Anette Schlimm | Rezension |

Wie Reichsbürger reden (und schreiben)

Rezension zu „Restoring the Reich. The Language of the Reichsbürger“ von Georg Schuppener

Abbildung Buchcover Restoring the Reich von Schuppener

Georg Schuppener:
Restoring the Reich. The Language of the Reichsbürger
Mit 30 Abbildungen
Deutschland
Göttingen 2025: Vandenhoeck & Ruprecht unipress
196 S., 50,00 EUR
ISBN 978-3-847-11802-2

In den vergangenen Jahren ist die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit für das Phänomen der sogenannten Reichsbürger kontinuierlich gewachsen. Sie fallen als Querulanten bei Ämtern und Behörden auf und in der Corona-Pandemie verbanden sich bislang klandestine Gruppierungen aus dem Reichsbürgerspektrum mit öffentlich protestierenden Querdenkern. Zuletzt machten die Umsturzpläne von Heinrich XIII. Prinz Reuß endgültig deutlich, dass es sich um eine Szene handelt, die nicht nur merkwürdig und verschroben ist, sondern von der auch eine Gefahr für die gegenwärtige politische Ordnung ausgeht.

Angesichts dessen liegen erstaunlich wenig belastbare Forschungsergebnisse zu Reichsbürgern vor. Es gibt einige einschlägige Darstellungen, von denen allerdings die meisten entweder journalistisch oder sehr stark praxisorientiert sind.[1] Spezialisierte Untersuchungen einzelner Aspekte der sehr stark fragmentierten Szene, ihren Praktiken, ideologischen Grundlagen und ihrer Verortung in der Gegenwartsgesellschaft werden erst seit sehr kurzer Zeit veröffentlicht oder befinden sich noch in der Vorbereitung.[2]

Ein zentrales Ergebnis der bisherigen Forschungen ist, dass geteilte Verschwörungsideologien die heterogenen Gruppierungen und Einzelpersonen zusammenhalten: Die Bundesrepublik gebe es gar nicht, sie sei kein legitimer Staat, sondern nur eine Kulisse, hinter der dunkle Mächte die Fäden zögen. Viele Gruppierungen vertreten die Ansicht, das Deutsche Reich existiere weiterhin. In Deutschland ist die Vorstellung, man könne sich von Staatlichkeit komplett lossagen, um als autonomer Mensch jenseits jedweden Staates sein Leben zu bestreiten, nicht ganz so verbreitet – diese Selbstverwalter gibt es hierzulande jedoch auch. In anderen Ländern sind sie noch weit häufiger anzutreffen.

Aufgrund der nach wie vor überschaubaren Studienlage sind viele Fragen weiterhin offen: Woher kommen die Reichsbürger? Welche historischen Vorläufer gibt es? Gibt es ideologische Grundmuster, und wie lassen sie sich von anderen verschwörungsideologischen Gruppierungen abgrenzen? Welche Gründe gibt es, dass sich Menschen der Reichsbürgerszene anschließen? Wie gehen staatliche Institutionen mit Reichsbürgern um, und welche Handlungsempfehlungen lassen sich ableiten? Und wie lässt sich eigentlich erklären, dass die Szene gegenwärtig einen erheblichen Zulauf erfährt, obwohl sie bis vor Kurzem als Ansammlung von Spinnern und verkrachten Existenzen galt?

Sprache ist das wichtigste Mittel für die bekannteste politische Praxis der Reichsbürger, nämlich für den sogenannten Papierterrorismus, also die mitunter erschöpfend langen Schreiben an Behörden und Ämter.

Eine sehr aufschlussreiche Spezialstudie, die auf einige dieser Fragen erste Antworten gibt, legt der Linguist Georg Schuppener vor. Er hat verschiedene Textkorpora zusammengestellt, um die Sprachverwendung von Reichsbürgern zu untersuchen. Denn deren Wortwahl ist Werkzeug und Bestandteil ihrer spezifischen Praxis. Zum einen dient ihnen die Sprache der Selbstdarstellung nach innen und außen sowie der Erläuterung und Plausibilisierung der Verschwörungs- und Reichsideologien. Zum anderen ist sie das wichtigste Mittel für die bekannteste politische Praxis der Reichsbürger, nämlich für den sogenannten Papierterrorismus, also die mitunter erschöpfend langen Schreiben an Behörden und Ämter.

Die Studie ist neben einer ausführlichen Einleitung in neun auch einzeln lesbare Kapitel unterteilt. Da geht es unter anderem um religiöse Bezüge, um Rechtsjargon und um die Rolle, die die Corona-Pandemie in den Reichsbürgertexten spielt. In der Regel hat sich Georg Schuppener für die jeweiligen Kapitel Subkorpora vorgenommen, um anhand einer Textauswahl Begriffs- und Sprachverwendung unterschiedlicher Gruppierungen innerhalb der Szene genauer zu untersuchen. Computergestützte Auswertungsmethoden verwendet er nur in Ausnahmefällen und auch nur begleitend, zentral ist Schuppeners dichte Lektüre der Texte.

