Stephan Lessenich | Rezension |

Außer Kontrolle

Rezension zu „Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“ von Wolfgang Streeck

Abbildung Buchcover Zwischen Globalismus und Demokratie von Wolfgang Streeck

Wolfgang Streeck:
Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus
Deutschland
Berlin 2021: Suhrkamp
538 S., 28,00 EUR
ISBN 978-3-518-42968-6

Wolfgang Streeck hat ein Problem, das nicht wenige im universitären Betrieb auch gerne hätten: Er ist inner- wie außerhalb des wissenschaftlichen Feldes bekannt wie ein bunter Hund. Langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, ständiger Gast im deutschen wie internationalen Feuilleton, seit „Gekaufte Zeit“[1] öffentlich breit diskutierter Bestsellerautor und wissenschaftliche Referenzgröße für zahllose Beiträge zur politischen Ökonomie des Gegenwartskapitalismus, als Unterstützer von „Aufstehen“ zudem Teil einer freilich kurzlebigen Sozialbewegung – wer sich in den letzten Jahren nicht taub oder dumm gestellt hat, konnte Wolfgang Streecks Themen und Thesen nicht entgehen. Mit seinem neuen Werk wird die wissenschaftliche Prominenz und öffentliche Präsenz des Verfassers insofern zum Problem, als seine Positionen dem interessierten Publikum mittlerweile weitestgehend bekannt sind – weswegen der erste Leseeindruck von „Zwischen Globalismus und Demokratie“ der einer ermüdenden Redundanz ist. Der Kapitalismus im Endstadium seiner Selbstzerstörung, die Europäische Union als Mutter aller Schurkenstaaten, die neoliberale Internationale außer Rand und Band: Alles nichts Neues vom angry old man der deutschen Sozialwissenschaft.

Auf den nun zusätzlich vorliegenden 500 Seiten Text aus Streeckscher Feder begegnen einem die drei genannten Topoi auf Schritt und Tritt, keines der nicht weniger als 60 Unterkapitel, das nicht immer wieder aufs Neue die große europäische Elitenverschwörung im Dienst des globalen Kapitals beschwören würde. Die von Günther Nonnenmacher in seiner FAZ-Rezension des Bandes geäußerte Vermutung, „auch der Lektor“ habe sich wohl „nicht mit dem streitbaren Wolfgang Streeck anlegen“ wollen,[2] erscheint vor diesem Hintergrund nicht gänzlich unplausibel. Wobei der Lektor tatsächlich eine Lektorin war, die, wie der Autor selbst im Vorwort wissen lässt, ihm mit ihrem kämpferischen Einsatz „manche Mucken ausgetrieben“ habe; nur zu ahnen also, was den Leser*innen damit alles vorenthalten wurde. Aber bleiben wir lieber bei dem, was der Welt in gedruckter Form vorliegt – und wahrlich Stoff genug für eine intellektuelle Auseinandersetzung bietet.

Globalismus oder Nationalismus – das ist hier die Frage

Streecks Zentralargument, im Verlauf des Buches semantisch hundertfach variiert, lautet kurz gefasst in etwa so: Die kapitalistische Hyperglobalisierung der vergangenen zwei bis drei Jahrzehnte ist in eine schwere Krise geraten. Sie ist zwischen ihren systemischen Widersprüchen und den ihr begegnenden gesellschaftlichen Widerständen zerrieben worden, steckt fest im „skalenpolitischen Patt zwischen Internationalisierung und Renationalisierung“ (S. 108): Während der globalisierte Neoliberalismus „als Rezept für einen Neustart des kapitalistischen Akkumulationsprozesses“ (S. 83) versagt hat, sieht er sich mit einer ungeahnten populärdemokratischen Gegenbewegung konfrontiert, die auf die „Rückgewinnung gesellschaftlicher Kontrolle“ (S. 9) im Sinne einer sozialen Wiedereinbettung der Ökonomie zielt. Aus dieser Blockadesituation gibt es keinen – jedenfalls keinen gesellschaftlich produktiven – Ausweg „nach oben“, sprich in Richtung noch mehr kapitalistischen Universalismus und „elitären Globalismus“ (S. 11). Die Lösung der Strukturprobleme neoliberaler Globalisierung liegt vielmehr in einem entschiedenen Ausbruch „nach unten“: In der Etablierung einer neuen, horizontal-kooperativen internationalen Ordnung. Allein der Übergang zu einem konföderalen System souveräner Klein- und Mittelstaaten – einem „symmetrisch-polyzentrischen Nationalismus“ (S. 495) – könne die dringend gebotene, nicht anders als im partikularen Rahmen denkbare Neuauflage einer demokratischen Politik in egalitär-marktkorrigierender Absicht gewährleisten.

