht, etwa im Rahmen der Untersuchung des Verhältnisses von Online- und Offline-Radikalisierungsverläufen, durch die Formulierung von Handlungsaufträgen an die die digitalen Plattformen bereitstellenden Unternehmen oder durch die Analyse möglicher Auswirkungen von politischer Regulation, beispielsweise durch die Löschung von Inhalten sowie den Einsatz Künstlicher Intelligenz zur Detektion von Hate Speech. Auch Nutzen und Grenzen von Präventionsarbeit bezüglich menschenfeindlicher Ideologien im digitalen Raum wird untersucht, beispielsweise durch die Betrachtung des Einflusses von Counter Narratives[1] oder digitale sozialarbeiterische Ansätze. Während islamistische Radikalisierungen und die Verbreitung entsprechender Inhalte lange im Fokus standen, rückt in den letzten Jahren immer stärker die Untersuchung extrem rechter Akteur:innen und Inhalte im Netz in den Mittelpunkt.

Der Sammelband Antisemitism on Social Media, herausgegeben von Monika Hübscher und Sabine von Mering, setzt sich zum Ziel, das Phänomen Antisemitismus im Internet zu beleuchten. Angesichts des bereits umfassend beforschten Themenkomplexes der Hassrede im Netz steht ein solches Projekt vor der Herausforderung, die Spezifika des Phänomens Antisemitismus für den Wirkungsraum Internet herauszuarbeiten, ohne die phänomenübergreifenden Erkenntnisse zum Themenfeld Hass im Netz lediglich zu reproduzieren oder außer Acht zu lassen. Darüber hinaus wollen die Herausgeberinnen explizit eine breite Zielgruppe ansprechen, ihnen zufolge richtet sich der Band ebenso an Wissenschaftler:innen und Studierende wie an Menschen, die beruflich selbst für oder mit Social-Media-Plattformen arbeiten, sowie Lehrende und Journalist:innen. Weiterhin kündigen die Herausgeberinnen selbstbewusst innovative methodische Zugänge, Fallstudien zu konkreten sozialen Netzwerken sowie Konzepte an, die ihrer Ansicht nach zum analytischen Standardrepertoire bei der Untersuchung von Antisemitismus in den sozialen Medien werden könnten.

In den vierzehn Beiträgen des Bandes werden aktuelle Forschungserkenntnisse mit unterschiedlichen Schwerpunkten und aus multidisziplinärer Perspektive beleuchtet – teils in Form von kursorischen Überblicken, teils als tiefgehende Analysen. Neben Beiträgen, die sich dezidiert mit dem Aufkommen und der Verbreitung antisemitischer Inhalte auf einzelnen Plattformen wie Youtube befassen, finden sich Fallstudien zur Online-Kommunikation politischer Organisationen und rechter Bewegungen – etwa der AfD in Deutschland oder QAnon in den USA – hinsichtlich ihrer Rolle in antisemitischen Tropen. Darüber hinaus wird die Auswirkung von Antisemitismus im Netz auf jüdische User thematisiert, die Bedeutung von KI-Tools zur Antisemitismusbekämpfung im Netz skizziert und schließlich versucht, das Phänomen in einen größeren Bedeutungszusammenhang einzuordnen. Zwar finden sich in den verschiedenen Kapiteln zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema, letztlich ist es jedoch der Anspruch des Buches, sowohl Laien als auch Expert:innen anzusprechen, der sich als problematisch erweist, weil er zu Lasten der analytischen Schärfe geht. Durch die Wiederholung grundsätzlicher Einsichten zum Thema geraten besonders relevante, hochaktuelle Aspekte bisweilen in den Hintergrund, sodass insbesondere fachlich versierte Leser:innen sich eher der Lektüre einzelner Beiträge widmen werden als dem ganzen Buch. Die breite inhaltliche Streuung der Beiträge, die dem Format des Sammelbandes bis zu einem gewissen Grad inhärent ist, verstärkt diesen Effekt. Anstatt zu versuchen, den Themenkomplex Antisemitismus in sozialen Medien in seiner ganzen Breite zu beleuchten, hätte der Band auch verstärkt eigene Schwerpunkte setzen können. Eine Möglichkeit wäre etwa gewesen, spezifische Themen zu Antisemitismus, etwa Prävention und digitale politische Bildung, stärker in den Fokus zu rücken und zu erkunden, welche Bedingungen für wirksame Online-Präventionsmaßnahmen erfüllt sein müssten.

