Moritz Meister | Rezension |

Zur diagnostischen Gefühlskultur der Gegenwart

Rezension zu „Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend“ von Laura Wiesböck

Abbildung Buchcover Digitale Diagnosen von Wiesböck

Laura Wiesböck:
Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend
Österreich
Wien 2025: Zsolnay
176 S., 22,00 EUR
ISBN 978-3-552-07542-9

Trauma, toxisch, triggern – Wörter wie diese sind inzwischen fester Bestandteil des Begriffsinventars, mit dem viele Menschen, online wie offline, über Lebenskrisen und zwischenmenschliche Konflikte sprechen. In Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend analysiert die Soziologin Laura Wiesböck ebenjene gegenwärtige Melange aus therapeutischen Diskursfragmenten auf Social Media. Die Autorin, Jahrgang 1987, hat an der Universität Wien promoviert und ist auf die Themen soziale Ungleichheit, Gendergerechtigkeit und digitale Arbeitswelt spezialisiert. Seit 2018 ihr erstes Buch In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen erschienen ist, zählt sie zu den medial präsentesten Gesichtern einer – jungen und weiblichen – soziologischen Wissenschaftskommunikation. Das vorliegende Sachbuch adressiert eine breite Öffentlichkeit jenseits der fachwissenschaftlichen Community. Das verhandelte Phänomen ist eine so markante Signatur unserer Gegenwart, dass Wiesböcks Buch eine gewinnbringende Lektüre für unterschiedliche Leserschaften – vor allem mit sozialwissenschaftlichem und psychologischem Fachhintergrund – ist.

Digitale Diagnosen ist in sechs thematische Schwerpunkte gegliedert, die durch gemeinsame Leitthesen verbunden sind. Die Themen der einzelnen Abschnitte sind: Online-Diagnosen zwischen Enttabuisierung und Kommerzialisierung, die Inflation psychologischer Begriffe, Erfahrungsexpertise Betroffener, Illness Appropriation, Selfcare als Wohlstandsphänomen sowie Healing als fortlaufendes Wachstumsversprechen. Die Kapitel bauen kaum aufeinander auf, wodurch man sie auch unabhängig voneinander lesen kann. Ihre zentralen kritischen Thesen führt die Autorin im Einleitungskapitel ein, um sie im abschließenden „Plädoyer für zwischenmenschliche Ambivalenz und Trost“ (S. 138 ff.) zu elaborieren und zu verallgemeinern. Kritik am neoliberalen Status Quo sowie eine starke Sensibilität für die Gender-Aspekte der behandelten Themen finden sich in allen Kapiteln.

Eigeninitiative Krankheitszuschreibung

Ausgangspunkt ist für Wiesböck die Beobachtung einer diagnostischen Gefühlskultur, in der Menschen ihr emotionales Erleben mittels klinisch-psychologischen Ausdrücken wie Trauma, ADHS oder Anxiety eigeninitiativ in krankheitswertigen Formen artikulieren. Dieses Phänomen möchte die Autorin in seinen sozialen Funktionen verstehen. Dazu beschreibt sie zunächst die entlastende Wirkung, die von einem (selbst-)diagnostischen Label ausgehen kann und die in Zeiten übermäßiger Eigenverantwortung besonders attraktiv erscheint. Zugleich – und hier liegt ein Spannungsverhältnis – werden (spezifische) Diagnosen als neue Form sozialen Kapitals valorisiert und kommerzialisiert. Vormals beziehungsweise vorgeblich entstigmatisierende Diskurse schlagen dabei mitunter in neue kompetitive Felder sozialer Distinktion um. Auf Selbstdiagnosen folgt allerdings nicht selten der Vorwurf, leichtfertig zu einer Bagatellisierung des Leids der ‚tatsächlich‘ Betroffenen – also professionell diagnostizierter Personen – beizutragen.

Wiesböck zeichnet die zumeist auf Social Media ausgetragenen Debatten nach, ohne sich auf eine Seite zu stellen. Wichtiger ist für sie, die Anlässe und Ursachen derartiger Legitimierungs- und Konkurrenzzwänge nachvollziehbar zu machen. Dabei folgt das Buch dem Prinzip: Verständnis für individuelle Akteur*innen, Kritik für gesellschaftliche Strukturen. So deutet Wiesböck zum Beispiel die „zum Teil wetteifernd anmutenden Erzählungen über persönliche Traumata […] als Kampf um Anerkennung“ (S. 56) in einem ungerechten und ausbeuterischen System. Im Kern umkreist das Buch somit die Frage, wie wir Formen von Unzulänglichkeit, Schmerz, Trauer, Verletztheit und Beziehungsproblemen gegenwärtig miteinander und mit uns selbst verhandeln.