Keine Frage: Aus neomarxistischer Perspektive findet sich in dem Buch viel Diskutables, ja Zutreffendes. Denn in der Tat, die kapitalistische Ökonomie ist als zwanghaft expansive „Kapitalvermehrungswirtschaft“ (S. 106) zu verstehen, die jede „subsistenzwirtschaftliche Versuchung“ (S. 101) – es einfach irgendwann mal „mit dem Erreichten gut sein zu lassen und sich mit einem eingelebten […] Konsumniveau zu bescheiden“ (ebd.) – im Keim ersticken muss. Sie wirkt als „privilegierter Produzent systemischer Anpassungsforderungen an die politische Verfassung und das soziale Leben“ (S. 24 f.), welche im real existierenden Kapitalismus von staatlichen Institutionen bearbeitet werden, die sich stets Akkumulations- und Legitimationserfordernissen („partikularen Machtinteressen und allgemeinen Ordnungsinteressen“, S. 15) zugleich gegenübersehen. Eine entsprechend hin- und hergerissene Politik steckt prinzipiell, und im „stagnierenden Kapitalismus“ (S. 106) umso mehr, in einem veritablen Dilemma, „weil sie nicht mehr weiß, wie sie diesen und sich selbst, wen zuerst und wie beide zusammen legitimieren soll“ (S. 106). Ist dieser Strukturanalyse ohne Weiteres zu folgen, so sind auch viele der normativen Positionierungen Streecks aus Sicht des Rezensenten durchaus zustimmungsfähig: Etwa seine Kritik am „autoritären Liberalismus“ (S. 347) der Marktapologeten, am Technokratismus der Europäischen Union im Allgemeinen und ihrem vermeintlichen „Solidarprogramm“ (S. 370) nationaler Austeritätserzwingung im Besonderen, ebenso an der neuen europäischen Doppelbewegung von „Friedensnarrativ“ und Militarisierungstendenz (vgl. S. 134 ff., S. 350 ff.). In Übereinstimmung mit dem Autor würde auch ich behaupten, dass es „die steigenden Gemeinkosten kapitalistischen Fortschritts“ (S. 324) sind, die hinter den sogenannten Staatsschuldenkrisen der jüngeren Zeit stecken, und dass sich Staaten zur Finanzierung von öffentlichen Aufgaben, vulgo ihrer Staatshaushalte, das Geld nicht etwa mit Zins und Zinseszins von den Besitzenden leihen, sondern diese tunlichst effektiv besteuern sollten (vgl. S. 92). Auch der Hinweis auf die Bedeutung von ökonomischen Verteilungsfragen für gesellschaftliche Transformationsprozesse ist unbedingt richtig: „Ermahnungen an die Vielen, mit weniger zufrieden zu sein, aktueller denn je vor dem Hintergrund der sich aufbauenden Umweltkrise, können bei wachsender Ungleichverteilung zugunsten der Wenigen kaum auf Gehör hoffen.“ (S. 105)

So weit, so gut. Doch damit hat es sich dann auch schon in Sachen Einvernehmen. Denn nichts kann letztlich darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dem vorliegenden Buch in vielerlei Hinsicht, sowohl wissenschaftlich wie auch politisch, um ein befremdliches, ja verstörendes Werk handelt. Ein Werk, das deswegen, vor allem aber angesichts des Bekanntheitsgrads und der öffentlichen Wirkungsmacht seines Autors, eine gründliche kritische Würdigung verdient.

Die identitäre Ordnung der Gesellschaft

Die Irritation beginnt bereits beim Titel: Warum heißt es dort eigentlich „Zwischen Globalismus und Demokratie“? Verweist diese Entgegensetzung nicht genau genommen auf einen Kategorienfehler? Als Gegenstück zum „Globalismus“ müsste logischerweise der Begriff des „Nationalismus“ firmieren, wahlweise auch die im Buch immer wieder synonym dazu verwendeten Begriffe „Patriotismus“ oder „Protektionismus“. Alternativ wäre eine Wendung wie „Zwischen Autoritarismus und Demokratie“ analytisch folgerichtig gewesen. Dass sich der Autor (oder aber der Verlag?) für den im Grunde schiefen Globalismus/Demokratie-Gegensatz entschieden hat, ist keine sprachliche Petitesse. Denn hierin spiegelt sich bereits das manichäische Weltbild Streecks, das die Lektüre des Bandes so unangenehm macht – und das dessen radikal verkürzende, offensiv unterkomplexe Analyse trägt. Grautöne gibt es bei Streeck nicht, Schwarz-Weiß-Malerei ist seine Kunst. Der spätmoderne soziale Konflikt reduziert sich bei ihm entsprechend auf „Auseinandersetzungen zwischen Nationalisten und Internationalisten, Souveränitätsverteidigern und Integrationisten, Demokraten und Globalisten“ (S. 144). Und mit letzterer Bezeichnung der Konfliktachse ist dann auch im wertenden Sinne schon alles gesagt: Hier die Guten, die Kräfte der Demokratie – dort die Mächte des Globalismus, also die Bösen. Oder aber die Naiven, sprich nicht das Kapital selbst und dessen direkte Handlanger, sondern die „Kapitalversteher“ (S. 79) unter den sozialwissenschaftlichen Beobachter*innen[3] und die Moralapostel unter den politisch Handelnden. Aber auch das – ob nun naiv oder böse, „Kosmomoralisten“ (S. 56) oder Merkatotechnokraten (vgl. S. 30) – macht gar keinen Unterschied, letztlich sind alle Globalisten gleich, Differenzierungen würden das Bild von der „Globalisierungs-Einheitsfront“ (S. 120) nur stören. In der gegenüberliegenden Ecke des Rings aber, please welcome: die Demokraten, beziehungsweise die demokratische Internationale, zu lesen und zu verstehen als Inter-Nationale. Womit impliziert ist: Globalisten sind keine Demokraten, das schließt sich rein logisch, aber eben auch soziologisch und soziopolitisch, aus; Demokraten hingegen sind definitionsgemäß keine Globalisten. Man muss sich also schon entscheiden, für eines der beiden Lager, über die bei Streeck ein sozialwissenschaftlicher Unvereinbarkeitsbeschluss verhängt wird. Und damit dann auch gleich für das Gesamtpaket: Demokratie bedeutet Nationalstaat bedeutet Souveränität bedeutet Selbstbestimmung bedeutet Dezentralität bedeutet Partikularismus bedeutet small bedeutet beautiful. Umgekehrt gilt eine ebenso enge Kopplung, die entgegengesetzte Assoziationskette, die antagonistische Storyline: Globalismus ist gleich Einheitsstaat, Souveränitätsverlust, Fremdbestimmtheit, Zentralisierung, Universalismus, groß und schrecklich; ach so, und ist selbstredend das Andere der Demokratie.

