Rahel Jaeggi | Essay | 04.12.2023
Was ist Fortschritt?
Vorabdruck aus „Fortschritt und Regression“ von Rahel Jaeggi
Wer heute behaupten würde, die Menschheit entwickele sich zu größerer Vollkommenheit, das sei die wohltätige, wenn auch unbeabsichtigte Folge individuellen Handelns, dem wären skeptische Blicke, Kopfschütteln, ja höhnisches Gelächter sicher. Der Fortschrittsbegriff scheint in den Fundus der ideologischen Versatzstücke verbannt. Wird er wieder hervorgeholt, ist Misstrauen angebracht. Während eine „Fortschrittskoalition“ die Republik regiert, konstatieren die meisten Regression, Rückfälle in bedrückend großer Zahl. Damit aber, schreibt die Philosophin Rahel Jaeggi, „betritt der Fortschrittsbegriff sozusagen durch die Hintertür wieder die Szene“.
Die Leiterin des Center for Humanities and Social Change an der Berliner Humboldt-Universität ist davon überzeugt, dass viel verloren ginge, wollte man auf das Begriffspaar „Fortschritt“ und „Regression“ verzichten. Sie versteht unter Fortschritt eine „Form des Wandels“, eine „bestimmte Weise, auf Krisen zu reagieren und Probleme zu bewältigen“: „Fortschritt ist, auf eine kurze Formel gebracht, ein sich anreichernder, Regression ein systematisch blockierter Problemlösungs- und Erfahrungsprozess.“
Was daraus folgt, warum kritische Theorie auf das Werkzeug des Fortschrittsbegriffs angewiesen bleibt und wie dieser richtig zu fassen wäre, entfaltet Rahel Jaeggi in ihrem neuen Buch „Fortschritt und Regression“, das am 11. Dezember 2023 erscheint. Wir freuen uns, einen Auszug aus dem ersten Kapitel veröffentlichen zu können, und danken dem Suhrkamp Verlag wie der Autorin für die freundliche Genehmigung.
– Die Redaktion
In diesem Kapitel werde ich die Rede von Fortschritt im Anschluss an die zeitgenössische Diskussion über moralischen Fortschritt begrifflich präzisieren und zwei erste Thesen formulieren. Die erste lautet: Fortschritt ist ein normativer Begriff sui generis. Auch wenn wir mit ihm einen Wandel zum Besseren verbinden, ist Fortschritt nicht abhängig von einem vorausgesetzten, bereits gegebenen Verständnis des Guten oder Richtigen. Der Fortschrittsbegriff trägt im Gegenteil selbst etwas zur Bestimmung dessen bei, was gut oder besser ist. Meine zweite These ist: Fortschritt ist ein Prozessbegriff. Er bezeichnet die Qualität einer Entwicklung, einen Lern- und Erfahrungsprozess und damit eine bestimmte Weise, in der gesellschaftliche Transformationen stattfinden.
Was ist moralischer Fortschritt?
Wie kommt es, dass die Institution der Sklaverei – jedenfalls als öffentlich und rechtlich anerkannte Institution – in einigen, wenn auch längst nicht allen Ländern der Welt untergegangen ist?[1] Wie kommt es, dass – bei allen Schwierigkeiten der Durchsetzung – Vergewaltigung in der Ehe heute in vielen Ländern als strafrechtlich zu verfolgendes Verbrechen aufgefasst wird,[2] während es über Jahrhunderte als das selbstverständliche Recht des Ehemanns galt, seine Frau auch gegen deren Willen und notfalls mit Gewalt „gefügig zu machen“? Und wie lässt sich erklären, dass Prügelstrafen für Kinder, die bis vor nicht allzu langer Zeit noch als selbstverständliche Erziehungsmaßnahme angesehen wurden, in unseren Gesellschaften heute verpönt und rechtlich sanktioniert, wenn auch nicht völlig verschwunden sind?
Solche und ähnliche Veränderungen werden in den letzten Jahren in der Philosophie verstärkt thematisiert und als moralischer Fortschritt untersucht.[3] Bei aller Zurückhaltung, die in der Philosophie und im echten Leben mittlerweile gegenüber der Vorstellung eines generellen oder globalen gesellschaftlichen Fortschritts besteht, scheint über solche einzelnen, in ihrer Reichweite beschränkten – lokalen oder sektorialen – Instanzen der Veränderung ein relativ breiter Konsens zu bestehen. Nur wenige Autor:innen beurteilen die beschriebenen Entwicklungen nicht als positiv. Und bei aller Skepsis ist umgekehrt die Neigung groß, Entwicklungen, die den so erreichten Zustand infrage stellen oder gar aufheben, als eine Art von Rückfall aufzufassen. Fast möchte man mit Adorno sagen: „Was man zu dieser Stunde unter Fortschritt sich zu denken hat, weiß man vag, aber genau.“[4]
Fortschritt als Wandel zum Besseren?
Wonach fragen wir nun aber eigentlich, wenn wir nach dem moralischen Fortschritt fragen? Moralischer Fortschritt ist, in erster Annäherung, der positiv bewertete Wandel der allgemein akzeptierten Auffassungen, anhand deren wir moralisch relevante Fragen des Zusammenlebens betrachten und bewerten, und die entsprechende Veränderung in der Gestaltung der Institutionen und sozialen Praktiken, die das Zusammenleben regeln. Letzteres, die Lokalisierung des moralischen Fortschritts in sozialen Praktiken, also ihre Situierung im praktisch-institutionellen Leben der Gesellschaft, ist nicht trivial. Mit ihr verbindet sich ausdrücklich die These, dass ein solcher moralischer Wandel sich, um als Fortschritt gelten zu können, praktisch manifestieren und institutionell niederschlagen muss und nicht lediglich eine Veränderung individueller Einstellungen sein darf.
Wie verbreitet und wie verbindlich die hier im Fokus stehenden Veränderungen sein müssen und in welchen Institutionen sie sich niedergeschlagen haben müssen, um als Fortschritt zu gelten, wird in der Realität allerdings eine graduelle Frage sein. So liegt es zwar nahe, die rechtliche Kodifizierung als Indikator von Fortschritt zu verstehen. Mir wird es allerdings auch um denjenigen Bereich der Veränderung von sozialen Praktiken und Lebensformen gehen, der sich weniger leicht fassen lässt: die Veränderung von Sitten, Gebräuchen, Sprechweisen und Umgangsformen, Veränderungen in den Mikrostrukturen der Gesellschaft.[5] Als Fortschritt nun wird eine solche Veränderung aufgefasst, sofern es sich nicht nur um einen Wandel überhaupt, sondern um einen Wandel zum Besseren handelt, die Verhältnisse also nicht nur anders, sondern besser werden.
