Sven Reichardt | Essay | 08.05.2025
Was ist Postfaschismus?
I.
[1]Der einflussreiche Philosoph Jason Stanley, bislang an der Yale University lehrend, wird zusammen mit dem bekannten Osteuropahistoriker Timothy Snyder und dessen Frau Marci Shore, ebenfalls Osteuropahistorikerin, die US-amerikanische Eliteuniversität in Richtung der kanadischen Munk School der Universität Toronto verlassen. Aus Protest und als Signal, wie Stanley sagte, gegen Trump, der Universitäten mit Antisemitismusvorwürfen gängele und mit finanziellen Druckmitteln erpresse. Auf die Frage, ob er gegenwärtig von „faschistischen Zuständen“ in den USA sprechen würde, antwortete er ebenso knapp wie entschieden: „Ja, natürlich“. Er sieht keine anderen, keine treffenderen Begriffe: „Trump ist ein Faschist, seine Bewegung ist faschistisch“.[2]
Dass die Dinge dann doch nicht ganz so eindeutig liegen, zeigen die Einlassungen eines der führenden Faschismusforscher. Robert Paxton, Professor an der Columbia University und über Jahrzehnte einer der Koryphäen der vergleichenden Forschung, betont, dass Trump im Gegensatz zum historischen Faschismus eben gerade keinen starken Sozialstaat wolle und auch nicht über uniformierte Paramilitärs gebiete: „this is not the style of Americans“. Darin ist er sich mit den meisten deutschen Historikern einig. Diese sind in der vergleichenden Faschismusforschung wenig präsent, da sie sich vor allem auf den Nationalsozialismus beziehen und die Gegenwart oft mit der Hitler-Diktatur vergleichen. Dass auf diese Weise mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten erkennbar werden, ist nicht verwunderlich. Gegenüber einer solchen Nationalfixierung hat David Remnick, der Chefredakteur des New Yorker, in unnachahmlicher Zuspitzung formuliert: „Hitler ruined fascism“.[3]
Viele Historiker halten den Begriff des Faschismus durch die polemische Übernutzung, beispielsweise in der DDR oder seitens der Studentenbewegung, für diffus und ausgeleiert. Führende Intellektuelle wie Jürgen Habermas erkennen wenig Ähnlichkeiten zwischen der gegenwärtigen Situation und dem historischen Faschismus, weil heute „keine uniformierten Marschkolonnen“ den Rechtspopulismus begleiten. Dass Trump oder Meloni sich nicht in der Feier des Krieges oder der Anwendung paramilitärischer Gewalt ergehen, ist in der Tat eines der besten Argumente gegen die Begriffswahl. Gleichwohl ist sich selbst Jürgen Habermas seines Urteils keineswegs sicher, sah er doch noch 2016 im neuen Rechtspopulismus den „Saatboden für einen neuen Faschismus“[4].
Blickt man auf die akademische und vergleichende Faschismusforschung in den USA, so liegen die Dinge anders. Denn, so klar Paxton die Unterschiede auch benannt hat, schon 2016, unter der ersten Regierung Trump, erkannte er zahlreiche Elemente faschistischer Rhetorik in Trumps Sprache und Inszenierung: „Well, there’s language and there’s style and manner that has echoes of the fascism of Europe in the 1920s and the ‘30s“. Der Führerkult und der aggressive Charakter, die Verherrlichung des Rechts des Stärkeren, der radikale Ultranationalismus und die rassistischen Attacken gegen Migranten, die Obsession mit Untergangsphantasien – all das sind Elemente aus dem Arsenal des klassischen Faschismus.[5] Die personalistische Ausrichtung der Politik wie auch die Hartnäckigkeit, mit der Trump sein erratisches Programm verfolgt, erinnern in ihrer Unerbittlichkeit und Unbedingtheit an den Faschismus aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Auftritte vor seinen Anhängern gleichen einer politischen Liturgie, die aus dem Faschismus bekannt ist. Er schwört seine Bewegung auf unbedingte Gefolgschaft ein und präsentiert sich ihr als charismatischer Führer.
Faschistische Propaganda kennzeichnete bereits die erste Regierung Trump. Es sei hier, schrieb Jason Stanley bereits 2018 in seinem Buch „How Fascism Works“, ein Idiom des Unvermögens zu hören, das Vereinfachung, Nationalismus und Rassismus zur Manipulation der Massen einsetze. Faschismus entstehe heute eher schleichend, er erfinde und idealisiere eine angeblich glorreiche Vergangenheit, zu der man zurückkehren müsse. Die Grenze zwischen Fakt und Meinung verschwimme durch eine manipulative Sprache, die ständig Misstrauen gegenüber unabhängigen Medien und Wissenschaft säe. Der Anti-Intellektualismus werte akademische Institutionen ab und berufe sich stattdessen auf einen angeblich gesunden Menschenverstand. Lügen oder Verschwörungstheorien werden verbreitet, um Kontrolle über die öffentliche Wahrnehmung zu gewinnen. Faschistische Ideologien setzten auf klare gesellschaftliche Hierarchisierungen, oft entlang von Geschlecht, Rasse oder Religion, wobei die dominierende Gruppe sich stets als Opfer darstelle. Diese Sicherheitsdiskurse werden genutzt, um autoritäre Maßnahmen zu legitimieren. Der Staat stelle sich so als Verteidiger gegen eine innere Bedrohung dar und schüre bewusst die Angst vor der Erosion der gesellschaftlichen Ordnung, etwa traditioneller Geschlechterrollen. Große Städte werden zu Orten moralischen Verfalls erklärt, die im Gegensatz zum angeblich gesunden Landleben stünden. Zudem werde die Arbeiterklasse idealisiert und zugleich gegen angeblich faule Ausländer ausgespielt, um soziale Spannungen ethnisch oder kulturell umzudeuten.[6]
Auch Anhänger des französischen Rassemblement National (RN) verweisen regelmäßig auf „die Araber“ oder „die Muslime“, wenn sie sich über Missstände beklagen, egal ob es sich um fehlende Krippenplätze handelt, die Verschlechterung des Schulangebots, das Verschwinden alteingesessener Geschäfte in den Innenstädten, Probleme beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen oder den Rückgang der Kaufkraft. Und die Steuern seien auch nur deshalb so hoch, weil die ausländischen „Nichtsnutze“ alimentiert werden müssten.[7]