So weit, so ungut, wird man an dieser Stelle bereits sagen müssen. Aber das ist ja erst der Anfang. Weiter geht es mit Streecks theoretischem Zugriff, der sich als eine – freundlich ausgedrückt – idiosynkratische Kreuzung von Politischer Ökonomie, Historischem Institutionalismus und quasi-realistischer Schule der Internationalen Beziehungen[4] darstellt, gepaart mit des Verfassers ganz persönlicher Lesart der „deutschen philosophischen Anthropologie“ (S. 180). Letztere stehe, so Streeck, für den „konstitutiven Partikularismus menschlicher Vergesellschaftung“ (ebd.), der wiederum „grundlegend“ (ebd.) für seine eigene Argumentation sei. Womit wir schon bei einem analytischen Kernproblem dieses Buches wären: Der vermeintlich anthropologisch gesetzten Option für einen „kommunitären Partikularismus“ (S. 208). Die waghalsige theoretische Beweisführung, dass „jede Gesellschaft […], die eine bleiben will“ (S. 438), des Protektionismus bedürfe, der wiederum allein nationalstaatlich bewerkstelligt werden könne, geht in etwa folgendermaßen: „Weltoffenheit“ sei eine wesensbestimmende „Grundbefindlichkeit“ (S. 185) der Gattung Mensch, die sich ihre Welt von Anbeginn an selbst gestalten müsse. Menschen schaffen sich, gleichsam notgedrungen, ihre eigene „Lebensweise“ (S. 182), die von ihnen, einmal eingerichtet, als soziale Identität verteidigt wird – als „ihr Recht, selber nach eigenen, zu ihrer Identität gehörenden Prinzipien zu bestimmen, ob und in welche Richtung sie ihre Identität und damit sich selber ändern wollen“ (S. 183 f., Hervorh. im Original). „Dasselbe“ Wesensmerkmal, so Streecks Behauptung, gelte „auch für Gesellschaften, und wahrscheinlich [!] in erhöhtem Maße.“ (S. 184) Damit aber liegt logisch auf der Hand:

„Der weltoffene Mensch braucht gerade wegen seiner Weltoffenheit eine Ordnung, auf die er sich verlassen kann. […] Aus diesem Grund kann es eine weltoffene Gesellschaft nicht wirklich geben; Gesellschaften haben Grenzen und produzieren Identitäten, die, weil der weltoffene Mensch nicht ohne sie leben kann, von ihm libidinös, im Ernstfall religiös besetzt werden.“ (S. 185, Hervorh. Im Original).