Man sieht schon die Fallstricke: Ob etwas ein Fortschritt, ein Rückschritt oder keines von beidem ist, ist eine Frage der Bewertung des jeweiligen Wandels. Nicht für jede Beteiligte mag eine bestimmte Entwicklung sich als Fortschritt darstellen. Gerade am Beginn von Transformationsprozessen sind die entsprechenden Neuerungen meist heftig umstritten. Und manche Veränderung ist auf mehr als oberflächliche Weise ambivalent. Dass dieselbe Veränderung, die für die Sklav:innen ein Fortschritt war, für die Sklavenhalter:innen den Verlust von Macht und Privilegien bedeutete, ist offensichtlich. Wie umstritten die Gewaltfreiheit in der Familie in Deutschland ist, kann man noch an den jüngsten Debatten um das Recht auf gewaltfreie Erziehung und die Vergewaltigung in der Ehe sehen, in denen mit teils aggressiven Auswüchsen die Unverletzlichkeit der Privatsphäre mit suggestiv polemischen Parolen à la „Gegen die Polizei unterm Bett und den Richter im Kinderzimmer“ verteidigt wird.[6]
Fortschritt als evaluativer Begriff
Das alles zeigt: Der Fortschrittsbegriff besitzt eine evaluative Komponente. „Fortschritt“ ist nicht nur ein beschreibender, sondern auch ein bewertender Begriff. Es reicht nicht, einen Wandel zu konstatieren, etwa indem man feststellt, dass noch in den 1960er Jahren viele Klassenzimmer in Deutschland mit einem Rohrstock für die körperliche Züchtigung der Kinder ausgestattet waren, während dies heute undenkbar ist. Sofern man diesen Wandel als einen Fortschritt auffasst, affirmiert man ihn auch, bewertet ihn als gut, angemessen oder zuträglich. Man hält dann das Schlagen von Kindern für grausam, eine gewaltfreie Pädagogik dagegen für angemessen. Der bewertende, normative Aspekt ist es, der Georg Henrik von Wright dazu motiviert, die Rede vom moralischen Fortschritt in zwei voneinander unabhängige Komponenten aufzuteilen:
Fortschritt ist Wandel zum Besseren; Rückschritt ist Wandel zum Schlechteren. Die Definition teilt das Konzept in zwei Komponenten: in die Vorstellung des Wandels und die Vorstellung des Guten.[7]
Von Wright unterscheidet also den deskriptiven Aspekt, der den Wandel normfrei als Wandel beschreibt, von einem ethisch-evaluativen, der Vorstellung des Guten, anhand deren sich dieser Wandel als Wandel zum Besseren hin bewerten lässt. Ähnlich nimmt Gereon Wolters den Begriff des Fortschritts analytisch auseinander:
Phänomene sind nie als solches fortschrittlich, sondern nur unter Berücksichtigung von mindestens einem Aspekt, der aus irgendeinem Grund als „positiv“, „wünschenswert“ oder „besser“ für jemanden erscheint. „Fortschritt“ heißt, dass dieser Aspekt oder diese Aspekte sich quantitativ oder qualitativ verbessern.[8]
Nun ist eine solche analytische Unterscheidung zweier Dimensionen des Fortschrittsbegriffs vielleicht sinnvoll und der Hinweis darauf, dass Fortschritt ein normativer Begriff ist, richtig. Allerdings wäre es problematisch, daraus zu schließen, dass sich beide Aspekte, der deskriptive und der normative, tatsächlich in zwei Komponenten separieren oder unabhängig voneinander verstehen ließen. Im Gegenteil scheint es ein spezifisches Charakteristikum des Fortschrittsbegriffs zu sein, dass sich in ihm beide Momente untrennbar miteinander verschlingen. Es ist also zwar richtig, dass die Diagnose eines Fortschritts auf einer Interpretation von Ereignissen als Fortschritt beruht und dass eine solche Interpretation immer schon normativ geleitet oder imprägniert ist. Das bedeutet aber gerade nicht, dass sich ein deskriptives Moment, eine als normfrei gedachte Beschreibung des Wandels als bloßem Wandel, vom ethisch-evaluativen Moment, der Bewertung dieses Wandels als Wandel zum Besseren, ablösen lässt. Eine solche Separierung oder Dekomposition verfehlt aus meiner Sicht die Pointe des Fortschrittsbegriffs und beraubt ihn seines spezifischen Gehalts. Das gilt klarerweise hinsichtlich seiner (in der Einleitung skizzierten) politisch-historischen Semantik: Erst die Idee einer alles mitreißenden und in dieser Unwiderstehlichkeit normativ aufgeladenen Transformationsdynamik erklärt die Bedeutung des Fortschrittsgedankens für das normative Selbstverständnis einer ganzen Epoche. Aber auch der systematische Gehalt und das systematische Potenzial des Fortschrittsbegriffs, wie ich es in meiner Untersuchung herausarbeiten möchte, würde durch die Separierung in den Wandel einerseits, das Gute andererseits geschmälert.