Zur Eigendynamik von Social Media

Den Hauptgrund für die Ausbreitung therapeutischer Diskurse sieht Wiesböck in der neoliberal-kapitalistischen Verfasstheit europäischer und nordamerikanischer Gesellschaften (dies ist der räumliche Horizont des Buches) und speziell in deren zentralen Kommunikationsmedien: privaten digitalen Plattformen. Social-Media-Nutzung erhöhe die Tendenz zu Ängstlichkeit und Depressivität,[1] zudem seien die Plattformen gezielt suchterzeugend designt und ökonomisierten die Intimsphäre ihrer Nutzer*innen, etwa durch Influencer-Marketing.[2] In Wiesböcks Schilderungen wird ein überhitztes Kommunikationsklima spürbar, das von vorschnellen Urteilen und einer Sehnsucht nach Eindeutigkeit geprägt ist. Dies stellt nicht zuletzt, wie die Autorin im Schlusskapitel betont, eine Gefahr für das demokratische Miteinander dar. Gleichzeitig schaffe die Online-Welt allerdings auch Räume, in denen sich zum Beispiel marginalisierte Gruppen über örtliche Distanz hinweg solidarisieren oder Jugendliche spielerisch unterschiedliche Identitätsentwürfe ausprobieren könnten. Hier zeigt sich der explizite Anspruch der Autorin, Ambivalenzen zuzulassen und auszuhalten.

Aus kulturpsychologischer Sicht möchte ich zum Verständnis von Social Media nachdrücklich ergänzen, dass es sich um die wohl potenteste Werbemaschinerie der Menschheitsgeschichte handelt. Das heißt – jenseits oberflächlich-behavioraler Manipulationstechniken, die ebenfalls zum Einsatz kommen – in einem tieferen kulturellen Sinn: In diesem Raum zirkulieren Identitätsnormen und entsprechende Affektangebote in leicht konsumierbarer – insbesondere bildlicher – Form.[3] In den letzten Jahren haben unzählige Influencer*innen, Startups und Großkonzerne den ‚Psycho‘-Bereich mit Schlagworten wie Mental Health, Wellbeing, Selfcare, Resilienz, Achtsamkeit usw. gekapert und in Warenform gegossen, zum Beispiel durch Retreats, Bücher, Coachingprogramme oder Apps.[4] Wiesböck zufolge hängt die Entstehung dieser umfangreichen Self-Help-Konsumkultur mit dem Versagen des US-amerikanischen Gesundheitssystems zusammen, ein diskursiver ‚Import‘ via Social Media könne hierzulande einem weiteren Abbau sozialstaatlicher Strukturen und der Privatisierung des Gesundheitswesens Vorschub leisten.

Die klinisch-psychologische Einordnung der auf Social Media referenzierten Diagnosen zeigt: Es werden mehrheitlich einigermaßen sozialkompatible Störungsbilder verhandelt – das heißt relativ milde Formen von ADHS, Autismus, Zwangs- und Angststörungen –, während schwere Ausprägungen oder gravierendere klinische Störungen (zum Beispiel Borderline, Schizophrenie, paranoide oder dissoziale Persönlichkeitsstörungen) nach wie vor tabuisiert sind. Letztere sind mit Begriffen wie Selbstverletzung, Kindswohlgefährdung, Fremdunterbringung usw. verknüpft, die sich auf Social Media wohl kaum vermarkten lassen. Wie die sozialpsychiatrische Forschung gezeigt hat, ist eine prekäre sozioökonomische Lage, wie beispielsweise Wohnungslosigkeit, ein zentraler Risikofaktor für die Entwicklung schwerwiegender psychischer Erkrankungen.[5] Dies unterstreicht eine weitere von Wiesböcks kritischen Beobachtungen: Über die Bewahrung und Optimierung seiner Mental Health zu sprechen, erscheint als weißes Mittelschichtsphänomen.