Auf diese atemberaubende, geradezu im Handumdrehen herbeigezauberte „Theorie“ identitärer Ordnung der Gesellschaft gründet Streeck seine gesamte Programmatik eines „Pluralismus partikularer Ordnungen“ (S. 223), an dessen menschgemäßem Wesen die postneoliberale Welt genesen soll. Entwickelt und ausformuliert wird diese (staats-)politische Programmatik unter Rekurs auf zwei Handvoll Bezugsautoren: als Hauptdarsteller Gibbon, Polanyi, Keynes und Simon, in den Nebenrollen Rodrik, Jörke und Joas, als Souffleure Carl Schmitt und Otto Hintze. Der Autor wird die kritische Reflexion auf diese Auswahl als Ausweis wahlweise von political correctness oder Identitätspolitik abtun und -kanzeln, aber sei’s drum: Die Riege weißer Männer aus dem 18. bis 21. Jahrhundert, auf deren Einsichten und Sichtweisen Streecks Analyse wesentlich aufbaut, bietet die Gewähr dafür, dass wesentliche Strukturmerkmale demokratisch-kapitalistischer Gesellschaftsdynamik schlichtweg aus dem Blick geraten – von Geschlechterkämpfen über die Geschichte des Kolonialismus und Neokolonialismus bis hin zum fossilistischen Energieregime. In der politökonomischen Analyse jenes „Standardmodells“ (S. 43) des demokratischen Nationalstaats beziehungsweise der kapitalistischen Demokratie (vgl. ebd.), welches im Buch als historischer Bezugspunkt und normativer Maßstab einer postneoliberalen Rekonstruktion von Staatlichkeit aufgerufen wird, dreht sich alles um die sagenumwobene „Prosperitätskooperative“ (S. 113) von Kapital und Arbeit, wird der westeuropäische (um nicht zu sagen: deutsch-österreichische) Korporatismus der 1960er- und 1970er-Jahre zum Sehnsuchtsort gesellschaftlicher Gestaltungsfantasien.

Als „zentrale Friedensformel“ (S. 40) dieses Gesellschaftsmodells wird dabei das allgemeine Wahlrecht ausgemacht, mit dem auch den Subalternen „dieselbe Kompetenz in Bezug auf Grundfragen des politischen Zusammenlebens, also Fragen der sozialen Gerechtigkeit“ (ebd.), zugebilligt worden sei. Geht man allerdings – der Überzeugung des Autors folgend – davon aus, dass auch schon die Identitätscharakter annehmende Lebensweise der sozialen Demokratie seligen Angedenkens gesellschaftlich verteidigt werden musste, der politisch-soziale Frieden auch im korporatistischen Wohlfahrtsstaat also nicht auf Weltoffenheit, sondern auf Schließung beruhte, dann erscheint das Bild des alten Staates vor der neoliberalen Revolution deutlich weniger glänzend.[5] „In der Nachkriegsvergangenheit der mixed economy bezog der Kapitalismus seine Legitimität aus politischen Versprechungen einer beruhigten Existenz im Windschatten der kreativen Zerstörung und unbehelligt von ihr“ (S. 106, Hervorh. im Original): Genau so ist beziehungsweise war es. Der Vollständigkeit halber müsste allerdings dazu gesagt werden, dass der Wind der Zerstörung anderswo wehte, nämlich außerhalb der reichen demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften und jenseits ihres geschützten Bereichs „fairer Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen“ (S. 58). Die „geniale Friedensformel“ (S. 113) dessen, „was im westlichen Herrschaftsbereich nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, eine bis dahin für unmöglich gehaltene friedliche Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie“ (ebd.), bestand in historischen Kompromissen zu Lasten Dritter: Frauen, Migrant*innen, dem Globalen Süden, den natürlichen Ressourcen des Planeten. All das aber kommt in Streecks Erzählung sozial-demokratischer Identitätsbildung nicht vor.

Der Volksversteher

Der eingeschränkte Blick auf die Welt ist Streecks – nicht nur in diesem Buch – offen zur Schau gestellter Selbstverortung auf Seiten des Plebs, des gemeinen Volkes, des „Common Sense“ (S. 40) der common people geschuldet. Der „kapitalverstehenden Ökonomie“ (S. 92) setzt er eine volksverstehende – was soll man sagen – Soziologie entgegen, die sich allerdings nicht nur in Sachen „Weltoffenheit“ reichlich anti-soziologisch gibt. Besonders plastisch und drastisch äußert sich das, wie bereits angedeutet, in der doppelt eindimensionalen Darstellung von „Globalisten“ und „Demokraten“. Bei den Globalisten kennt der Autor keine Parteien, Nationalitäten und Konfessionen mehr, sondern nur noch Neoliberale: Ob nun katholischer Sozialist (Delors) oder protestantische Pragmatikerin (Merkel), ob französischer Eliteschulabsolvent wie Macron oder italienischer „Goldman-Sachs-Alumnus“ (S. 341) wie Draghi – alle in einen Sack stecken und draufhauen, man trifft immer jemand Richtigen. Bei den anderen, den Guten der Geschichte, erscheint die analoge Entdifferenzierung freilich analytisch wie politisch deutlich brisanter. Keine Zeile, geschweige denn einen eigenen Abschnitt (der den Umfangsbraten denn auch nicht mehr fett gemacht hätte), widmet der Soziologe Streeck der höchst differenten Sozialstruktur der von ihm identifizierten und pauschal als antineoliberal etikettierten populären Widerstandsbewegungen.