Fortschritt gehört nämlich, meiner These nach, zur Gruppe der dichten, analytisch-deskriptiven Begriffe,[9] in denen Beschreibung und Bewertung eine unauflösliche Verbindung miteinander eingehen. In diesem Sinne ist „Fortschritt“ oder „fortschrittlich“ eine beschreibende Bewertung und eine bewertende Beschreibung, bei der das eine ohne das andere gegenstandslos wäre. Das teilt der Fortschrittsbegriff mit Begriffen wie Entfremdung, Ausbeutung, Grausamkeit oder Kitsch, also mit ebenjenen dichten (ethischen) Begriffen, von denen sich behaupten lässt, dass sie die Textur einer immer schon normativ verfassten, evaluativ eingefärbten sozialen Welt ausmachen.[10]
Nichtderivativer Charakter des Fortschritts
Diese Auffassung führt uns nun aber direkt zum oben erwähnten Problem der normativen Eigenständigkeit des Fortschrittsbegriffs. Die Trennung der beiden Dimensionen, des Wandels und des Guten, läuft nämlich auf eine Priorisierung des normativen Aspekts hinaus, auf das, was man einen „Vorrang des Guten vor dem Fortschritt“ nennen könnte. Um über Fortschritt zu sprechen – und auch um das Bessere vom Schlechteren zu unterscheiden –, müssten wir, wenn wir die Komponenten so trennen wollen, wie von Wright es vorschlägt und wie es auch den Versuchen, den Fortschrittsbegriff deontologisch zu verstehen, zugrunde liegt,[11] zunächst wissen, was das Gute ist, auf das der Wandel zustrebt. Das Gute wäre der Sollzustand, in Bezug auf den die jeweiligen Istzustände vergleichbar werden, wodurch dann eine bestimmte Bewegung als Fortschritt erkennbar wird. Damit wird vorausgesetzt, dass sich das Gute unabhängig vom Fortschritt bestimmen lässt oder dass es schon bestimmt ist, wir also schon wissen, was das Gute ist, wenn wir über Fortschritt sprechen. Genau in diesem Sinne hätte die Bestimmung des Guten Priorität gegenüber dem Fortschrittsgeschehen. Fortschritt wäre der normativen Position gegenüber derivativ, von dieser nur abgeleitet. Fortschritt ist dann „kein normativer Begriff aus eigenem Recht“,[12] wie Rainer Forst es konsequenterweise ausdrückt.
Das klingt vielleicht intuitiv einleuchtend. Woher sollte man auch wissen, ob eine Veränderung einen Fortschritt bedeutet, ohne vorher ein erstrebenswertes Ziel, das dieser Veränderung eine Richtung gibt, auszumachen? Dass man allerdings mit einem solchen Zugang zum Thema auch etwas verliert, sieht man, wenn man auf die oben skizzierten Beispiele zurückgeht. Behandelt man Fortschritt als normativ derivativen Begriff, so geht die Feststellung, dass die Abschaffung der Sklaverei oder die gewaltfreie Erziehung ein Fortschritt ist, problemlos auf in der Behauptung, dass ebendieser erreichte soziale Zustand (moralisch) gut oder richtig ist. Umgekehrt würde – und an diesem Fall kann man sich vielleicht noch besser klarmachen, was dann fehlte – die These, dass es sich beim Faschismus oder beim zeitgenössischen Autoritarismus um Regression handelt, aufgehen in der These, dass er moralisch böse oder schlecht ist. Damit wäre aber das, was eine solche Diagnose ausmacht, der normative und deskriptiv-analytische Reichtum des Fortschrittsbegriff und seine spezifische Deutungsmacht, verloren. Fortschritt wäre, statt dynamisch als spezifische Form eines Transformationsprozesses zum Guten aufgefasst zu werden, auf eine statische normative Frage reduziert. Dem Bewegungsmoment, dem temporalen Charakter des Begriffs käme dann keine eigene normative Bedeutung zu. Letztlich wäre der Begriff des Fortschritts dem Begriff des Guten gegenüber geradezu redundant und für unser normatives Vokabular eigentlich überflüssig; die Aussage „das ist ein Fortschritt“ enthielte gegenüber der Aussage „Es ist gut oder richtig, dass es so ist“ keine relevante Zusatzinformation.
Während also der Fortschrittsbegriff in einem deontologischen Rahmen kein normativer Begriff eigener Geltung ist, kommt ihm meinem geschichtsphilosophisch inspirierten Verständnis zufolge normativ fundierender Charakter zu. Meine Behauptung ist: Fortschritt ist ein normativer Begriff sui generis, aus eigenem Recht; und er ist dies als ethisch dichter Prozessbegriff.
Der erste Schritt zur Verteidigung von Fortschritt als einem solchen normativem Begriff sui generis ist nun die Verabschiedung der Vorstellung, dass Fortschritt, um als solcher gelten zu können, ein klar definiertes Ziel braucht.
Der Vorrang des Fortschritts vor dem Guten
Eine hartnäckige Auffassung von Fortschritt suggeriert, dass dieser von einer (vorherigen) Bestimmung des Ziels abhängt. Fortschritt – ja schon! Aber in Bezug auf was? Fortschritt – aber wohin? Diese Auffassung ist freilich nicht alternativlos. Wir sollten Fortschritt, so behauptet der amerikanische Philosoph Philip Kitcher, weniger als Fortschritt (hin) zu (einem Ziel) denn als Fortschritt (weg) von (einem Problem) verstehen.
Fortschritt ohne Ziel
Ob ich auf einer Wanderung den richtigen Weg verfolge oder mich verlaufen habe, wird sich nur entscheiden lassen, wenn ich weiß, wohin ich will. Ich nähere mich dann fortschreitend dem Berggipfel an – oder eben nicht. Auf dem Weg von der Talstation zum Gipfel sind entsprechend die Abschnitte t1, t2 und t3 Etappen auf dem Weg zum Gipfel, und der Fortschritt bemisst sich an der geringer werdenden Entfernung vom Ziel. Beeinträchtigt ist der Fortschritt dieser Auffassung nach, wenn ich aufgebe und zurückgehe oder wenn ich, mich verirrend, einen Umweg mache.
So stellen sich manche den Fortschritt vor. Und natürlich gibt es Fälle, in denen diese Annahme eines Ziels auf den ersten Blick sehr einleuchtend und ganz unproblematisch ist: Offenkundig kann ich mir Ziele setzen, in Bezug auf die ich Fortschritte definiere. Wenn ich mir vornehme, den Gipfel zu erreichen, dann ist jeder erwanderte Kilometer ein Fortschritt auf dem Weg zum Ziel. Meine Lauf-App verzeichnet unter dem Titel „Fortschritt“, wie viele Kilometer ich bereits gegangen oder gejoggt bin hinsichtlich des von mir (oder der App selbst?) gesetzten wöchentlichen Ziels. Schon diese erste Plausibilität aber ist trügerisch: Wenn ich plötzlich auf den Gipfel gebeamt würde oder ein Helikopter mich geholt hätte, wäre ich zwar angekommen, hätte aber keinen Fortschritt gemacht.