Auch in unserem Nachbarland Frankreich finden spätestens seit der zweiten Trump-Regierung die amerikanischen Faschismusprogosen zunehmend Zustimmung. Intellektuelle wie Olivier Mannoni vergleichen Trumps und Hitlers Propaganda und entdecken: „Inkohärenz als Rhetorik, extreme Vereinfachung als Argumentation, Anhäufung von Lügen als Beweisführung. Beschränktes, entstelltes, manipuliertes Vokabular als Sprache“.[8] Und der argentinische Historiker Federico Finchelstein, der seit Jahren an der New School for Social Sciences in New York zum Faschismus forscht, verdeutlicht, wie flüssig die Grenzen zwischen Rechtspopulismus und Faschismus sein können – er nennt Trump in seinem 2024 erschienenen Buch einen „Wannabe“-Faschisten, der im Stil und Verhalten den Faschisten entspricht, nicht aber dieselbe Gewalt verwendet. Auch die Gewaltenteilung sei (noch) nicht so stark aufgeweicht wie im historischen Faschismus. Mit der Verbreitung von Desinformation und der Manipulation der Wahrheit nutze Trump faschistische Taktiken, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und seine politischen Ziele durchzusetzen. Wie im Faschismus erschaffen Trump, Modi, Bolsonaro oder Orban einen „Feind“ innerhalb der Gesellschaft und sichern sich politische Unterstützung durch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Finchelstein hält wie auch Stanley den Übergang von autoritären Tendenzen zu einer vollständigen Diktatur für einen schleichenden Prozess. Er warnt davor, dass diese Entwicklung eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie darstellt und ruft dazu auf, wachsam zu bleiben und demokratische Werte zu verteidigen.[9]
Als sich im Januar 2025 die weltweit führenden Faschismusforscher zu einer Tagung in Rom zusammenfanden, hielt der an der Cornell University lehrende italienische Historiker Enzo Traverso einen aufsehenerregenden Vortrag. Faschismusforschung befasse sich nicht länger im Zeichen stabiler Demokratien mit einem historischen Phänomen, sagte er und fragte, ob der Faschismusbegriff in der Lage sei, die Neuartigkeit der heutigen Situation zu erfassen. Letztlich plädierte er für das Konzept des „post-fascism“.[10] Der heutige Faschismus sei zwar nicht komplett neu, aber eben auch nicht umstandslos mit dem historischen Faschismus gleichzusetzen. Es gebe neue Wege zur Zerstörung der Demokratie, zugleich seien Momente der Kontinuität und Verweise auf die Vergangenheit nicht zu übersehen. Gegenwärtig sei, so weit folgte Traverso vielen anderen Historikern, staatsterroristische Gewalt eher die Ausnahme denn die Regel. Der Postfaschismus des Westens ist schließlich nicht aus dem Ersten Weltkrieg, sondern nach einem gut siebzigjährigen Frieden neu entstanden. Die Arbeiterklasse sei bei Le Pen, Salvini, Orban oder Trump voll integrierter Teil ihrer Bewegungen, als neue Feinde des Postfaschismus fungierten nicht vordringlich die Juden, sondern Immigranten, Muslime und Schwarze, aber auch liberale Gruppen – von der bürgerlichen Boheme über Umweltaktivisten bis hin zu den Vertretern von LGBTQI-Rechten. Die (Post-)Faschisten würden als nationalistisch-rassistische Antifeministen nach wie vor gegen „Parasiten“ kämpfen und sich als Vertreter des „anständigen und hart arbeitenden“ Volkes präsentieren. Die heutige Islamophobie zeichne sich durch eine koloniale Matrix aus und der Autoritarismus der Postfaschisten gehe mit einer Verkultung der Marktwirtschaft einher. Allerdings hätte mit dem Ende des utopischen Zeitalters auch der Faschismus seine Zukunftsorientierung verloren, wenngleich seine intellektuellen Ambitionen mit Autoren wie Michel Houellebecq, Renaud Camus oder Alain Finkielkraut noch nicht vollkommen erloschen seien.[11]
II.
So sehr manche der beschriebenen Propagandaelemente an den historischen Faschismus erinnern, wichtig ist es doch auch zu ergründen, ob die gesellschaftlichen Konstellationen, die den Aufstieg des Faschismus nach dem Ersten Weltkrieg begünstigten, heute wieder gegeben sind. Fragt man danach, sind die Befunde fast noch beunruhigender: Die gesellschaftlichen Konstellationen sind nicht nur vergleichbar, sie eröffnen auch ähnliche Gelegenheitsfenster. Vor mehr als 40 Jahren veröffentlichten der französische Philosoph Gilles Deleuze und der französische Psychoanalytiker Félix Guattari ein Buch über den Kapitalismus, in dem sie auch die dezentralisierte Mikropolitik des Faschismus in einer segmentierten Gesellschaft untersuchten.[12] Zwar unterscheiden sich die Formen der Fragmentierung der Gesellschaften in den zwanziger Jahren des 20. von denen des 21. Jahrhunderts. Aber die segmentären Abschließungsmechanismen begünstigen in beiden Fällen den Aufstieg faschistischer Politik. Im Wesentlichen sind dies, neben der Zersplitterung internationaler Politik, deren globale Regulierungsmechanismen durch den Aufstieg des Nationalismus zunehmend unterhöhlt werden, drei Entwicklungen: Die gesellschaftliche Fragmentierung im Zeichen der ökonomischen Krise, Konflikte um die Geschlechterordnung und der radikale Umbau des Mediensystems.
Beginnen wir mit der ökonomischen Krise, die sich in der Aufeinanderfolge von Bankenkrise, Corona-Pandemie und Kriegsentwicklungen in der Ukraine zu einer Polykrise ausgeweitet hat. Die europäischen Sozialstaaten leiden unter hoher Staatsverschuldung in Folge der massiven Aufrüstungen, der Störungen der globalen Handelsströme und der weltweiten Inflation. Schuldenlasten, Schwierigkeiten der Defizitfinanzierung, Banken- und Währungskrisen – all das führte bereits in den 1920er-Jahren zu einer massiven Vertrauenskrise des Staates. Auch heute steckt das Erfolgsmodell Sozialstaat ebenso wie die europäische Sozialdemokratie in einer tiefen Krise. In Osteuropa ist die Euroskepsis nochmals stärker ausgeprägt – zudem konnte sich hier das Vertrauen in das politische System der EU nicht über Jahrzehnte ausbilden.