Darüber hinaus hätte die Wechselwirkung zwischen Online- und Offline-Erscheinungen des Phänomens stärker herausgearbeitet werden können. Auch wenn die Herausgeberinnen in ihrer Übersicht zu Beginn des Werkes durchaus Anhaltspunkte zu der Frage liefern, welchen Stellenwert das Internet speziell für die Verbreitung antisemitischer Inhalte „in der echten Welt“ hat, oder was andersherum Antisemitismus im Internet von Antisemitismus offline unterscheidet, so steht diese wichtige Frage nicht bei allen Beiträgen im Fokus. Stellvertretend dafür kann auf Jakob Guhls Fallstudie Everyone I know Isn’t Antisemitic (S. 55-73) verwiesen werden. Der Politikwissenschaftler wertet darin Posts auf mit der britischen Labour-Party in Verbindung stehenden Facebook-Seiten aus und kommt zu dem Schluss, dass es den dortigen Beiträgen oftmals insbesondere an Trennschärfe hinsichtlich Antisemitismus gegen Israel mangelte. Letztlich dient das Internet in dieser Forschungsarbeit lediglich als Datenquelle für eine Inhaltsanalyse antisemitischer Rhetorik – weder die Rolle des digitalen Mediums in der Übermittlung der Inhalte noch mögliche Einflussfaktoren auf die Auswirkungen der digitalen Übermittlung werden hier problematisiert.

Auch der Beitrag von Navras J. Aafreedi (S. 114–128) zu den Videos eines auf Youtube aktiven islamistischen Theologen ist de facto eine inhaltsanalytische Auseinandersetzung mit dessen antisemitischer Rhetorik. Die spezifische Bedeutung, die der erforschten Rhetorik durch ihre Verbreitung via Youtube zukommt, wird durch den Verweis auf die Bedeutung mündlicher Überlieferungen im Islam und die Alphabetisierungsrate in Pakistan zwar angerissen, bleibt insgesamt aber oberflächlich. Ähnliches gilt für den anregenden Beitrag Armin Langers, der sich mit antisemitischen Narrativen in der QAnon-Bewegung auseinandersetzt. Langers Aufsatz ist außerordentlich hilfreich, um die ideologischen Hintergründe der Bewegung und ihr Mobilisierungspotenzial zu verstehen. Eine Analyse der spezifischen Verwendung sozialer Medien durch die Bewegung steht jedoch auch hier nicht im Vordergrund. Lediglich im Fazit verweist der Autor darauf, dass soziale Medien die Verbreitung der von QAnon in Umlauf gebrachten Mythen beschleunigten und staatliche Akteure solchen Entwicklungen entgegenzuwirken hätten.

Andere Beiträge hingegen thematisieren die spezifischen Zusammenhänge von Phänomen und Medium explizit. Monika Hübscher und Vanessa Walter nehmen eine digitale Konferenz zu Antisemitismus und Rechtsextremismus, die auf Youtube übertragen und von rechten Trolls gekapert wurde, zum Anlass, um Ziele und Wirkungsweisen antisemitischer Troll-Attacken zu diskutieren. Weil die Autorinnen das Internet als eigene Räumlichkeit mit all seinen Eigenschaften reflektieren, legen sie einen erkenntnisreichen Beitrag zu denjenigen Fallstricken vor, die es bei der Suche nach adäquaten Maßnahmen zur Verhinderung solcher Attacken zu umgehen gilt.

Auch Cassie Miller (S. 93–113) widmet sich diesem Aspekt. In ihrer Arbeit zeichnet sie nach, wie sich das rechtsterroristische Netzwerk The Base in unmoderierten digitalen Räumen ausbreiten konnte. Quint Czymmek (S. 181–192), der in seinem Text untersucht, wie jüdische Nutzer:innen sozialer Medien mit Antisemitismus im Netz umgehen, behandelt einen weiteren und nicht minder relevanten Aspekt der Folgen von Antisemitismus im Internet. Die von Czymmeks jüdischen Interviewpartner:innen gewählten Strategien reichen von einer ausschließlich anonymen Nutzung von Social Media, der Kreation von Online Safe Spaces durch das resolute Blocken möglicher Trolls über die stete Rückversicherung bei einer offline unterstützenden jüdischen Community und verweisen auf die unterschiedlichen Umgangsstrategien der Betroffenen. Die Schilderungen im Beitrag machen deutlich, wie unterschiedlich hier die Bedarfe der Betroffenenbegleitung sind und dass zum Beispiel die oftmals vorgebrachte Forderung nach einer Klarnamen-Pflicht im Internet sogar konträr zu deren Bedürfnissen stehen kann. Ebenfalls lesenswert ist der Beitrag von Hendrik-Zoltán Andermann und Boris Zizek (S. 151–166), denn sie untersuchen antisemitische Bildsprache in Memes – einem reinen Onlinephänomen, welches bislang nur sehr wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Mittels objektiver Hermeneutik zeigen die Autoren an einem Beispiel aus der Anfangszeit der Corona-Pandemie die Kontinuität klassischer antisemitischer Stereotype in bestimmten Memes auf. Sie verweisen auf die Gefahren insbesondere latenter grafischer Bezüge auf antisemitische Stereotype, die mittels Memes transportiert, aber von den Betrachter:innen möglicherweise unbemerkt blieben.