Die Autorin steht vor der Herausforderung, Vereinnahmungen und Missinterpretationen ihrer Thesen verhindern zu müssen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn das Buch verhandelt Themen, die polarisierende Stammtischparolen nahelegen, etwa ‚Social-Media-Wokeness macht unsere Kinder krank‘ oder ‚die Gen Z will nur nicht mehr arbeiten‘. Vermutlich um dem entgegenzuwirken, ist das Buch sprachlich-stilistisch in einem größtenteils erklärenden und einordnenden Gestus verfasst. Auch wenn es immer wieder konfrontative Passagen gibt, ist die Grundhaltung eher versöhnlich-bedacht als angreiferisch. Eine solche abwägende, nuancierte Haltung ist im digital wie gesamtgesellschaftlich überhitzten Diskursklima Mangelware. Sie sorgt für eine angenehme Leseerfahrung, weil Wiesböck jene kurzschlussartigen Kritiken und Lösungsvorschläge vermeidet, die in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung gehäuft auftreten.

Die soziale Konstruktion psychologischer Diagnosen

Einen kritischen Punkt möchte ich hervorheben: Unzureichend behandelt Wiesböck meines Erachtens das Spannungsfeld zwischen der lebensweltlichen Leiderfahrung Betroffener und dem, was die klinische Psychologie als eigenes kommunikatives System ‚daraus macht‘. Gegenwärtig dominiert in der Psychologie ein naturwissenschaftliches Verständnis, in dem Störungsbilder als fixe ‚Gegenstände‘ begriffen werden, die man wie körperliche Erkrankungen standardisiert erfassen und behandeln kann. Kulturpsychologisch ist es dagegen essenziell, Leidenszustände in einen soziokulturellen Kontext zu setzen. Das Buch schneidet dieses Thema unter anderem im Kapitel „Erfahrungsexpertise und die fachliche Autorität von Betroffenen“ (S. 62 ff.) an, wird seiner eigentlichen Tragweite beziehungsweise Sprengkraft aber nicht gerecht. Wiesböck scheint sich der Problematik der sozialen Konstruktion zwar grundsätzlich bewusst zu sein, wenn sie einleitend das Beispiel der Homosexualität anführt, die bis 1990 im Diagnosekatalog der WHO geführt wurde. Dennoch bezieht sie sich in ihrer Argumentation – wohl um für eine breite Öffentlichkeit anschlussfähig zu bleiben – immer wieder auf psychologische Studienergebnisse, die sozialwissenschaftlichen Ansprüchen nicht immer gerecht werden. Eine tiefgreifende Dekonstruktion des medizinisch-psychologischen Komplexes samt seiner epistemischen Voraussetzungen oder gar eine antiableistische Kritik an deren struktureller Gewalt darf sich der/die Leser*in von Digitale Diagnosen also nicht erwarten.

An dieser Stelle öffnet sich ein weites Feld für sozialwissenschaftliche und kulturpsychologische Untersuchungen, die Wiesböcks grundlegende und wichtige Beobachtungen produktiv ergänzen beziehungsweise ausdifferenzieren könnten, etwa durch Analysen der Selbstdeutungen Betroffener, der konkreten User*innen-Praxen in unterschiedlichen digitalen Dispositiven oder auch der bildlich-medialen Sinnebene der verhandelten Themen.[6] Bemerkenswerterweise findet sich im ganzen Buch keine einzige Abbildung, obwohl das beschriebene Phänomen vorwiegend auf hochgradig visuellen Medien wie Instagram oder TikTok stattfindet.

Vielseitigkeit, Teilhabe und Solidarität als gesellschaftlicher Selbstzweck

Digitale Diagnosen ist in einem klaren und zugleich angenehm bescheidenen Maß programmatisch. So hält Wiesböck abschließend fest: 

„Insgesamt stehen die Ökonomisierung und Kapitalisierung von Innenwelten und zwischenmenschlicher Zuwendung in direktem Widerspruch zu den Grundbedürfnissen für menschliches Wohlbefinden. Um psychisches Leiden langfristig zu lindern, ist eine Gesellschaftsform, in der Beziehungen und emotionale Zuwendung eigennützigen und leistungsorientieren Austauschverhältnissen unterliegen, wenig dienlich.“ (S. 158) 