Nicht nur die von Streeck kurzerhand mit eingemeindeten Weltsozialforumsaktivist*innen (vgl. S. 269 f.) werden sich bedanken, mit Politprominenz wie „Orbán, Salvini, Tsipras, Le Pen, Mélenchon, Kaczýnski“ (S. 340) in Streecks Schmelztiegel einer zur „Verteidigung des Nationalstaats“ (S. 11) angetretenen „plebejisch-populistischen Gegenbewegung“ (ebd.) geworfen zu werden. Die Liste der genannten „Populisten“ – für Streeck eine „diffamierende Fremdbezeichnung“ (S. 29) des Widerstands gegen die „Merkato-Technokratie“ (S. 30) – selbst ist es, die aufhorchen lässt, finden sich darauf doch bekennende Linksrepublikaner in einem Atemzug mit unverhohlenen Neofaschist*innen. Eben darum aber scheint es dem Autor zu gehen: Das politische Handeln von weit links bis ganz rechts außen stehenden Akteur*innen für seine Zwecke zu vereinnahmen, indem sie alle gleichermaßen als die staatlichen Selbstregierungsrechte reklamierenden, nationaldemokratischen „Verteidiger egalitär-redistributiver Politik“ (S. 12) dargestellt werden. Das aber ist eine Hufeisentheorie der „‚populistischen‘ Verteidigung der Demokratie“ (S. 107), die nicht anders als infam genannt werden kann.

„Demokratie gegen Globalisierung“ (vgl. S. 122 ff.) lautet die Parole, die Streeck den politischen Repräsentant*innen der Volksklassen, einschließlich der „als un- oder gar antidemokratisch diagnostizierten neuen Rechtsparteien“ (S. 125), unterstellt. Fleißig strickt der sich als organischer Intellektueller der „kleinen Leute“ (S. 27) gerierende Emeritus an der Erzählung vom „‚einfachen Volk‘, das sich in vielfältigen Formen und Farben politisch wiederentdeckte und neu konstituierte“ (S. 122) – und damit am Bild der nationalistischen Internationale als dem eigentlichen diversity movement unserer Zeit. Als dessen gemeinsames Kennzeichen gilt ihm „ein tiefes Misstrauen gegen ‚Öffnungen‘ aller Art mit ungewissem Ende, von Freihandel bis Migration, begleitet von einer Wiederentdeckung lokaler Solidaritätsgemeinschaften und lokaler Gerechtigkeit, auf örtlicher, regionaler, nationaler und Klassenbasis, in allen denkbaren Kombinationen“ (S. 123).[6] Ob Lega Nord oder La France Insoumise, von den Brexiteers bis zur AfD: Ihnen allen attestiert Streeck das „Ziel einer Wiederherstellung demokratischer Selbstregierung und Selbstbestimmung“ (S. 30), den „Willen, Kontrolle zurückzugewinnen und die Möglichkeit redistributiv-protektionistischer Demokratie […] zu verteidigen“ (S. 27), die „Repräsentation der Unterklasse“ (S. 37), eine „subversive antineoliberale […] Politik“ (S. 56). Und das nicht nur einmal oder am Rande, sondern immer wieder und an zentralen Stellen des Buches. Systematisch betreibt der Autor die Umdefinition alt- und neu-rechten Ressentiments in ein hehres volksdemokratisches Anliegen, adelt er selbst pro- und protofaschistische Parteien und Bewegungen in Europa zu Heroen der „Verteidigung der Demokratie als plebejisch-egalitärer Schutzinstanz gegen die politische Entfesselung einer neuen Welle beschleunigter kapitalistischer Modernisierung und Rationalisierung“ (S. 107) – und nicht etwa gegen Ausländer und Schwule, Aussteiger*innen und Schwache, Asylanten und Sozialschmarotzer. Die Feinde seiner Feinde – Brüssel, Menschenrechtsrhetoriker, die „Kräfte der Grünen Mitte“ (S. 164) – sind Streecks Freunde: „Heimatfreunde“ (S. 387), die für und gegen alles Mögliche sein dürfen, Hauptsache, ihr partikularistischer Widerstand gilt den „Eliten“ und „Europa“.

Alternative für Europa

Apropos Europa: So wie Streecks abgrundtiefe Abneigung der Europäischen Union, zumal der Währungsunion, gilt, so fixiert ist er doch andererseits in seiner gesamten Analyse auf die Länder und Völker des alten Kontinents. Seine politische Zukunftsvision der „Kleinstaaterei“ (vgl. S. 387 ff.) von „Keynes-Polanyi-Staaten“ (S. 437 ff.), sprich einer internationalen Ordnung, in der friedfertige, nicht-imperiale, demokratische politische Einheiten allenfalls mittlerer Größe als „souveräne Nachbarstaaten genossenschaftlich, das heißt freiwillig und gleichberechtigt zusammenarbeiten“ (S. 509), ist eine realistische Alternative – wenn überhaupt – nur für die Staatsgesellschaften Europas, bei Lichte besehen aber wohl eher, was Wunder, eine Alternative allein für Deutschland. Im Weltmaßstab erscheint Streecks postneoliberale Ordnungsvorstellung schlechterdings absurd, vernachlässigt sie doch genau das, was der Autor ansonsten beständig – und völlig zu Recht – einfordert, nämlich die analytische Berücksichtigung von Macht und Machtbeziehungen. „Nichts macht den vulgäridealistischen Charakter eines Großteils der modernen Demokratietheorie deutlicher als ihre völlige Vernachlässigung der materiell-wirtschaftlichen Machtverhältnisse“ (S. 111): Mit diesem Verdikt ist über Streecks eigenen Vulgäridealismus in Sachen zukünftiger Weltordnung eigentlich alles gesagt. Und dennoch muss man, der Offensichtlichkeit des Widerspruchs wegen, ausdrücklich nachfragen und -haken: Wie kann man in einem Werk, in dem es letztlich um nichts anderes geht als um die „Rolle des Nationalstaats im Kontext des internationalen Staatensystems“ (S. 96) – „das zentrale Thema dieses Buchs“ (ebd.) –, von der globalen ökonomischen Position der europäischen kapitalistischen Demokratien vollständig abstrahieren? Wie kann man von Europa als „eine Art großer Schweiz“ (S. 49) fabulieren, ohne auf die Idee zu kommen, dass sich das Schweizer Modell nicht globalisieren lässt?