Im abschließenden Kapitel des Bandes plädiert der Kommunikationswissenschaftler Michael Bosetta schließlich dafür, das Phänomen des Antisemitismus im Internet „into perspective“ zu setzen. Nüchtern betrachtet offenbare eine quantitative Analyse, dass das Ausmaß antisemitischer Inhalte in sozialen Medien weder Anlass zur Sorge sei noch einen dringlichen Forschungsauftrag begründe (S. 238): „[U]ltimately, this chapter concludes by arguing that the sheer quantity of antisemitism on social media is neither a primary cause for concern nor a pressing task for research” (ebd.). Statt quantitativer Forschungsarbeit interessiert sich Bossetta vielmehr für das technische Design der Plattformen und für die Frage, welche Konsequenzen es für die Verbreitung antisemitischer Inhalte hat, ob es sie begünstigt oder erschwert. Er zeigt auf, wie unterschiedlich sich etwa die Verbreitung zwischen unmoderierten Foren (beispielsweise 4chan) und moderierten Seiten wie Instagram darstellt. Außerdem werde zu wenig untersucht, wie antisemitische Inhalte von unmoderierten und weniger von algorithmischer Kuratierung geprägten Seiten, die gleichzeitig stärkere Echokammern darstellten, in stärker frequentierte soziale Medien gelangten. Statt einer umfangreichen quantitativen Analyse antisemitischer Inhalte, die häufig auch aufgrund nicht berücksichtigter Counter Narratives verzerrt würden, plädiert Bosetta für eine stärker funktionsorientierte Perspektive, die sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Art von User:innen auf welchen Plattformen für entsprechende Inhalte empfänglich seien. Wie auch immer man seine Ausführungen bewerten mag, Bosettas Versuch einer Gesamteinordnung des Phänomens eröffnet ohne Frage neue Perspektiven und ebnet den Weg für weitere Untersuchungen.

Insgesamt gibt die Lektüre von Antisemitism on Social Media viele neue Denkanstöße zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus im Internet. Wissenschaftler:innen, die sich speziell mit Radikalisierung und deren Prävention im Internet befassen, gleich ob aus soziologischer, kommunikationswissenschaftlicher, pädagogischer oder psychologischer Perspektive, werden nicht in jedem Beitrag neue Erkenntnisse vorfinden. Gerade als Einführung in die Thematik eignet sich das Buch dennoch unbedingt auch in seiner Gesamtheit, weil es einen breiten Überblick verschafft und verdeutlicht, wie vielfältig die Herangehensweisen an das Phänomen sind und wie viele Leerstellen bei der Analyse desselben es noch gibt.

  1. Counter Narratives bezeichnen als Sammelbegriff den Versuch, extremistischen Inhalten im Internet durch online direkt geäußerten Widerspruch eine Gegenerzählung entgegenzusetzen. Im Rahmen dieses Präventionskonzeptes wird unterschieden zwischen Gegenrede, die versucht, extremistische Inhalte konkret zu entkräften und solcher, die darauf setzt, die Vorzüge eines anderen, sich an Menschenrechten und demokratischen Strukturen orientierenden Weltbildes, hervorzuheben.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher, Nikolas Kill.

Kategorien: Affekte / Emotionen Bildung / Erziehung Demokratie Kommunikation Medien Rassismus / Diskriminierung Sicherheit

Charlotte Wiemann

Charlotte Wiemann arbeitet als Referentin zur Prävention und Bekämpfung von Rechtsextremismus und promoviert an der TU Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich extreme Rechte sowie Nationalismus und Antisemitismus in der (post)migrantischen Gesellschaft.

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