Beim wissenschaftlich-technischen Fortschritt zeigt sich noch deutlicher, dass die an Wanderweg, Berggipfel und Ermunterungs-App angelehnte Vorstellung irreführend ist. Derjenige, der die ersten Lochkartensysteme entwickelt hat, hatte nicht bereits das Ideal eines PCs oder einer modernen Großrechenanlage vor Augen, der Erfinder des Telefons nicht das heutige Smartphone. So unbezweifelbar sich die Erfindung des Rads im Nachhinein als unverzichtbarer (Fort-)Schritt auf dem Weg zum Formel-1-Rennwagen darstellt, so wenig war sie geleitet von dem Streben nach dem bereits bekannten Ziel der modernen Rennfahrerei. Auch der Weg vom Verzehr rohen Fleisches zur Sous-vide-Methode der gehobenen Küche oder der von der Höhle zum Wolkenkratzer wurde gegangen, ohne dass ein Ziel bekannt gewesen hätte sein können.
Viel besser lassen sich diese Vorgänge verstehen, wenn man sie als (fortschreitende) Problemlösungen auffasst, in denen sich, getrieben von Problemen, eines aus dem anderen entwickelt. Das rohe Fleisch war zäh und unbekömmlich, darum hat man in manchen kulinarischen Kulturen begonnen, es zu braten oder zu marinieren, und hat die entsprechenden Zubereitungstechniken verfeinert, aber auch den Gegebenheiten angepasst. Sauberes Trinkwasser war im europäischen Mittelalter rar, also braute man Bier.[13] Die bebaubare Fläche in Manhattan war vergleichsweise klein, dafür war der Untergrund fest, deshalb baute man Hochhäuser. Zur Lösung bestimmter, unter anderem kriegstechnischer Probleme war man auf die Verarbeitung großer Datenmengen angewiesen, deshalb hat man an der Verdichtung beziehungsweise Vergrößerung der Speicherkapazität und der Verbesserung der Prozessoren gearbeitet, ohne zu wissen, wo das enden würde. Technisch-wissenschaftlicher Fortschritt hangelt sich also von Problem zu Problem, er ist getrieben durch Situationen, in denen man etwas besser machen will oder muss, in denen sich die Möglichkeit dazu ergibt und in denen gegebenenfalls jemand eine Idee zur Problemlösung hat, die sich als produktiv und machbar erweist. Eben aus diesem Grund ist Fortschritt, um auf die griffige Unterscheidung Philip Kitchers zurückzukommen, nicht Fortschritt zu, sondern Fortschritt von.[14]
Das ist nun, so jedenfalls meine These, beim sozialen Fortschritt nicht anders. Auch dieser ist Resultat des Auftretens von Problemen und den entsprechenden Problemlösungsprozessen, aus denen sich jeweils neue Probleme und, wenn es gutgeht, neue Lösungen ergeben. Auch hier ist das endgültige Ziel nicht von vornherein bekannt. Fortschritt wird dann nicht von einem Ziel, auf das er zulaufen soll, angezogen oder geleitet, sondern ist von Problemen hervorgetrieben: ein Fortschritt weg vom Schlechten, hin zu einem Besseren, ohne dass Letzteres von vornherein schon klar bestimmt wäre und ohne dass der Prozess an ein vorhersehbares Ende kommen könnte. Mit dem spanischen Dichter Antonio Machado kann man sagen: „Ein Weg entsteht, wenn man geht.“[15]
Hier korrespondiert das pragmatistisch inspirierte Verständnis des Fortschritts als Fortschritt von, weit davon entfernt, die Idee des Fortschritts zum bloß pragmatischen Sich-Durchlavieren zu deflationieren, mit dem Negativismus der Kritischen Theorie und auch mit dem, was man mit Hegel als dialektisches Verständnis von Erfahrungsprozessen auffassen kann. Gegenüber der landläufigen Hegel-Lektüre, dem „lazy reading“,[16] wie Terry Pinkard es nennt, ist nämlich auch der dialektische Erfahrungsprozess, so beschreibt es Fred Neuhouser für Hegels Phänomenologie des Geistes und in Bezug auf die Entfaltung der Idee der Freiheit, nicht ein Vorlauf auf ein bereits bekanntes Ziel. Hegels Argument „beginnt nicht mit einem vollkommen determinierten Verständnis davon, was es für ein Subjekt bedeutet, frei zu sein, und deduziert dann, mit diesem Verständnis im Kopf, die Konditionen, die erfüllt werden müssen, damit freie Subjektivität möglich ist.“[17] Im Gegenteil, „ein vollständiges Verständnis […] ergibt sich erst am Ende“, und zwar in dem Maße, in dem es verwirklicht wird.[18]
In einem entscheidenden Sinn existiert auch bei Hegel die Freiheit nicht schon bevor sie sich in der Entfaltung durch Widerstände hindurch realisiert und artikuliert. Im Prozess eines so gedachten Wandels zum Besseren passiert also mehr als die bloße Überwindung einer Strecke und auch mehr als die Überwindung von Hindernissen auf ein bekanntes Ziel hin. Auch für Hegel ist die Geschichte dann nicht, wie Dewey es ihm (fälschlich) vorwirft, die bloße Entfaltung des bereits Vorhandenen hin zu einem Ziel;[19] es entfaltet sich vielmehr in einem solchen Prozess auch das Ziel selbst.
Der Vorrang des Fortschritts
Wenn nun der Fortschritt mehr problemgetrieben als zielabhängig ist, dann gibt es auch kein unabhängiges Gutes, das ihn erst begründet und den Wandel somit zum Fortschritt macht. Man braucht dieses unabhängige Gute aber, so scheint es, auch nicht mehr. Das Verhältnis vom Guten zum Fortschritt lässt sich dann geradezu umdrehen: Wir verstehen nicht erst, was der Fortschritt ist, wenn wir das Gute verstehen; wir verstehen, was das Gute ist, wenn wir den Fortschritt verstehen. Der Fortschritt bekommt die Priorität gegenüber dem Guten.