Den größten Teil seines Materials hat der Autor auf den Websites verschiedener Reichsbürgerorganisationen gefunden. Dazu kommt für zwei Kapitel (7: Zum Papierterrorismus, 8: Zum rechtlichen Jargon) eine Sammlung von Zuschriften an Ämter und Behörden, die ihm von Verfolgungsbehörden anonymisiert zur Verfügung gestellt wurden. Ein Problem für die Gegenwartsanalyse von Reichsbürgern dürfte sein, dass seit einigen Jahren die Kommunikation über Messenger-Dienste wie Telegram stark an Bedeutung gewonnen hat. Hierauf lässt sich deutlich schwerer zugreifen. Diese Materialquelle bezieht der Autor nicht mit ein. Auch die durchaus vielfältigen Youtube-Kanäle stünden für eine erweiterte linguistische Untersuchung der Reichsbürgerszene noch zur Verfügung, allerdings mit einem deutlich erhöhten Technik- und Methodenaufwand. Doch auch aus dem vorhandenen Material zieht Schuppener interessante Schlussfolgerungen, die in der weiteren Forschung über diesen Phänomenbereich ebenso aufgegriffen werden sollten wie von Behörden.

Für den behördlichen Umgang mit der Reichsbürgerszene ist die angenommene hohe Gewaltaffinität von zentraler Bedeutung. Doch welche Rolle spielt sie in den Texten der Reichsbürger? In gleich zwei Kapiteln analysiert der Autor Aspekte von Gewalt und Bedrohung. In den untersuchten Schriften, die der Selbstdarstellung dienen, ist Gewalt in der Regel etwas, das nicht von den Reichsbürgern ausgeht. Vielmehr sehen sie sich selbst als Opfer einer gewalttätigen Szene von „Staatsterroristen“, denen es Widerstand zu leisten gilt (S. 27–35), was bedeutet, sich zu wehren. In den Texten findet sich allerdings kein offener Aufruf zu Gewalt oder gewalttätigem Widerstand, wobei fraglich bleibt, ob es sich dabei um strategische Entscheidungen angesichts öffentlich zugänglicher Texte handelt, um der potenziellen Verfolgung durch die Sicherheitsbehörden keinen Vorschub zu leisten. Letztlich ließe sich dies nur verifizieren, indem rein interne Kommunikation zum Vergleich herangezogen würde.

Die hier beschriebene Umkehr von Gewalt und Gewalterfahrung lässt sich mit einem weiteren interessanten Perspektiv- und Positionswechsel verbinden, dem Schuppener linguistisch auf die Spur gekommen ist. In den Zuschriften an Behörden drehen die Reichsbürger die eigentlich typische Hierarchie um: Sie sind es, die Anordnungen treffen, die Rechtsordnungen darlegen oder (vermeintlich) juristische Akte erwirken – und nicht die Behörden, die sie adressieren. Diese verstehen sie vielmehr als untergeordnete, eben nicht staatlich verfasste Stellen. Die angeschriebenen Beamten und Mitarbeiter markieren sie als Einzelpersonen oder als Teile einer illegitimen oder gar verbrecherischen Organisation. Schuppeners Beobachtung ist relevant, zum einen um die Szene insgesamt besser zu verstehen, zum anderen um zu überdenken, wie Behörden mit Reichsbürgern umgehen, soll heißen: kommunizieren, sollten. Denn in den letzten Jahren gingen Erstere zunehmend dazu über, die Schreiben aus der Szene zu ignorieren, um sich nicht auf die Diskussionen über den Fortbestand des Deutschen Reiches einlassen zu müssen. Ausgehend von seinen Forschungsergebnissen stellt Schuppener nun die berechtigte Frage, ob man damit nicht die Illusion der Reichsbürger von der Hierarchieumkehr noch weiter stütze.