Eine Entkopplung der Demokratie vom Liberalismus gab es in den 1920er- und 1930er-Jahren ebenso wie heute. Gemeinsam haben beide Episoden zudem die Entstehung autoritärer Dynamiken und die Zersplitterung der Politik in unversöhnliche Lager, weit verbreitete Abstiegsängste und nationalistische Globalisierungsfurcht. Vergleichen lässt sich auch die Austeritätspolitik des Reichskanzlers Heinrich Brüning, der ab 1930 die Steuern erhöhte und Sozialausgaben kürzte, um damit die deutschen Staatsfinanzen zu sanieren, mit dem ökonomischen Schicksal Südeuropas, das seit den 2010er-Jahren im Zeichen der Staatsschuldenkrise droht, seinen Mittelstand zu verlieren.[13]
Auch heute scheint sich wieder eine „Panik im Mittelstand“ auszubreiten, die der berühmte Rechts- und Staatswissenschaftler Theodor Geiger im Jahr 1930 eindrücklich beschrieben hat.[14] Während Geiger in den Deklassierungsängsten des alten Mittelstandes aus Handwerkern und Kleinhändlern das Rückgrat der NS-Bewegung erkannte, wird Donald Trump heute überproportional von weißen Männern aus dem rust belt und dem mittleren Westen unterstützt. Ähnlich sieht es dieser Tage in den entindustrialisierten Zonen Europas aus.[15] Bei den Europawahlen im Juni 2024 hat der Rassemblement National (RN) mit 53 Prozent bei den Arbeitern, mit 40 Prozent bei den Angestellten, aber auch mit 20 Prozent bei den Managern überdurchschnittlich gewonnen.[16] Die Partei hat ihre Basis vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten mit niedrigem Bildungsgrad, kann aber auch auf Teile des Bürgertums zählen. Ähnlich wie in Ostdeutschland unter den AfD-Wählern nimmt der Anteil der RN-Wähler umso mehr zu, je weiter man sich in dünner besiedelte und ethnisch homogenere Gegenden begibt, wo die Bindungen an lokale Traditionen stärker ausgeprägt sind.[17] Untersuchungen in primär weißen Armutsgebieten des sozialen Wohnungsbaus in und rund um London haben gezeigt, dass die unterprivilegierten Arbeitergruppen sich vom britischen Wohlfahrtsstaat im Stich gelassen fühlen. Die politische Einstellung dieser Schichten, ihr Rassismus und ihr populistisch-faschistischer Autoritarismus, basiert in der Tat auf realen sozioökonomischen Problemlagen. Die Anhänger von Nigel Farage und seiner UK Independence Party (UKIP) fühlten sich, so die Studien der britischen Ethnologin Insa Koch, politisch von den etablierten Parteien alleingelassen und nahmen sich vor allem als Opfer der Globalisierung wahr. Zugleich folgten sie einem Narrativ des Abstiegs und einer Beschwörung der ländlichen, der unverfälschten oder einer angeblich autochthon nationalen Identität, die ihre Problemlagen kulturell einbettete.[18]
Trägt man die Untersuchungsergebnisse zu den Mitgliedern und Wählern postfaschistischer Parteien in Europa zusammen, fühlt man sich an Jürgen Falters Befund erinnert, der nach zahlreichen Wahlanalysen zu dem Ergebnis kam, die NSDAP sei „Volkspartei mit Mittelstandsbauch“ gewesen.[19] In den 1920er- und 1930er-Jahren erklärten die europäischen Faschisten in Deutschland, Italien, Rumänien oder Ungarn die inneren Feinde, Juden und Kommunisten, zu Sündenböcken des Abstiegs. In Deutschland verschaffen sich heute Facharbeiter und Angehörige der Mittelschichten aus dem Ruhrgebiet und aus dem Osten durch die AfD Gehör und verleihen mit ihrer Stimme für diese Partei ihrer Angst vor Migranten Ausdruck. Der Vertrauensverlust gegenüber den etablierten Parteien korrespondiert mit einer ausgeprägten Verunsicherung im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung und das Inflationsgeschehen. AfD-Wähler sind sowohl Personen mit niedrigem Einkommen, die sich die durch die aktuellen Krisen stärker betroffen fühlen, als auch Personen die, abgekoppelt von der individuellen finanziellen Situation, dieselben Befürchtungen hegen und zugleich ihre vermeintliche Verursachung migrantisieren.[20] Die gegenwärtigen Verlustängste, Unsicherheiten und Abwehrreflexe gelten für einfache Arbeiter aber auch für Mittelschichten im Zuge des Sozialabbaus. Die Präkarisierung der Kleinfamilie, das Aufbegehren gegen Globalisierung, Ängste vor wirtschaftlicher Transformation und Kulturwandel erinnern fatal an den Aufstand des Mittelstandes in den 1930er-Jahren.[21]
In den USA hatten die typischen Trump-Wähler 2016 wie auch 2024 ein leicht überdurchschnittliches Einkommen, zählten zur Mittelschicht und waren weniger häufig arbeitslos als die Nicht-Trump-Wähler.[22] In beiden Fällen besteht die Kernwählerschaft aus den Selbstständigen und den Mittelschichtsmilieus. Ihnen geht es zwar ökonomisch nicht schlecht, aber sie fürchten sich vor einem Abstieg, leben sie doch zu einem Großteil in ländlichen und städtischen Gebieten mit schlechter ärztlicher Versorgung. Durch Wahlerfolge in den Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin gelang es Donald Trump bereits 2016, die demokratische Dominanz in den Gebieten des industriellen rust belt südlich der großen Seen zu durchbrechen. Auf die Problemlagen dieser Milieus, die sich politisch zurückgedrängt und von der Demokratischen Partei verlassen fühlen, hat die Forschung mittlerweile umfassend aufmerksam gemacht. Der Traum von Eigenverantwortung und Freiheit ist für nicht wenige US-Amerikaner ausgeträumt. Die Ungleichheit hat massiv zugenommen, in den vergangenen drei Jahrzehnten wurden immer mehr Menschen wirtschaftlich und sozial abgehängt. Die Realeinkommen der unteren 40 Prozent sind über die vergangenen 30 Jahre stetig geschrumpft. Viele Amerikaner erkennen, dass ihre Kinder und Enkel es nicht besser haben werden als sie selbst.[23]
Erstaunlich ist auch eine weitere historische Parallele: Auch in der Wirtschaftskrise der 1920er- und 1930er-Jahre setzte die Regierung der Vereinigten Staaten auf höhere Zölle: Am 17. Juni 1930 erließ sie das Smoot-Hawley-Gesetz, mit dem die US-Zölle für über 20.000 Produkte auf Rekordniveau angehoben wurden. Ziel des protektionistischen Bundesgesetzes war der Schutz der Wirtschaft der Vereinigten Staaten vor ausländischer Konkurrenz. Es wird zurecht für die Verschärfung der Weltwirtschaftskrise verantwortlich gemacht.[24] Gegenwärtig zeigt Trumps selbstherrliche Zick-Zack-Zollpolitik, wie anfällig ein Präsidialsystem im Vergleich zu parlamentarischen Regierungssystemen für autoritäres Durchgreifen und für den Kult individueller Handlungsfähigkeit ist. Ähnliches konnte man schon in der Türkei unter Erdogan oder in Ungarn unter Orban beobachten, und selbst in Italien lassen sich derzeit Tendenzen in diese Richtung ausmachen.[25] Vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Weimarer Republik lässt das nichts Gutes erahnen.