Das Anliegen des Buches ist es, explizit zur Debatte zu stellen, welches Menschenbild und welche gesellschaftlichen Normalitätsentwürfe digitale Diagnoseräume eigentlich verteidigen. Würde sich der Fokus auf soziales Miteinander und verantwortungsvolle Beziehungsgestaltung verlagern, könnte auch das von der Self-Help-Industrie übermäßig strapazierte individuelle Selbst etwas durchatmen: Wie wollen wir, nicht wie will ich, leben? Nicht immer muss man in eine professionelle Psychotherapie gehen, um ein Gegenüber zu haben, das aufmerksam und wertschätzend zuhört. Nicht immer braucht man ein Krankheitslabel, um Anspruch auf Fürsorge zu erheben. Vielseitigkeit, Teilhabe und Solidarität könnten ein kollektiver Selbstzweck sein, statt nur Mittel zur Aufrechterhaltung der Produktivität. Und nicht zuletzt gehören Unzulänglichkeit, Leiden und Scheitern zu den existenziellen Dimensionen des Lebens, die eben nicht ‚wegtherapiert‘ werden können.

Die originellste These des Buches besteht darin, deutlich zu machen, dass wir einerseits in Zeiten eines universellen und totalitären „healthism“ leben,[7] andererseits aber ausgerechnet klinische Kategorien die nahezu einzigen Diskursräume zu sein scheinen, in denen wir Unzulänglichkeits- und Leiderfahrungen artikulieren und einen legitimen Anspruch auf soziale Akzeptanz stellen können. Diese gegenwartssensible Beobachtung ist verdienstvoll und zeichnet das Buch, jenseits der genannten sozialwissenschaftlichen Kritikpunkte, aus. Tatsächlich zur Hand nehmen sollten Digitale Diagnosen all jene, die die Spielarten einer überhitzten und selbstreferenziellen Social-Media-Kultur verständlich erklärt bekommen wollen und dabei en passant einen bescheidenen, aber klaren Impuls zu aktuellen Fragen unseres sozialen Miteinanders erhalten möchten.

  1. Vgl. z.B. Jonathan Haidt, The Anxious Generation. How the Great Rewiring of Childhood Is Causing an Epidemic of Mental Illness, New York 2024.
  2. Wer hierzu Näheres erfahren möchte, muss jenseits des vorliegenden Buches weiterlesen. Vgl. z.B. Adam Alter, Unwiderstehlich. Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit, übers. von Stephan Pauli, Berlin 2018; Ole Nymoen / Wolfgang M. Schmitt, Influencer. Die Ideologie der Werbekörper, Berlin 2021.
  3. Vgl. Aglaja Przyborski, Bildkommunikation. Qualitative Bild- und Medienforschung, Berlin 2018.
  4. Moritz Meister / Thomas Slunecko, Digitale Dispositive psychischer Gesundheit. Eine Analyse der Resilienz-App „SuperBetter“, in: ZQF – Zeitschrift für Qualitative Forschung 22 (2021), 2, S. 242–265.
  5. Siehe z.B. Hans Joachim Salize, Soziale Klasse und psychische Erkrankung, in: Sozialpsychiatrische Informationen 51 (2021), 2, S. 16–21.
  6. Moritz Meister / Sarah Miriam Pritz / Aglaja Przyborski / Thomas Slunecko, Subjektfiguren der Gefühlsvermessung. Zur Bildlichkeit von Mood Tracking-Apps, in: FQS – Forum Qualitative Sozialforschung 26 (2025), 2, Art. 9 (im Erscheinen).
  7. Robert Crawford, Healthism and the Medicalization of Everyday Life, in: International Journal of Health Services 10 (1980), 3, S. 365–388.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Digitalisierung Gesundheit / Medizin Kommunikation Medien Öffentlichkeit Psychologie / Psychoanalyse

Abbildung Profilbild Moritz Meister

Moritz Meister

Moritz Meister, Psychologe, promoviert und unterrichtet an der Universität Wien und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten. In seiner kulturpsychologischen Dissertation forscht er mit qualitativen Methoden zu Stimmungstracking und Mental Health Apps. Darüber hinaus arbeitet er zu kritischer Umweltpsychologie und Fragen einer lebensrelevanten, gegenwartssensiblen und emanzipatorischen Psychologie in Forschung und Lehre.

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