Für einen solchen Vorrang des Fortschritts spricht sich der Wissenschaftstheoretiker Larry Laudan innerhalb der in den 1970er Jahren geführten Diskussion über den Fortschritt in den Wissenschaften aus, die sich in Analogie zu der Diskussion über moralischen oder sozialen Fortschritt setzen lässt.[20] Ist in herkömmlichen Konzepten Fortschritt abhängig oder sogar, wie Laudan sagt, „parasitär“ gegenüber dem Wahren, so lässt sich im pragmatistischen Geist dieser Vorrang des Wahren vor dem Fortschritt umkehren:
Ich bin zutiefst beunruhigt von der Einstimmigkeit, mit der Philosoph:innen den Fortschritt parasitär zur Rationalität machen. […] Es wird hier die Annahme verfolgt, dass wir vielleicht etwas lernen können, indem wir die mutmaßliche Abhängigkeit des Fortschritts von der Rationalität umkehren.[21]
Rationalität in der Wissenschaft ist dann, was Resultat eines wissenschaftlichen Fortschrittsprozesses ist, und nicht umgekehrt Fortschritt das, was sich der Rationalität nähert. Das bedeutet eine entschiedene Neujustierung der Fragestellung, die sich in der Alternative zwischen verschiedenen Formen des Relativismus sowie der Skepsis gegenüber wissenschaftlichem Fortschritt einerseits und einem universalistischen Festhalten an der rationalen Begründbarkeit wissenschaftlichen Fortschritts andererseits verfangen hatte. Fortschritt – auch von Laudan verstanden als Problemlösungsprozess – wird dann fundierend für Rationalität, und zwar gerade deshalb, weil sich Rationalität gar nicht unabhängig von der Entwicklung, in der sie einen bestimmten Punkt markiert, also unabhängig von ihrem historischen Gewordensein bestimmen lässt. Laudan schreibt:
In einem Satz lautet mein Vorschlag, dass Rationalität darin besteht, die progressivsten theoretischen Entscheidungen zu treffen, Fortschritt aber nicht darin besteht, nach und nach die rationalsten Theorien zu akzeptieren.[22]
Wenn Rationalität sich aber am Fortschritt beziehungsweise am Fortschreiten bemessen soll und nicht Fortschritt an der Rationalität, dann hat Rationalität selbst „einen Zeitkern“:[23]
Fortschritt ist unvermeidbar ein zeitliches Konzept; von wissenschaftlichem Fortschritt zu reden beinhaltet notwendigerweise die Idee eines sich über eine Zeitspanne hinweg ereignenden Prozesses. Rationalität, auf der anderen Seite, ist vornehmlich als ein atemporales Konzept gesehen worden; es wurde behauptet, dass wir unabhängig von Kenntnissen über ihr historisches Gewordensein feststellen können, ob eine theoretische Aussage rational glaubwürdig ist.[24]
Dieselbe pragmatistisch inspirierte Umkehr schlägt nun Philip Kitcher im Bereich des Ethischen vor: „Ethischer Fortschritt ist ethischer Wahrheit vorgelagert und Wahrheit ist das, was man bekommt, sofern man fortschreitet.“[25] Der normative Index der infrage stehenden Transformation zehrt dann nicht vom Begriff des Guten. Es verhält sich genau andersherum: Das Gute zehrt von der fortschrittlichen Transformation. Das Gute (und die Möglichkeit einer Bestimmung des Guten) ist Resultat des Fortschrittsprozesses, der fortschrittlichen Entwicklung, nicht der Fortschritt sichtbar als Annäherung an das Gute. Dafür gibt es auch in Bezug auf den sozialen Fortschritt einen Grund, der dem ähnelt, was Laudan hinsichtlich der Wahrheit vermutet: Vielleicht wissen wir mehr über den Fortschritt als über das Gute. Das liegt möglicherweise daran – und hier trifft sich die Position mit dem Negativismus, wie ihn beispielsweise Adorno vertritt –, dass wir wissen, was die Probleme sind, dass wir wissen, was das Schlechte ist, das wir überwinden sollten, ohne dass dem auf der anderen Seite ein bereits bestimmtes Wissen vom Guten entspricht. „Aber was das Unmenschliche ist, wissen wir sehr genau.“[26] Vielleicht ist es leichter und auch fruchtbarer, herauszufinden, ob wir (in der Bekämpfung des Schlechten) voran- oder zurückschreiten, als ein absolutes Gutes, also das Ziel dieser Bewegung, auszumachen. Auch in der festgefahrenen Debatte über die Bestimmbarkeit des Guten (die ebenso vom Gespenst des Relativismus bedroht ist wie die erwähnte wissenschaftstheoretische Diskussion) bietet also die Orientierung am Prozess, der sich als besondere Form von fortschreitendem Problemlösungsprozess beschreiben lässt, einen Ausweg.[27]
„Fortschritt“ ist dann, sozialphilosophisch (und, bei allen Vorbehalten, geschichtsphilosophisch) ausbuchstabiert, nicht irgendein Begriff unter anderen; und der fortschrittliche oder regressive Charakter sozialer Transformationsprozesse ist nicht irgendein philosophisches Problem unter anderen. Er hat fundierenden Charakter – oder vielleicht besser: Er tritt an die Stelle eines (deontologisch verstandenen) normativen Fundaments.
Fortschritt als Lern- und Erfahrungsprozess
Vielleicht ist dann die Frage „Was ist Fortschritt?“, mit der ich dieses Kapitel überschrieben habe, als Frage nach dem Fortschritt im substantivischen Verständnis gar nicht richtig gestellt. Richtig verstanden geht es um die Möglichkeit progressiver Transformation, um den fortschrittlichen sozialen Wandel, also um Fortschritt im adjektivischen Sinne. Was uns in diesem Zusammenhang interessiert, ist dann weniger das Resultat, das erreichte Gute, als vielmehr die Möglichkeit, fortschrittliche Übergänge von einem zu einem anderen (gesellschaftlichen) Zustand zu identifizieren.
Wenn das, was normativ ein Fortschritt ist, also eine Qualität ist, die nicht aufgeht in der Bewertung eines Effekts, dann ist es der Prozess selbst, auf den es ankommt. Es ist also der jeweilige Erfahrungs- oder Lernprozess, der von der Interpretationsfigur des Fortschritts her bewertet, für angemessen oder unangemessen, gut oder schlecht befunden wird – oder eben: für progressiv oder regressiv. Selbst nämlich in den einfachen Fällen, in denen, wie oben beschrieben, ein bestimmbares Ziel vorhanden ist, geht, wie ich bereits angedeutet hatte, die Rede vom Fortschritt im Erreichen eines Ziels nicht auf. Als Fortschritt bewertet man nicht lediglich einen Effekt, sondern den Weg zu diesem.