Knappheitsbedingungen und die ungerechte Verteilung von Ressourcen erklären, warum sich heute Industriearbeiter von der Sozialdemokratie in Europa beziehungsweise von den Demokraten in den USA abwenden. Im Mittleren Westen der USA, in den bäuerlichen Schichten Osteuropas oder in Zentren der Schwerindustrie und des Bergbaus in ganz Europa – der Protest gegen die globale Konkurrenz und die entsprechende Lohndrückerei verhallte, fand kein Echo bei den etablierten Parteien. Während sich die Sozialdemokratie immer stärker den neuen Mittelschichten zugewandt hat, sind ihre alten Trägerschichten zur AfD, den Trumpisten oder Orbanisten abgewandert.[26] Insgesamt hat der wirtschaftsliberale Boom seit den 1990er-Jahren die Ökonomien Europas und der USA, auch angesichts des wirtschaftlichen Aufstiegs in Chinas in den letzten 20 Jahren, stark unter Druck gesetzt. Die Finanz- und Eurokrise hat zudem zu heftigen Anpassungskrisen geführt, die von den Postfaschisten mit dem Anstieg der Migration aus Afrika und dem Nahen Osten verbunden und damit die Wirtschaftskrise gewissermaßen migrantisiert wurde.
Zweitens befeuern Konflikte um den Wandel der Geschlechterordnung den Aufstieg der rechtsradikalen Bewegungen. Die nostalgische Männlichkeitsorientierung der Rechtsextremisten bezieht sich auf eine hegemoniale Geschlechterordnung, die auch die historischen Faschisten befürworteten, die jedoch angesichts der „Neuen Frau“ und der Geschlechteremanzipation nach dem Ersten Weltkrieg ins Wanken geriet. Die auf den Berufsmarkt erfolgreichen Frauen verunsicherten vor allem jene Männer, deren kriegerische Heldenideale im maschinisierten Schlachthaus der Ersten Weltkrieges zerschossen wurden. Nach dessen Ende zerstörten Erwerbslosigkeit und weibliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ihr Selbstbild vom autoritären Familienvater. Auf neue queere Lebensformen in den Metropolen und selbstbewusste Feministinnen reagierten die Faschisten in den 1920er- und 1930er-Jahren mit Repression und einer rückwärtsgewandten Familienpolitik. Diese brutale „Normalisierung“ der bipolaren Geschlechterordnung erinnert an die heutigen Geschlechterpolitik der AfD. So rief Maximilian Krah auf TikTok den jungen Männern zu, sie sollten doch wieder echte Männer sein: „Jeder dritte junge Mann hatte noch nie eine Freundin. Du gehörst dazu? Schau keine Pornos, wähl' nicht die Grünen, geh' raus an die frische Luft, steh' zu dir, sei selbstbewusst, guck geradeaus. Echte Männer sind rechts, echte Männer haben Ideale, echte Männer sind Patrioten, dann klappt es auch mit der Freundin“, so der Flirt-Tipp des AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl 2024. Das Video ging viral und wurde 1,4 Millionen Mal aufgerufen.[27] In den USA steigt seit Längerem die Zahl junger Männer, die ungewollt Single sind. Ähnlich ist es in Großbritannien. Die BBC veröffentlichte 2021 eine Studie, der zufolge sich vor allem junge Männer einsam fühlen. Als Gründe werden unter anderem frustrierende Erfahrungen mit Dating-Apps, Druck durch Internet-Pornos und übertriebene Anforderungen aus den sozialen Medien genannt.[28] Wiederum adressieren die Rechtsradikalen also ein reales Problem und deuten es in ihrem Sinne um.