Ein weiteres wichtiges Ergebnis von Schuppeners linguistischer Untersuchung betrifft die inhaltliche Konturierung der Reichsvorstellungen und der ideologischen Kohärenz. Vor allem im Kapitel 4 zu Hochwert-, Fahnen- und Stigmawörtern wird deutlich, dass die Texte der Reichsbürger vor allem der Abwertung der existierenden Ordnung dienen, weniger der (positiven) Selbstbeschreibung ihres Gegenentwurfs. Bei Hochwertwörtern handelt es sich um Begriffe, die in einer Gesamtgesellschaft positiv konnotiert sind, etwa „Freiheit, Gerechtigkeit [und] Solidarität“ (S. 61). Fahnen- und Stigmawörter hingegen wirken als Absicherung von Überzeugungen nach innen. Fahnenwörter sind solche, die vor allem innerhalb einer Bewegung anerkannt sind, während Stigmawörter zur Abgrenzung von anderen Gruppierungen verwendet werden. In den sehr umfangreichen Textsammlungen, mit denen Schuppener in diesem Kapitel arbeitet, sind es vor allem die Stigmawörter, die eine quantitative und qualitative Bedeutung haben, während Hochwert- und Fahnenwörter sehr viel seltener auftauchen. Es geht also in den untersuchten Schriftstücken vor allem darum, die herrschende Ordnung zu delegitimieren und diejenigen, die (noch) nicht zur Szene der Reichsbürger gehören, abzuwerten. Die gefundenen Stigmawörter teilt Schuppener in drei Wortfelder ein, die die Delegitimierung des gegenwärtigen Staates als verschwörerisches Unterdrückungsregime abbilden: „oppression“, „crime“ und „higher/secret powers“. Angesichts dessen, dass Verschwörungsideologien kennzeichnendes Merkmal der untersuchten Szene sind, ist dies nicht sehr überraschend. Doch das Ungleichgewicht zwischen positiver und negativer Lexik ist bemerkenswert. Sollten sich diese Ergebnisse auch in weiteren Forschungen erhärten lassen, dann sind Reichsbürger nicht primär über geteilte Ideologie und Gegenentwürfe zu verstehen, sind diese doch höchstens rudimentär ausgeprägt. Es gilt womöglich vielmehr, die Rhetorik von Bedrohung und Widerstand zu entziffern, um nachzuvollziehen, was die Bewegung zusammenhält.

Der Zusammenhang von Sozialer Bewegung, Sprache und Subjektivierung lässt sich nur in der Zusammenarbeit von verschiedenen Fächern – Politikwissenschaft und Soziologie, Linguistik, Sozialpsychologie, Recht und auch Geschichte – genauer fassen.

Nun lässt sich fragen, was für die gesellschaftswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen der Reichsbürger aus dem vorgestellten Buch zu ziehen ist. Die Analyse der Reichsbürgersprache hilft dabei, eine immer noch diffuse Szene besser zu begreifen. Einzelbefunde von Schuppener können in größere Forschungskontexte integriert werden. Denn weiterhin ist zu klären, was die Existenz und Attraktivität der Szene über unsere Gegenwartsgesellschaft insgesamt verrät. So gibt es die sehr plausible These, dass gerade die Reichsbürger mit ihrer starken Stellung von Recht und Pseudo-Recht eine Reflexion gesamtgesellschaftlicher Verrechtlichungsprozessen sind.[3] Die Prominenz des Hochwertwortes „Wahrheit“, die Schuppener im Lexik-Kapitel herausstellt, dockt an Überlegungen aus anderer Richtung, nämlich zum „libertären Autoritarismus“,[4] an, die das hochindividualisierte Erkenntnissubjekt als zentral für verschwörungsideologische Gegenwartsphänomene ausgemacht haben. Dieses Feld sollte interdisziplinär weiterbearbeitet werden, denn der Zusammenhang von Sozialer Bewegung, Sprache und Subjektivierung lässt sich nur in der Zusammenarbeit von verschiedenen Fächern – Politikwissenschaft und Soziologie, Linguistik, Sozialpsychologie, Recht und auch Geschichte – genauer fassen. Vor allem können so auch Thesen erarbeitet werden, die das engere Feld der „gespenstischen“[5] Reichsbürgerbewegung ebenso wie die Gesellschaft, in der diese Bewegung florieren kann, genauer kartieren.

  1. Tobias Ginsburg, Die Reise ins Reich. Unter Rechtsextremisten, Reichsbürgern und anderen Verschwörungstheoretikern, 2., überarb. Aufl., Bonn 2023; Jan Rathje, Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten. Vom Wahn des bedrohten Deutschen, Münster 2017; Dirk Wilking (Hg.), „Reichsbürger“. Ein Handbuch, Potsdam 2017.
  2. Walter Fuchs / Andrea Kretschmann, Gegengründungen. Antidemokratische Staatsverweigerung, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 39 (2019), 2, S. 227–252; Christoph Schönberger / Sophie Schönberger (Hg.), Die Reichsbürger. Verfassungsfeinde zwischen Staatsverweigerung und Verschwörungstheorie, Frankfurt am Main / New York 2020.
  3. Walter Fuchs / Andrea Kretschmann, Recht als Imagination und Symbol, in: Schönberger/Schönberger (Hg.), Die Reichsbürger, S. 127–158.
  4. Carolin Amlinger / Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin 2023.
  5. Christoph Schönberger / Sophie Schönberger, Die Reichsbürger. Ermächtigungsversuche einer gespenstischen Bewegung, München 2023.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Henriette Liebhart.

Kategorien: Gewalt Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kommunikation

Abbildung Profilbild Anette Schlimm

Anette Schlimm

Anette Schlimm, PD Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte in München. Sie forscht zu verschwörungsideologischem Souveränismus seit den 1970er-Jahren, zu ländlichen Gesellschaften in Europa im langen 20. Jahrhundert und zur regionalen Zeitgeschichte (© Universitätsbibliothek Augsburg, Anatoli Oskin).

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