Die Antwort muss wohl lauten: Das geht nur, wenn man so sehr Antiglobalist ist, dass man dem Rest der Welt, den schlappen 150 Ländern und den paar Milliarden Menschen außerhalb Europas, keinerlei Bedeutung beimisst, und zwar in analytischer wie normativer, politischer wie sozialer Hinsicht. Nur dann lässt sich nämlich so tun, als ob alle kleinen Staaten der Welt zu prosperierenden Volkswirtschaften, „wie Dänemark, Schweden und die Schweiz“ (S. 388), werden könnten. Nur dann lässt sich seitenlang anerkennend über Katzensteins „Small States in World Markets“ (1987) referieren (vgl. S. 453 ff.), ohne auch nur zu erwähnen, dass die comparative advantages der von diesem untersuchten kleinen Staaten (wohlgemerkt: Schweden, Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Österreich und die Schweiz) in Sachen Anpassungsfähigkeit an veränderte politisch-ökonomische Bedingungen ja aus einem Staatensystem resultierten, in dem es gerade nicht nur kleine Staaten gab – in einer Welt verallgemeinerter „Kleinstaaterei“ wäre ihr faktischer Wettbewerbsvorteil hingegen zunichte gemacht gewesen. Streeck hingegen propagiert hier genau das, was er am (vermeintlichen oder tatsächlichen) Zentralismus der Europäischen Union und am (wohl tatsächlichen) Einheitsdenken liberaler Ökonomik so vehement verurteilt: one size fits all, jeder Staat könnte zum demokratisch-kapitalistischen Musterstaat werden, wenn er nur in die Modellwelt „gleicher Freiheit bei gegenseitiger Unabhängigkeit“ (S. 225) entlassen würde.

Ein Politökonom und historischer Institutionalist, der von einem seit Jahrhunderten radikal asymmetrisch organisierten Staatensystem nichts wissen will; der eine letztlich völlig dekontextualisierte Perspektive auf Europa als „the World’s Scandinavia“[7] vertritt; der suggeriert, dass Deutschland auf sein äußerst erfolgreiches wirtschaftsimperiales Projekt verzichten könnte, um gleich und frei mit Griechenland und Rumänien, Pakistan und Kamerun zu ko-existieren und zu ko-operieren; der die Völker Europas dazu aufruft, die institutionellen Fesseln der EU abzustreifen, um „ihr Glück auf eigene Faust“ (S. 177) und – seid doch mal spontan! – „es einmal mit einem Staatensystem zu versuchen“ (S. 489), das für alle gleichermaßen – Arm und Reich, Hauptsache klein – Heimatschutz institutionalisiert: Ein solcher Wissenschaftler argumentiert nicht etwa mutig[8], sondern mutwillig.[9]

Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche!

Bleibt noch ein Aspekt zu erwähnen, der nach historischer Aufarbeitung geradezu schreit, für gewöhnlich aber, und so auch in den mir bekannten bisherigen Rezensionen zum vorliegenden Buch, kollektiv beschwiegen wird. Man fühlt sich geradezu an „Des Kaisers neue Kleider“ erinnert, und auch ich hätte den Schwindel weiterhin auf sich beruhen lassen, wenn Wolfgang Streeck nicht auch in „Zwischen Globalismus und Demokratie“ wieder so ostentativ und aggressiv über die „dem Neoliberalismus in den Jahren des ‚Dritten Weges‘ zugelaufene, kosmopolitisch gewendete ehemalige Linke“ (S. 508) herziehen würde. Im Lichte dessen wird man denn doch einmal auf den Sachverhalt hinweisen dürfen, dass Streeck, selbst mitgerissen von der neosozialdemokratischen Modernisierungswelle der Jahrtausendwende, seinerseits über Jahre hinweg Plädoyers für ebenjene „Rückkehr der Ökonomie in die Demokratie einer ‚guten Gesellschaft‘“[10] lanciert hat, die er heute mit der Inbrunst und Schärfe des sprichwörtlichen, von der Neuen Frankfurter Schule (namentlich Hans Traxler) karikierten Kritikerelchs verdammt.