Wenn Trump mit dem Ausbau des Fracking zurück in das fossile Energieregime will und in seiner Inaugurationsrede von „Drill, baby, drill!“ sprach, so entspricht dies dem, was die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett „petro-masculinity“ genannt hat. Die Ideologie eines rückwärtsgewandten industriegesellschaftlich-autoritären Patriachats verbindet Kohle, Stahl und Schmieröl mit traditionell maskulinem Sex und heteronormativer Geschlechterordnung sowie der Ablehnung queerer Lebensweisen.[29] Zur beabsichtigten und bereits begonnenen Verbannung der Gender Studies und Queer Studies von den amerikanischen Universitäten gesellt sich eine pronatalistische Politik, die weiße und christliche Frauen zu höheren Geburtsraten bringen und traditioneller Männlichkeit zu neuem Ansehen verhelfen will. Die Veränderung der Abtreibungsgesetzgebung in den USA belegt eine in postfaschistischen Staaten, etwa Ungarn oder Russland, regelmäßig vorherrschende, antifeministische Einstellung. Die lateinamerikanischen Postfaschisten rücken Geschlechterpolitik noch stärker ins Zentrum. Cristóbal Rovira Kaltwasser, führender Experte des gegenwärtigen Rechtsextremismus in Lateinamerika, formulierte: „Immigration is a primary driver of far-right sentiments in Europe, while this is not necessarily the case in Latin America. In Latin America, the main issues revolve around crime, gender and sexual politics.“[30]
Drittens schließlich muss von den massiven Veränderungen des Mediensystems sprechen, wer den Aufstieg der Rechtsradikalen verstehen will. Populisten wie Donald Trump geben sich ostentativ plump, ungehobelt und unkultiviert. Dieses Auftreten soll aus Sicht der Populisten volksnahe Einfachheit versinnbildlichen. Sie pflegen einen medialen Politikstil der Dramatisierung, Konfrontation, Emotionalisierung und Personalisierung, weil dieser nicht nur mit Mechanismen der medialen Aufmerksamkeitsökonomie in Einklang zu bringen ist, sondern vor allem mit den schnellen, offenen und sehr leicht zugänglichen elektronischen Medienformaten unserer Zeit korrespondiert.[31]
Theatralisierung und Dramatisierung, Event- und Symbol-Politik garantieren hohe Aufmerksamkeit in den digitalen Medien. Diese Kommunikationsmuster führten auch in der Zwischenkriegszeit oft zum Erfolg. Schon zur Jahrhundertwende, vor allem aber nach dem Ersten Weltkrieg, entwickelte sich mit der kommerziellen Sensationspresse, ihren Sonderausgaben und groß aufgemachten Meldungen, aber auch mit dem auf Personalisierung und Visualisierung ausgerichteten Illustriertenmarkt ein „Formwandel der politischen Repräsentation“, den der Göttinger Historiker Bernd Weisbrod scharfsinnig charakterisiert hat: „An die Stelle des Ideals vom räsonierenden Publikum war die massenmediale Vermarktung politisch diversifizierter und marktgängig stratifizierter Meinungssegmente getreten. Das bürgerliche Modell der politischen Emanzipation durch eine kritische Öffentlichkeit wurde von einem Kommunikationsmarkt überlagert, der sowohl der Parteipresse wie der populären Unterhaltungspresse Raum bot.“[32] Von der Medialisierung der Massenöffentlichkeit profitierte der Faschismus enorm: Er spielte die neue Gräuelpropaganda gekonnt aus. Die segmentierte Milieupresse präsentierte jeweils andere Wahrheiten und Fakten. Und inmitten dieser medialen Zeitenwende erfolgte „jedes politische Sprechen im Modus der Verheißung“.[33] Die Kriegspropaganda hatte Brutalisierung und Dramatisierung der politischen Sprache weit vorangetrieben: „Diese Art der Propaganda brauchte kaum Beweise, ihre Glaubwürdigkeit beruhte auf dem Gespür der Bedrohung und dem panischen Gefühl, nun die Reihen schließen zu müssen.“[34]
In den USA hatte sich die Politik der Dämonisierung des Feindes mit der ländlich und antiintellektuell ausgerichteten People‘s Party weit verbreitet. Sie agitierte in den 1890er-Jahren mit ihrer autochthonen „heartland“-Politik des „real american“ gegen das Wall-Street-Establishment und die politische Elite in Washington. Die neue yellow press und Sensationspresse, die damals eng mit einflussreichen Männern wie dem Verleger James Gordon Bennett und dem Magnaten William Randolph Hearst verquickt war, wurde von der People‘s Party während des 19. Jahrhunderts ebenso intensiv genutzt[35] wie der antisemitische Father Charles Edward Coughlin oder der rechtsradikale Gouverneur von Louisiana, Huey Long, in den 1920er- und 1930er-Jahren auf das Radio als Massenmedium zurückgriffen. Pfarrer Coughlins Predigten, die einen dramatisierenden, simplifizierenden und konfrontativen Antisemitismus propagierten, wurden seit 1926 in wöchentlichen Radiosendungen der Station WJR in Detroit (Michigan) ausgestrahlt. Coughlin hatte eine umfassende politisch-moralische Krise in der Region beschworen, gleichzeitig wuchs dort die Ku-Klux-Klan Bewegung massiv an.[36] Bauernaufstände und Proteste gegen die Eisenbahngesellschaften korrespondierten mit der yellow press wie Twitter heute mit der Tea-Party oder die deutsche Pegida-Bewegung mit Facebook.
Die beschleunigte Entwicklung neuer Kommunikationstechniken entbindet Politiker von herkömmlichen politischen Institutionen und etablierten Medien. Digitale Medien respektive Soziale Medien und Plattformen bieten heute gute Bedingungen für die rhizomartige Verbreitung des Faschismus. Wenn Faschismus eine Politik des zügellosen Hasses ist, dann leisten Algorithmen ihr wertvolle Dienste, indem sie negative Nachrichten um ein Vielfaches schneller verbreiten als positive oder affektneutrale. In der jüngeren Forschung wird diesem Phänomen mit Nachdruck nachgegangen. Der „digitale Faschismus“, so Maik Fielitz und Holger Marcks, formiert sich in Gestalt von informellen Schwärmen, die sich mit ihrer Geschmeidigkeit in den rechtstaatlich gefestigten Demokratien besser einnisten und behaupten, als uniformierte Schlägertruppen es könnten.[37] Und das gilt heute noch für Trumps spektakuläre Nutzung von Sozialen Medien, von Twitter beziehungsweise X bis zu Truth Social. Internet-Foren wie Reddit spielen für die Alt-Right-Bewegung um den rechtsextremen „white supremacist“ Richard B. Spencer eine zentrale Rolle. Die Influencerin Laura Loomer, Troll mit 1,6 Millionen X-Followern und ihrer eigenen Internetseite „loomered.com“, berät Trump bei seinen Entlassungen von Regierungsbeamten. Sie präsentiert sich als Islamfeindin, als Rechtsanwältin der Weißen und verbreitet den Mythos vom „Großen Austausch“. Sie war es, die im Wahlkampf 2024 die Lüge von den Haitianern in Ohio, die angeblich Haustiere essen, lancierte. Rassistische Beleidigungen erhöhen ihre Bekanntheit weiter.[38] Ihre Karriere ist einer von zahlreichen Belegen für die unkoordinierte Netzwerkorganisation der postfaschistischen Schwärme des Internets. Die Grundstimmung bildet sich dezentral, wenig koordiniert, fluide und konfliktreich aus, ein diffuses Netzwerk verbreitet die Legitimation für die völkische Abwertung alles ethnisch angeblich Fremden.