Lernen
Mit dem Fortschritt verbindet sich nämlich die Idee des Lernens, der Entwicklung oder der Erfahrung. Nehmen wir an, ich wachte morgens auf und könnte plötzlich fliegen. Selbst wenn das Fliegenkönnen einer meiner langgehegten Wünsche wäre, wäre es wohl kaum richtig, zu sagen, ich hätte über Nacht hinsichtlich meiner Flugkünste unerwartete Fortschritte gemacht. Das liegt daran, dass ich schwerlich über Nacht fliegen gelernt haben werde. Solche unverbundenen und unerwarteten Veränderungen sind aber nicht nur wenig wahrscheinlich, sowohl in Bezug auf individuelle Vermögen als auch in Bezug auf gesellschaftliche Transformationen. Man sieht an diesem Beispiel auch, was mit der Behauptung gemeint ist, dass Fortschritt oder Fortschrittlichkeit nicht in der Bewertung eines Effekts aufgeht. Entscheidend ist hier das Folgende: Fortschritt hat eine zeitliche Dimension, ist als Bewegungsbegriff ein „Prozess, der sich über eine Zeitspanne hinweg ereignet“.[28] Und mehr noch: Diese Zeitspanne ist keine „homogene und leere Zeit“,[29] nicht einfach nur eine zu durchschreitende Spanne von diesem (früheren) zu jenem (späteren) Zeitpunkt, sondern eine, in der etwas geschieht, in der die Elemente des Geschehens sich aufeinander beziehen, auseinander hervorgehen und das Geschehen sich im besten Fall als Erfahrung oder zu einer Erfahrung anreichert. Wenn wir im emphatischen Sinn etwas lernen oder erfahren, sind wir hinterher nicht die gleichen wie vorher. Im individuellen Fall bedeutet „Lernen“, dass einzelne Fertigkeiten erworben werden, die aufeinander aufbauen und eingeübt werden müssen.[30] Und „eine Erfahrung machen“ beinhaltet, von etwas affiziert zu werden, das einen Veränderungsprozess auslöst, in dem ebenjene Erfahrung angeeignet wird.[31] Die Bewegung – das Fahren – steckt hier schon im Wort. Ähnliches lässt sich, mit einiger Vorsicht, auch hinsichtlich sozialer, kollektiver und historischer Prozesse annehmen.
Man sieht jetzt noch einmal den Unterschied zu den oben von mir kritisierten normativistischen[32] Positionen: Dass der erfolgreiche Kampf gegen die Sklaverei (genauer: die chattel slavery in den USA) einen Fortschritt markiert, meint dann etwas anderes, als dass die Abschaffung der Sklaverei gut oder moralisch richtig ist. Mit der Interpretation als Fortschritt ist nicht ein Zustand, sondern die progressive oder auch emanzipative Entwicklung gemeint. (Ein Indiz dafür ist, dass dieser Kampf sich in weiteren Emanzipationsbewegungen von der Bürgerrechtsbewegung bis hin zur zeitgenössischen Black Lives Matter-Bewegung fortgesetzt hat, ja fortsetzen musste, aber eben auch konnte.) Und umgekehrt: Mit der Analyse des Faschismus oder auch mancher zeitgenössischen Erscheinung als Regression ist nicht (nur) gemeint, dass es sich hier um eine Instanz des moralisch Bösen handelt, sondern, dass es sich um eine (Fehl-) Entwicklung handelt, in der auf fatale Weise Krisen nicht bearbeitet werden können, also um eine systematische Erfahrungs- und Lernblockade. Entsprechend ist denkbar, dass im sozialen Leben etwas Erstrebenswertes passiert, das nicht oder jedenfalls nicht selbst Resultat einer Fortschrittsentwicklung ist. Natürlich wären die Abschaffung der Sklaverei, das Ende der institutionell legitimierten Gewalt in der Ehe oder der Sieg über den Faschismus rein normativ betrachtet auch dann richtig, wenn sie vom Himmel gefallen oder durch Mächte from outer space herbeigeführt worden wären. Der erreichte Zustand wäre sogar dann begrüßenswert, wenn er nur eine nichtintendierte Nebenfolge einer auf ganz andere Ziele gerichteten Veränderung gewesen wäre. Aber die eingetretene Veränderung wäre dann eben nicht das Resultat einer gesellschaftlichen Fortschrittsentwicklung. Es gibt also nicht nur Veränderungen, die keine Veränderungen zum Besseren sind, sondern auch ein Eintreten des Besseren, das kein Fortschritt ist.[33]
Die Form des Wandels
Fortschritt ist also nicht bloß Wandel – der ja auch eine bloß kausale Abfolge von Ereignissen sein könnte – und auch nicht schlicht der als solcher normativ unbestimmte Vorlauf auf das Gute. Vielmehr ist Fortschritt eine bestimmte Art von Lern- oder Erfahrungsprozess. Fortschrittlichkeit ist dessen besondere Qualität. Wenn dem aber so ist, dann kann man die normativen Maßstäbe für den Fortschritt gar nicht ohne Bezug auf die Form dieses Wandels ausweisen. Nicht jede Art von Wandel ist fortschrittlich, das ist trivial. Nicht trivial ist aber, dass sich die Fortschrittlichkeit des Wandels nicht an seinem Ziel bemisst – etwa dass er auf Wohlstand oder soziale Gerechtigkeit gerichtet ist –, sondern an seiner Qualität selbst. Fortschrittlich ist dann eine bestimmte Art des Wandels, nämlich eine solche, die man als sich anreichernden Lern- oder Erfahrungsprozess bezeichnen kann. Wenn andererseits manche Arten des Wandels als regressiv gelten können, dann deshalb, weil sie gekennzeichnet sind von Effekten des Verlernens[34] und der reaktiven Abschottung gegen Erfahrungen. Wenn aber Fortschritt, kurz gesagt, nicht nur die Richtung einer Bewegung markiert, sondern auch ihre Qualität, dann eröffnet sich die Möglichkeit einer immanenten Bewertung der Fortschrittsbewegung, die keinen a priori gesetzten Maßstab benötigt. Fortschritt hat dann nicht nur einen eigenen normativen Gehalt (so wie eben auch das Lernen oder die, mit einem Lieblingsbegriff Adornos gesagt, „unreduzierte Erfahrung“[35] einen solchen hat). In diesem normativen Verständnis von Fortschritt zeigt sich vielmehr auch, dass es sich um eine andere Art von Normativität handelt, als diejenigen im Blick haben, die den Fortschritt für eine gegenüber der Bestimmung des Guten derivative Größe halten und deshalb externe Kriterien an ihn herantragen müssen. Es geht also um mehr als nur um die Umkehrung der Prioritäten. Durch diese verändert sich das Verständnis von Normen und der Art und Weise, wie Normen wirken und begründet werden können, selbst.