Ohne auf diesem Punkt allzu ausführlich herumreiten zu wollen: Es würde doch wohl als ein Akt intellektueller Redlichkeit und persönlicher Souveränität gelten können, wenn ein Autor, der nun wieder 500 Seiten lang die historische Tatsache geißelt, dass „der neoliberale Raubbau an den Institutionen des sozialen Schutzes die Masse der Bevölkerung zu neuen Bemühungen antreiben sollte“ (S. 104), einmal darauf zu sprechen käme, dass er zu Zeiten der rot-grünen „Reformregierung“ selbst meinte, von der „Anerkennung wirtschaftlichen Zwanges als charakterbildende Kraft[11] reden zu müssen.

Doch damit genug der stellvertretenden Vergangenheitsbewältigung.[12] Weitaus wichtiger erscheint es mir, zum Abschluss dieser Rezension in die nähere Zukunft zu blicken, und hierfür ist weitaus bedeutsamer, was Streeck heute sagt – und wie er es sagt. Denn das gilt es doch noch einmal ausdrücklich hervorzuheben: In nicht wenigen Passagen des Buches bewegt sich dessen Autor, und sei es nur kokettierend (bloß: womit?), hart an der Grenze zu einer neurechten Semantik beziehungsweise, aktueller, am Rande des „Querdenker“-Sprechs. Da liest man etwa, dass „die Parteien des Standardmodells […] und ihre medialen Sprachrohre in der vermachteten Öffentlichkeit der Postdemokratie“ (S. 123) die neue populärdemokratische „Politisierungswelle mit all ihnen umfangreich zur Verfügung stehenden staatlichen Mitteln: propagandistisch-kulturell, juristisch, institutionell“ (ebd.) bekämpften. Da wird gegen die „gleichgeschaltete Einheitlichkeit zwischen formal souveränen Staaten“ (S. 240) ebenso polemisiert wie gegen die angebliche „Öffnung der deutschen Grenzen“ (S. 342) durch Bundeskanzlerin Merkel oder gegen die „US-amerikanischen Riesenunternehmen als Spinnen im Zentrum eines Netzes weltweiter […] Kapitalakkumulationsketten“ (S. 274). Streecks Verweis auf die „kosmopolitische Selbstauflösung“ (S. 144) der europäischen Nationalgesellschaften klingt verdächtig absichtlich nach „Deutschland schafft sich ab“[13]. Und an einer zentralen Stelle des Buches formuliert Streeck sein identitätstheoretisches Basisargument in einer Weise, die fast wörtlich an den Ethnopluralismus der Nouvelle Droite erinnert:

„Politisch kann Weltoffenheit nur aus einer bestehenden (Teil-)Welt heraus praktiziert werden, in Anerkennung des Andersseins anderer (Teil-)Welten und, als Zugeständnis an diese, in Anerkennung eines Rechts auf souveräne Selbstverwaltung ihrer Identitäten – eines Rechts, das man anderen nur zugestehen kann, wenn man es sich selbst zugesteht und für sich in Anspruch nimmt, wie auch umgekehrt.“ (S. 185)

Wie auch immer es anderen Leser*innen mit diesem Zitat gehen mag: Dem Rezensenten bereitet es ein Schaudern, und wahrlich kein wohliges. Dazu passt, dass Streeck spät im Buch, aber dann eben doch, die Katze aus dem Sack seiner Liebe zur „demokratischen Kleinstaaterei“ lässt, wenn er wie nebenbei bemerkt, in kleinen Staaten sei, „ceteris paribus, die Bevölkerung homogener als in großen“ (S. 487, Hervorh. im Original). Und das ist wohl der springende Punkt: „Weltoffenheit“ meint dann eben, dass nur Gleich und Gleich sich gerne gesellen, und dass soziale Gleichheit ohne ethnische Homogenität letztlich nicht zu haben ist.

Erst von hier aus betrachtet wird Streecks Generaldiagnose des wahrgenommenen Kontrollverlustes nationalstaatlicher Politik als Quelle populärdemokratischen Widerstands in ihrer gesamten Tragweite lesbar: Die Völker Europas haben, so Streecks Überzeugung, die Kontrolle über ihre „nationalen Kollektivschicksale“ (S. 155) eingebüßt – und der nationalstaatliche Furor nicht nur Wolfgang Streecks, sondern einer ganzen Reihe mehr oder weniger prominenter deutscher Sozialwissenschaftler, ist außer Kontrolle geraten. Streeck persönlich, so will mir scheinen, versteht die Welt nicht mehr: Kopfschüttelnd – doch gleichwohl immer besserwissend – beobachtet er der Welten Gang. Von der Welt da draußen, außerhalb Europas (und Nordamerikas), versteht er nichts – aber das will er auch gar nicht. Was er sich wünscht, ist, dass die Menschen, und mit ihnen deren Nationalgemeinschaften, wieder Herr im eigenen Haus werden mögen (vgl. S. 192). Ach, hätte er doch wenigstens einen weißen Mann mehr gelesen: Sigmund Freud.