Selbstverständlich führen die neuen Medien nicht unweigerlich in postfaschistische Politik, aber sie können von postfaschistischen Politikern besser instrumentalisiert werden als unabhängige Qualitätszeitungen oder öffentlich-rechtlich kontrollierte Medienanstalten. Die Parallele ist schlagend: Eine jeweils segmentierte Teilöffentlichkeit, zur Dramatisierung der Lage und zur Dämonisierung des Gegners genutzt, bot dem historischen Faschismus ein wichtiges Gelegenheitsfenster – und bietet es gegenwärtig dem Postfaschismus. Faschismus ist technikaffin, damals wie heute; faschistische Bewegungen gehören zu den eifrigsten Nutzern von Massenpresse, Film, Radio und Sozialen Medien. Je radikaler, je apodiktischer, je emotionaler, je brutaler die medialen Teilöffentlichkeiten die Fakten dehnen, desto stärker wird der Faschismus. Bald geht jeder Artikel oder jeder elektronische Post mit einem nahezu ostentativen Bekenntniszwang und der obligaten Verdächtigung des Gegners einher.[39]
Berücksichtigt man den gegenwärtigen Wandel des Medienregimes, also den Umbruch von der kontrollierten Medienöffentlichkeit zu den zugangsoffenen und scheinbar unmittelbaren Internetmedien, kann man ein wichtiges Gelegenheitsfenster identifizieren, das sich in den letzten zehn Jahren für populistische wie auch postfaschistische Politikformen geöffnet hat. Neue Medien destabilisieren herrschende Verhältnisse, bieten neuen Gruppierungen Kommunikationskanäle und beschleunigen so Prozesse politischen Wandels.
III.
So erschreckend viele Parallelen auch sind: Was den heutigen Faschisten im Vergleich zu ihren Vorläufern fehlt, ist der ausufernde Paramilitarismus, der aus dem Ersten Weltkrieg gespeiste Gewalt- und Totenkult, das beispiellose Ausmaß an Repression und Willkürherrschaft im Inneren sowie der kriegslüsterne Imperialismus nach außen. Mit Ausnahme Putins, der sich jedoch weniger auf die typisch populistische Mobilisierung seiner eigenen Gesellschaft versteht, hat bislang keines der postfaschistischen Regime – von Modi über Orban bis zu Trump – Kriege begonnen.
Die heutige paramilitärische Gewalt ist im Vergleich zur Zwischenkriegszeit wesentlich diffuser. In den waffenfreundlichen USA verteilt sich das Gewaltpotenzial auf zahlreiche rechtsradikale Organisationen vom Ku-Klux-Klan über die Proud Boys bis zu den aktuell grassierenden Active Clubs. Neben der rhizomartigen Gewaltstruktur lässt sich ein weiterer Unterschied feststellen: Der Neoliberalismus der neunziger Jahre hat die Möglichkeit starker Staatlichkeit unterhöhlt ebenso wie der Ego-Liberalismus einen neuen Aggro-Individualismus hervorgebracht hat. Das war in den vergleichsweise gemeinschaftsorientierten 1920er- und 1930er-Jahren so nicht denkbar. Wenn jetzt die traditionelle Bürokratie gegen eine digitale Verwaltung ausgetauscht werden soll, so bedeutet dies die Entfesslung des freien Marktes im Staatsinneren.[40] Dieser Abbau staatlicher Verwaltung und des Wohlfahrtsstaats betrifft, nota bene, jedoch nicht den Polizei- und Repressionsapparat. Innere Sicherheit und die Polizeikräfte für einen Abschiebestaat werden in den USA ebenso ausgebaut wie der Militärapparat.[41] Gerade Migranten und als „anti-amerikanische“ Elemente entwertete Gruppen bekommen diesen Staat zu spüren. Gewaltpolitik und Gewaltdrohungen sind insofern auch im Postfaschismus keineswegs verschwunden. Auch hat sich der Antikommunismus bekanntlich gewandelt. Red scare, die geschürte Panik, gilt längst nicht mehr den sozialistischen Arbeiterparteien, die Betriebe enteignen könnten. Anstelle der Furcht vor bolschewistischen Aufständen ist das Schreckbild der Universitäten und Medien mit ihrer angeblichen linksradikalen wokeness getreten, gegen die man aufbegehren, sich wehren müsse.[42] Zu den klassischen strongmen des Faschismus[43] haben sich längst auch self-made women wie Marine Le Pen, Giorgia Meloni oder Alice Weidel gesellt, die sich als starke und unabhängige Frauen inszenieren, die ihre Karriere scheinbar jenseits ihrer Familien gestemmt haben.
Der Postfaschismus bezieht sich trotz aller Koketterie mit dem symbolischen und rhetorischen Arsenal des historischen Faschismus nicht mehr direkt auf diesen als sein Originalvorbild. Anders als Skins oder NPD-Neofaschisten der Nachkriegsjahrzehnte wollen die Postfaschisten die nationalsozialistische Zeit nicht gänzlich rehabilitieren. Stattdessen verkleinern sie den Nationalsozialismus zum „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte. Ihnen geht es darum, die Erinnerung an den Nationalsozialismus zu verbannen und die „Denkmäler der Schande“ auszuradieren. Von Björn Höcke vielleicht abgesehen, will selbst Giorgia Meloni als Postfaschistin den Faschismus erneuern und verändern. Im Januar 2025 erklärte die ehemalige Neofaschistin – zum Erstaunen ihrer eigenen Partei – am Gedenktag 80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor dem Parlament, dass die Tragödie der Shoah, die in der Geschichte ihresgleichen suche, zwar vom Hitler-Regime verwirklicht worden sei, aber „in Italien die Komplizenschaft des faschistischen Regimes gefunden habe, angesichts der Schande der Rassengesetze und der Beteiligung an Razzien und Deportationen".[44]
Der italienische Schriftsteller und Holocaustüberlebende Primo Levi konstatierte bereits 1974, dass „jedes Zeitalter seinen eigenen Faschismus“ hat.[45] Das gilt bis heute. Die begrifflichen Alternativen – Populismus, far-right politics oder Autoritarismus – werden weiter diskutiert werden müssen. Aber auch diese Begriffe sind nicht mehr als „Verlegenheitslösungen“.[46] Sie können zur Verharmlosung von Bewegungen beitragen, die Migranten abwerten, Diskriminierung zur Tagesordnung machen und Ungleichwertigkeit als neue Wertordnung zu etablieren versuchen. Der Begriff des Populismus fängt zwar einen Mobilisierungsmechanismus ein, kann aber weder die Ideologie und den Rassismus noch die Schritte auf dem Weg zum autoritären Regierungshandeln angemessen erfassen, während der Begriff des Autoritarismus wiederum primär eine Herrschaftsform bezeichnet, aber die ideologische Dimension ebenfalls nicht treffend analysiert.