Fußnoten
- Dass die Institution der Sklaverei als anerkannte gesellschaftliche Institution untergegangen ist, gilt auch dann noch, wenn alle Evidenzen dafür sprechen, dass moderne Formen der Sklaverei in Form von Zwangsprostitution, Menschenhandel, der Rekrutierung von Kindersoldaten und des US-amerikanischen Gefängnissystems fortbestehen. Siehe zu Letzterem Michelle Alexander, The New Jim Crow. Masseninhaftierung und Rassismus in den USA, München 2016. Der renommierte Sklaverei-Forscher Kevin Bales schätzt, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts mindestens 27 Millionen Menschen in sklavereiähnlichen Verhältnissen leben. Vgl. Kevin Bales, Die neue Sklaverei, München 2001, S. 20. So richtig es sein mag, hier von „Sklaverei“ zu sprechen, so fatal wäre es doch, die Unterschiede einzuebnen, die die Sklaverei als rechtlich-sittlich anerkannte Institution von derjenigen „modernen Sklaverei“ trennt, die sich, eben weil die Sklaverei mittlerweile nirgendwo auf der Welt mehr legal ist, unter dem Deckmantel von beispielsweise Schuldverträgen oder eben Strafvollzugssystemen abspielt.
- Die Vergewaltigung in der Ehe war vorher natürlich nicht direkt erlaubt. Es gab aber per definitionem keine Vergewaltigung in der Ehe, da Vergewaltigung (in Deutschland) bis 1997 als „außerehelich“ definiert war. Das Recht von Kindern auf „gewaltfreie Erziehung“ ist in Deutschland erst seit 2001 in Kraft.
- Vgl. u. a. Elizabeth Anderson, »The Social Epistemology of Morality. Learning from the Forgotten History of the Abolition of Slavery«, in: Miranda Frik- ker, Michael Brady (Hg.),The Epistemic Life of Groups. Essays in the Epistemology of Collectives, Oxford 2016, S. 75-94; dies., Social Movements, Experiments in Living, and Moral Progress. Case Studies from Britain’s Abolition of Slavery, Lawrence 2014; Kwame Antony Appiah, Eine Frage der Ehre, oder: Wie es zu moralischen Revolutionen kommt, München 2011; Michelle Moody-Adams, “The Idea of Moral Progress”, in: Metaphilosophy 30:3 (1999), S. 168-185; Philip Kitcher, The Ethical Project, Cambridge, London 2011.
- Theodor W. Adorno, »Fortschritt«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt/M. 1977, S. 617-638, hier S. 617.
- Die rechtliche Kodifizierung lässt sich einerseits als Ausdruck und Resultat des gesellschaftlichen Wandels, der veränderten Sittlichkeit oder der Veränderung von Lebensformen als einem Geflecht von Praktiken und Institutionen verstehen. Andererseits aber beeinflusst rechtliche Kodifizierung diesen Wandel. Es gibt also Einflussverhältnisse in beide Richtungen. Diese wechselseitige Beeinflussung beider Bereiche – des Rechts und des Praxis- und Normgefüges einer Gesellschaft – ist ein wichtiger Punkt, den ich hier jedoch nicht vertiefen kann.
- Die Umstrittenheit des Sexualstrafrechts bezeugt Sabine Rückert, „Das Schlafzimmer als gefährlicher Ort«, in: Die Zeit 28 (2016), online unter 〈https://www.zeit.de/2016/28/sexualstrafrecht-verschaerfung-kritik〉, letzter Zugriff 13. 11. 2022.
- Georg Henrik von Wright, “Progress. Fact and Fiction”, in: Arnold Burgen u. a. (Hg.), The Idea of Progress, Berlin, Boston 1997, S. 1-18, hier S. 1.
- GereonWolters, “The Idea of Progress in Evolutionary Biology. Philosophical Considerations”, in: Arnold Burgen u. a. (Hg.): The Idea of Progress, Berlin, Boston 1997, S. 201-218, hier S. 201.
- Zum Verständnis von solchen „dichten Begriffen“ (thick concepts), vgl. u. a. Bernard Williams, Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg 1999, S. 181-185. Zur Debatte über die metaethischen Konsequenzen der Annahme von werthaltigen Fakten siehe u. a. Hilary Putnam, „Werte und Normen“, in: Klaus Günther, Lutz Wingert (Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 2001, S. 280-313. Zur Durchdringung von analytischen und deskriptiven Elementen als Teil eines immanent-kritischen Vorgehens vgl. Rahel Jaeggi, „Was ist Ideologiekritik?“, in: dies.,TiloWesche (Hg.),Was ist Kritik?, Frankfurt/ M. 2009, S. 266-298, hier S. 281-283, und Rahel Jaeggi, Robin Celikates, Einführung in die Sozialphilosophie, München 2017, S. 17-20.
- Eine normfreie, neutrale Beschreibung der sozialen Welt, zu der die Wertung dann erst nachträglich hinzukommt, ist aus dieser Sicht nicht plausibel. Interessanterweise konvergieren ansonsten sehr unterschiedliche philosophische Positionen im Bemühen darum, die Dominanz einer empiristischen Weltsicht, die auf der Annahme einer normativ neutralen Welt beruht, zu brechen. Siehe dazu: Alice Crary, Inside Ethics. On the Demands of Moral Thought, Cambridge, London 2016, bes. Kap. 1: “Outside Ethics. Tracing a Trend in Contemporary Moral Philosophy”, S. 10-35. Zur Konvergenz dieser Positionen mit dem Antipositivismus der Kritischen Theorie siehe auch: dies., “The Methodological is the Political.What’s the Matter with ,Analytic Feminism‘?“, in: Radical Philosophy 202 (2018), S. 47-60.
- Eine solche Deontologisierung des Fortschrittsverständnisses verfolgen aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Perspektiven Rainer Forst, „The Justification of Progress and the Progress of Justification“, in: Amy Allen, Eduardo Mendieta (Hg.), Justification and Emancipation. The Political Philosophy of Rainer Forst, University Park 2019, S. 17-37, und Christian Thies, „Kants Geschichtsphilosophie aus heutiger Sicht“, in: Olivier Ayard, Françoise Lartillot, Kant, L’Anthropologie et L’Histoire, Paris 2011, S. 35-49.