  1. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013.
  2. Günther Nonnenmacher, Seht nur, wie die Institutionen zerfallen, online unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/wolfgang-streecks-buch-zwischen-globalismus-und-demokratie-17439361.html, aktualisiert am 19.7.2021, zuletzt aufgerufen am 19.8.2021.
  3. Streeck selbst hält von „Gendern“ offenkundig nichts – Ehrensache, dürfte es doch seiner Ansicht nach zu jenen Instrumenten „kultureller Modernisierung“ (S. 123) gehören, die den Wert „eingelebter Lebensweisen“ (S. 334) missachten (und damit geradezu zwangsläufig den demokratischen Widerstand, in diesem Fall von sogenannten Antigenderisten, herausfordern).
  4. Nullmeier verweist in seinem Beitrag zu diesem Buchforum darauf, dass Streeck sich in diesem Feld „nicht auf dem Stand der Fachliteratur“ bewegt. Vgl. Frank Nullmeier, Steckengeblieben, online unter: https://www.soziopolis.de/steckengeblieben/buchforum-zwischen-globalismus-und-demokratie.html, 3.8.2021, zuletzt aufgerufen am 20.8.2021.
  5. Vgl. Stephan Lessenich, Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem, Ditzingen 2019; ders., Doppelmoral hält besser. Die Politik mit der Solidarität in der Externalisierungsgesellschaft, in: Berliner Journal für Soziologie 30 (2020), 1, S. 113–130.
  6. Vgl. zu Vorstellungen exklusiver Solidarität auch schon Wolfgang Streeck, Competitive Solidarity: Rethinking the „European Social Model“, MPIfG Working Paper 99/8, Köln 1999 – damals allerdings noch wettbewerbsökonomisch statt volksklassenpolitisch gerahmt (mehr dazu unten).
  7. Göran Therborn, Europe in the 21st Century: the World’s Scandinavia?, in: Irish Studies in International Affairs 8 (1997), S. 21–34.
  8. Wie etwa Nonnenmacher dem Autor das bei aller Kritik im Einzelnen attestiert (vgl. Fußnote 2).
  9. Selbiges gilt übrigens auch, das soll an dieser Stelle zumindest nicht unerwähnt bleiben, für Streecks Positionierung in Sachen „Umweltkrise“ (S. 105; vgl. S. 480 ff.): Ansonsten für jede Form demokratisch-souveräner Staatsintervention zu haben und ein erklärter Verächter gerade auch des moralischen Globalismus, plädiert er hier ganz ungeniert – und im Schutze Webers – für eine rein wertrationale, gesinnungsethische „Lösung“ des Problems. Der Kampf gegen den Klimawandel könne nicht „von den auf rationale Kalkulation angewiesenen staatlich-bürokratischen Großapparaten“ (S. 483) geführt werden, sondern allein als ein „emotional-sentimentales Projekt“ (S. 485) der „Mobilisierung normativ-moralischer kollektiver Energien“ (S. 480) gelingen. Klimaschutz wird damit zu einem Programm moralischer Erneuerung und kollektiv-individueller Tugendhaftigkeit erklärt – eine umweltpolitische Kapitulationserklärung, die im wissenschaftlichen Feld ihresgleichen sucht. Und aber auch sofort findet, denn bemerkenswerterweise propagieren einen ähnlich auffälligen Aufruf zu staatlichem Umweltattentismus die ähnlich nationaletatistisch argumentierenden Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt, (dies., Gescheiterte Globalisierung. Ungleichheit, Geduld und die Renaissance des Staates, Berlin 2018; vgl. Stephan Lessenich, Das Elend der Nationalökonomie. Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt versuchen sich an einer Kritik der Globalisierung, online unter: https://www.soziopolis.de/das-elend-der-nationaloekonomie.html, 21.11.2018, zuletzt aufgerufen am 21.8.2021.
  10. Wolfgang Streeck, Einleitung: Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie?, in: ders. (Hg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie: Herausforderungen für die Demokratietheorie, Frankfurt/New York 1998, S. 11–58 (hier S. 42).
  11. Ebd., S. 42 (Hervorhebung im Original).
  12. Wer mehr darüber wissen will, lese den instruktiven Beitrag – einschließlich des Hinweises auf Streecks damalige Empfehlung zur Etablierung eines Niedriglohnsektors – zum „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ in der (deutschen) Wikipedia, eine vom Autor selbst, ausweislich von 19 entsprechenden Verweisen im hier rezensierten Buch, äußerst geschätzte Quelle; https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCndnis_f%C3%BCr_Arbeit,_Ausbildung_und_Wettbewerbsf%C3%A4higkeit, zuletzt aufgerufen am 21.8.2021.
  13. Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Demokratie Europa Globalisierung / Weltgesellschaft Macht Staat / Nation

Stephan Lessenich

Stephan Lessenich, Soziologe, ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und dort Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS).

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