Der heutige Postfaschismus ist ein rhizomartiges Gebilde. Er hat sich keine organisierten Schlägertrupps untergeordnet, keinen starken Wohlfahrtsstaat für seine völkisch erwünschten Untertanen aufgebaut, er ist kommerzieller als seine Vorgänger. Das Erstarken des Postfaschismus ist ein globales Phänomen, bei dem die Bewegungen dezentral organisiert und transnational vernetzt sind. Die heutigen Formen des Postfaschismus verbinden in unterschiedlichsten Varianten Rassismus und Nationalismus mit einer Rückwärtsgewandtheit, die auf den Mythos nationaler Wiederauferstehung zielt; die Nation solle sich aus einem angeblich dekadenten Sumpf multikulturell-diverser wokeness erheben. Ob wir uns heute in der Gründungsphase neuer Diktaturen befinden und ob diese dann ähnliche Schritte wie der historische Faschismus gehen werden, ist unklar. Unmöglich ist es nicht.
Fußnoten
- Eine Vorversion erschien unter dem Titel „Die Neuerfindung des Faschismus“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.4. 2025, S. 7. Ich danke allen, die mir im Nachgang zu diesem Artikel wertvolle Hinweise und Ergänzungen haben zukommen lassen. Ich kann leider nicht auf alle Hinweise eingehen, möchte mich aber insbesondere bedanken bei Mitchell Ash, Ulrich Bröckling, Paula Diehl, Heike Drotbohm, Victoria De Grazia, Paul Hanebrink, Isabel Heinemann, Léonie de Jonge, Jürgen Kocka, Pavel Kolář, Jürgen Osterhammel, Shalini Randeria, Petra Terhoeven und der Lesegruppe am ifk Wien.
- Jason Stanley im Interview mit Peter Neumann: „Was wir jetzt sehen – das ist Faschismus“, in: Zeit-Online, 29.3.2025.
- David Remnick, What is the secret of „The New Yorker“?, in: Alles gesagt? Interviewpodcast, 21.2.2025, online unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/2025-02/david-remnick-new-yorker-alles-gesagt-interviewpodcast.
- Jürgen Habermas, Für Europa, in: Süddeutsche Zeitung, 22./23.März 2025, S. 16 f.; ders., Für eine demokratische Polarisierung. Wie man dem Rechtspopulismus den Boden entzieht. Jürgen Habermas im Interview, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 61 (2016), 11, online unter: www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2016/november/fuer-eine-demokratische-polarisierung.
- Patt Morrison, Op-Ed: Robert O. Paxton talks fascism and Donald Trump, in: Los Angeles Times, 9.3.2016.
- Jason Stanley, How Fascism Works. The Politics of Us and Them, New York 2018.
- Benoît Breville, Wer stimmt für Le Pen? Neuere Feldstudien brechen mit den üblichen Annahmen über die Wählerschicht der Rechtsextremen in Frankreich, in: Le Monde Diplomatique, 13.3.2025, online unter: https://monde-diplomatique.de/artikel/!6073759. Er bezieht sich auf: Félicien Faury, Des électeurs ordinaires. Enquête sur la normalisation de l‘extrême droite, Paris 2024.
- Marc Zitzmann, Zu extrem selbst für Rechtsextremisten. Viele Beobachter in Frankreich sehen unter Trump einen „amerikanischen Faschismus“ aufkommen, in: FAZ, 6.3.2025, S. 11.
- Federico Finchelstein, The Wannabe Fascists. A Guide to Understanding the Greatest Threat to Democracy, Oakland 2024.
- Meines Wissens wurde der Begriff als wissenschaftlicher Terminus erstmals von dem ungarischen Philosophen Gáspár Miklós Tamás für die politische Analyse von Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei geprägt: On Post-Fascism. Its central characteristic is hostility to universal citizenship, in: Boston Review, 1.6.2000; online unter: https://www.bostonreview.net/articles/g-m-tamas-post-fascism/ (7.5.2035). Der marxistisch geprägte Tamás sieht im Postfaschismus allerdings eine elitäre Politik und unterschätzt dessen mobilisierenden und populistischen Charakter, den Traverso wiederum explizit aufgegriffen hat.
- Der Vortrag von Enzo Traverso findet sich unter: https://mediaspace.wisc.edu/playlist/dedicated/371664442/1_aorv8g2b/1_n6pv716r. Zum Programm und den anderen Vorträgen: https://mosseprogram.wisc.edu/rome/ (7.5.2025).
- Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, übers. von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé. 5. Auflage, Berlin 2002, S. 283–316.
- Siehe Gregori Galofré-Vilà / Christopher M. Meissner / Martin McKee / David Stuckler, Austerity and the rise of the Nazi party, in: National Bureau of Economic Research Working Paper 24106, 2017, online unter: http://www.nber.org/papers/w24106 (7.5.2025).
- Theodor Geiger, Panik im Mittelstand, in: Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde, 7 (1930), 10, S. 637–654.
- Eine wichtige Ausnahme für Belgien bespricht Léonie de Jonge, The Curious Case of Belgium. Why is There no Right-Wing Populism in Wallonia?, in: Government and Opposition 56, 2021, S. 598-614.
- Ipsos (Hg.): Sociologie des électorats et profil des abstentionnistes. Élections européennes, 9.6. 2024, online unter: (https://www.ipsos.com/sites/default/files/ct/news/documents/2024-06/Ipsos-Sociologie-des-e%CC%81lectorats-9-Juin-20h30.pdf (7.5.2025).
- Christophe Guilluy, La France périphérique. Comment on a fracturé les classes populaires, Paris 2014; Jacques Lévy, L’Espace légitime. Sur la dimension géographique de la fonction politique, Paris 1994.
- Insa Koch, Personalizing the State. An Anthropology of Law, Politics, and Welfare in Austerity Britain, Oxford 2018; Insa Koch / Deborah James, The State of the Welfare State. Advice, Governance and Care in Settings of Austerity, in: Ethnos, 87 (2022), 1, S. 1–21, online unter: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/00141844.2019.1688371 (7.5.2025).
- Jürgen Falter, Hitlers Wähler. Die Anhänger der NSDAP 1924–1933, Überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Frankfurt am Main / New York 2020.