- Forst, »The Justification of Progress and the Progress of Justification«, S. 20.
- In Korea begegnete man demselben Problem, indem man Suppen herstellte, was deutlich macht, dass es für dasselbe Problem unterschiedliche Lösungen, funktionale Äquivalente zur Lösung eines Problems, geben kann. Dank an Josefine Berkholz für diesen Hinweis.
- Vgl. Kitcher, The Ethical Project, und ders., Moral Progress, New York, Oxford, 2021.
- Vgl. Antonio Machado, »CXXXVI Proverbios y cantares«, in: ders., Campos de Castilla. Kastilische Landschaften 1907-1917, Zürich 2001, S. 219. Im Original: “Caminante, no hay camino/se hace camino al andar./Al andar se hace el camino.”
- Terry Pinkard, Does History Make Sense? Hegel on the Historical Shape of Justice, Cambridge, London 2017, S. 2.
- Fred Neuhouser, “Desire, Recognition, and the Relation between Bondsman and Lord”, in: Kenneth R.Westphal (Hg.), The Blackwell Guide to Hegel’s Phenomenology of Spirit, Oxford, Malden 2009, S. 37-54, hier S. 39.
- Ebd.
- Vgl. Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014, S. 353-354.
- Maßgeblich für diese Diskussion innerhalb der Wissenschaftstheorie ist immer noch die durch Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1967, Imre Lakatos, „Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes“, in: ders., Alan Musgrave (Hg.), Criticism and the Growth of Knowledge. Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science, Cambridge 1970, S. 91-196, und Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt/M. 1976 angeregte Debatte. Zu Laudans Position siehe Larry Laudan, Progress and its Problems. Towards a Theory of Scientific Growth, Berkeley, Los Angeles 1977.
- Ebd., S. 5f.
- Ebd., S. 6.
- So formulieren es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, wenn auch in einem ganz anderen Kontext und mit anderen Implikationen. Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt/M. 1981, hier S. 9.
- Laudan, Progress and its Problems, S. 5.
- Vgl. Kitcher, The Ethical Project, S. 139, S. 210 u. S. 239; “fortschreitet” im Original: making progressive steps.
- Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt/M. 2010, S. 261.
- Es wird dann von entscheidender Bedeutung sein, wie man die Temporalität und Historizität des infrage stehenden Transformationsprozesses (und damit dann auch die Historizität des Guten) genau versteht. Wir werden in Kap. 4 und 5 sehen, wie sich in Bezug auf diesen eine dialektisch-pragmatistische Position des fortschrittlichen Wandels als Anreicherungsprozess (wie meine) von einer naturalistisch-pragmatistischen Position (wie der Kitchers) unterscheidet und dass die entsprechenden Problemlösungsprozesse im Modus bestimmter Negation als dialektisches Anreicherungsgeschehen aufgefasst werden müssen, um in normativer Hinsicht aussagekräftig zu sein.
- Laudan, Progress and its Problems, S. 5.
- Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I: Abhandlungen, Frankfurt/M. 1980, S. 691–704, hier S. 701 (These XIV).
- Zur genaueren Ausarbeitung eines pragmatistisch inspirierten Verständnisses von Lernen siehe auch Jaeggi, Kritik von Lebensformen, insb. Kap. 7.1., S. 321–327. Zum Theorem der Lernblockade siehe ebd., Kap. 7.3., S. 332–337.
- Ich füge hier „Erfahrung machen“ und „Lernen“ eng zusammen, weil aus meiner Sicht auch das Erfahren nicht als passives Affiziertwerden aufgefasst werden sollte und umgekehrt das Lernen problemgetrieben und kein rein kognitiver Vorgang ist. Hier liegt womöglich eine Differenz zu Christoph Menke, Theorie der Befreiung, Berlin 2022.
- Zur Unterscheidung von normativ und normativistisch vgl. Michael Theunissen, „Möglichkeiten des Philosophierens heute“, in: ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/M. 1991, S. 13–36, hier S. 31.
- Man kann realgeschichtlich bezweifeln, ob sich ein auf diese Weise herbeigeführter Zustand auf Dauer halten kann, ohne mindestens nachträglich eine solche Entwicklung zu vollziehen. Der Umstand, dass in Deutschland der Sieg über den Nationalsozialismus ja tatsächlich gewissermaßen vom Himmel gefallen ist und nicht Resultat eines siegreichen Umsturzes durch innergesellschaftliche Kräfte war, ist in diesem Zusammenhang lehrreich. Tatsächlich konnte und musste in diesem Fall der eigentliche Lernprozess und damit auch fortschrittliche Überwindung eines zutiefst durch den NS und seine Vorgeschichte geprägten gesellschaftlichen Einstellungs-, Praxis und Institutionengefüges nachträglich vollzogen werden. Gab es dazu in diesem Fall keine Alternative und mussten durch eine Intervention von außen überhaupt erst einmal die Vorbedingungen für eine solche Entwicklung geschaffen werden, so lässt sich an anderen Versuchen, soziale Transformationsprozesse zu organisieren, etwa Demokratisierungsprozesse, immer wieder studieren, dass diese umso besser gelingen, je mehr sie an genuine innergesellschaftliche Prozesse, Entwicklungen und Bewegungen anknüpfen können.
- Wenn ich mich hier positiv auf das Lernen oder die Erfahrung beziehe und negativ von Lernblockaden und dem systematischen Verlernen spreche, meine ich damit klarerweise nicht das Unlearning, das in der dekolonialen Debatte prominent eingefordert wird.Vgl. zum Beispiel MadinaV.Tlostanova, Walter Mignolo, Learning to Unlearn. Decolonial Reflections from Eurasia and the Americas, Columbus 2012. Hier geht es um die erfahrungsbeschränkenden Verflechtungen mit den eingeübten kolonialen Sichtweisen, die verlernt werden sollen. Lernen, so wie ich es hier verstehe, würde eine solche Art des Verlernens gerade beinhalten. Anders gesagt: Der von Mignolo geforderte Prozess des Verlernens ist meinem Verständnis nach ein Prozess des Abarbeitens epistemischer Blockaden, der Teil eines gelingenden Lern- und Erfahrungsprozesses wäre.
- Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/M. 1973, S. 25.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Feminismus Gesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Kritische Theorie Philosophie Sozialer Wandel
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