- So lauten die seit dem Frühjahr 2020 laufenden Analysen des Wirtschafts- und Sozialinstituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Siehe etwa: Andreas Hövermann, Das Umfragehoch der AfD. Aktuelle Erkenntnisse über die AfD-Wahlbereitschaft aus dem WSI-Erwerbspersonenpanel (WSI Report Nr. 92, 2023); Pressemitteilung des WSI, 3.4.2024, online unter: https://www.wsi.de/de/pressemitteilungen-15991-deutsche-gesellschaft-verunsichert-aber-nicht-erschuettert-59064.htm (7.5.2025).
- Daniel Mullis, Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten. Die Regression der Mitte, Sonderausgabe, Bonn 2024; Stephan Lessenich, Der Klassenkampf der Mitte, in: Süddeutsche Zeitung, 3.1.2018, S. 9; Heinz Bude, Gesellschaft der Angst. Ein Essay, Hamburg 2014.
- Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie: Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, übers. von Bernhard Jendricke, München 2018, S. 183 f., 200 ff. Auch in der Zwischenkriegszeit haben die Arbeitslosen übrigens eben gerade nicht überdurchschnittlich die NDSAP, sondern die KPD gewählt (Jürgen Falter, Andreas Link, Jan-Bernd Lohmöller, Johann de Rijke und Siegfried Schumann, Arbeitslosigkeit und Nationalsozialismus. Eine empirische Analyse des Beitrags der Massenerwerbslosigkeit zu den Wahlerfolgen der NSDAP 1932 und 1933, in: Historical Social Research, Supplement 25, 1983, S. 111–144).
- Matthias-Wolfgang Stoetzer, Alexander Munder, Julia Steger, US-Präsidentschaftswahlen 2016: Der Einfluss soziodemografischer, ökonomischer und kultureller Faktoren auf Trumps Wahlerfolg, in: Jenaer Beiträge zur Wirtschaftsforschung, 1 (2019), S. 1-33, online unter: hdl.handle.net/10419/202073 (7.5.2025).; Christian Fuchs, Digital Demagogue. Authoritarian Capitalism in the Age of Trump and Twitter. London 2018; Heike Buchter, Am Ende. Falsche Diagnose, falsche Lösung. Hillary Clintons und Donald Trumps Wirtschaftspläne greifen zu kurz. Innovationen und Ideen fehlen, viele Menschen verzweifeln, in: Die Zeit, 12.8.2016.
- Detlef Junker, Der unteilbare Weltmarkt. Das ökonomische Interesse in der Außenpolitik der USA 1933–1941, Stuttgart 1975, S. 280; Florian Pressler, Die erste Weltwirtschaftskrise. Eine kleine Geschichte der Großen Depression, München 2013, S. 75/76; Charles P. Kindleberger, Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, München 2013, S. 169 ff.
- Christoph Möllers, Opposition ohne Führer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.4.2025, S. 9.
- Philip Manow, Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018, S. 29–35.
- https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/tiktok-afd-100.html?utm_source=chatgpt.com (21.3.2024).
- The BBC Loneliness Experiment, https://www.seed.manchester.ac.uk/education/research/impact/bbc-loneliness-experiment/ (7.5.2025).
- Cara New Daggett, Petromaskulinität. Fossile Energieträger und autoritäres Begehren, übers. von David Frühauf, Berlin 2023.
- Léonie de Jonge / Vasiliki Georgiadou / Daphne Halikiopoulou / Cristóbal Rovira Kaltwasser / Talita Tanscheit, Is the far right a global phenomenon? Comparing Europe and Latin America. A scholarly exchange, in: Nation ans Nationalism 31 (2025), 1, 2025, S. 7–24, hier S. 20.
- Benjamin Mofitt, The Global Rise of Populism. Performance, Political Style, and Representation, Stanford/CA 2016; Pierre Ostiguy, The high and the low in politics. A Two-Dimensional political space for comparative analysis and electoral studies, 2009; Rogers Brubaker, Why populism?, in: Theory and Society, 46 (2017), S. 357–385.
- Bernd Weisbrod, Die Politik der Repräsentation. Das Erbe des Ersten Weltkrieges und der Formwandel der Politik in Europa, in: Hans Mommsen (Hg.): Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 13–41, hier S. 29.
- Ebd., S. 31.
- Ebd.
- Robert C. McMath Jr., American Populism. A Social History, 1877–1898, New York 1993; Donald I. Warren, The Radical Center. Middle Americans and the Politics of Alienation, Notre Dame/IN 1976; Kevin Phillips, The Arrogant Capital. Washington, Wall Street, and the Frustration of American Politics, New York 1994; Alan Brinkley, Voices of Protest. Huey Long, Father Coughlin, and the Great Depression, New York 1982; James M. Beeby, Revolt of the Tar Heels. The North Carolina Populist Movement, 1890–1901, Jackson/MS 2008; Michael Kazin, The Populist Persuasion. An American History, New York 1995.
- Donald I. Warren, Radio Priest. Charles Coughlin – The Father of Hate Radio, New York 1996.
- Maik Fielitz / Holger Marcks, Digitaler Faschismus. Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus. Berlin 2020.
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- Adrian Kreye, Faschismus? Das trifft es nicht, in: Süddeutsche Zeitung, 26.3.2025.
- „Donald Trump will ein Fünftel des Bundeshaushalts streichen. Die Trump-Regierung fordert mehr Geld für das Militär und die innere Sicherheit. Überall sonst soll gespart werden, wie aus dem Haushaltsentwurf für 2026 hervorgeht“, in: Zeit-Online, 2.5.2025, https://www.zeit.de/politik/ausland/2025-05/donald-trump-usa-haushalt-entwurf-einsparung (7.5.2025)
- Matt Grossmann / David A. Hopkins, Polarized by Degrees. How the Diploma Divide and the Culture War Transformed American Politics, Cambridge 2024.
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- Dominik Straub, Meloni distanziert sich vom Mussolini-Regime, in: Der Standard, 30.1.2025.
- Primo Levi, The Past We Thought Would Never Return [1974], in: ders, The Black Hole of Auschwitz. New York 2005, S. 31–34. Der Text wurde ursprünglich 1974 im „Corriere della Sera“ veröffentlicht.
- Fielitz/Marcks, Digitaler Faschismus, S. 10.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Hannah Schmidt-Ott.
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