"Die Herausgabe einer Währung gehört nicht in die Hände eines Privatunternehmens, denn sie ist ein Kernelement staatlicher Souveränität."
Tweet von Olaf Scholz, Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland, 16. Juli 2019
Politik findet bekanntlich auf Twitter statt. Auch der deutsche Finanzminister macht damit Ernst und greift für wichtige Stellungnahmen auf den Kurznachrichtendienst zurück. Am 16. Juli des vergangenen Jahres reagierte Olaf Scholz auf die Pläne des amerikanischen Digitalgiganten Facebook, Libra einzuführen – digitales Geld, herausgegeben und verwaltet von einem Konsortium privater Investoren rund um den Zuckerberg-Konzern. Nutzerinnen und Nutzer der Social-Media-Plattform Facebook und angeschlossener, lizensierter Geldbörsen-Apps sollen Libra-Guthaben ab 2020 für sekundenschnelle Zahlungen an Freunde, Bekannte und Unternehmen verwenden können. Zu Facebook gehören neben der Webseite gleichen Namens auch nutzstarke Netzwerke wie Instagram oder WhatsApp, das 75 Prozent der Bevölkerung in Deutschland[1] und über 1,5 Milliarden Menschen weltweit[2] zum Austausch von Text-, Audio- und Videonachrichten verwenden. Die insgesamt etwa 2,8 Milliarden aktiven Nutzerinnen und Nutzer[3] bilden einen gewaltigen Pool potenziell Interessierter – einen Vorteil, über den viele andere digitale Währungen wie etwa Bitcoin keineswegs verfügen. Dementsprechend groß war von Anfang an die Aufmerksamkeit, die das ambitionierte Projekt auf sich zog.
Schnell formierte sich zivilgesellschaftlicher ebenso wie politischer Widerstand. Dabei ging es zunächst um Vorbehalte gegen den mit dem Angebot eines eigenen Zahlungssystems einhergehenden Datengewinn für den Zuckerberg-Konzern, der ja schon im Zusammenhang mit den dubiosen Praktiken einer Firma wie Cambridge Analytica für einen veritablen Skandal gesorgt hatte.[4] Hinzu traten Bedenken über die politisch und ökonomisch unabsehbaren Folgen, beabsichtigt Facebook doch nicht einfach nur, einen neuen Bezahldienst einführen. Vielmehr ist das Ziel, eine neue globale Digitalwährung zu schaffen. Mit wenigen Klicks sollen zukünftig keineswegs Euro oder Dollarbeträge von klassischen Bankkonten verschoben werden (Libra ist keine hippe Banking-App, die Sparkassen attraktiver machen soll), sondern in Libra berechnete Beträge. Würde es gelingen, zumindest einen hinreichend großen Teil der Milliarden Nutzerinnen und Nutzer der Plattform zum Halten eines Libra-Guthabens zu bewegen, entstünde eine beachtliche neue, digitale und global verfügbare Geldmenge.[5]
Libra und die Bedenken des Finanzministers
Mit der Veröffentlichung eines ersten Entwurfs zur Einführung von Libra im letzten Juni traf Facebook einen Nerv des politischen Betriebs. Während dezentrale Kryptowährungen wie Bitcoin vor allem wegen ihres Einsatzes bei illegalen Geschäften, nicht aber als ernstzunehmende Währungsalternativen für Aufsehen sorgten,[6] gingen Geldpolitiker und Aufsichtsbehörden nun in die Offensive. Ihre Alarmiertheit hatte neben der neuartigen Konstruktion der Kryptowährung auch damit zu tun, dass der Konzern aus dem Silicon Valley zur Realisierung des Projekts andere international erfolgreiche Unternehmen wie Visa, Mastercard, Paypal, Vodafone, Booking und Spotify ins Boot geholt hatte. Es stand die Befürchtung im Raum, ein solches Konsortium könne zu einem mächtigen globalen Player im Finanzsektor werden. Ein Akteur dieser Größenordnung hätte allein aufgrund seiner Reichweite von mehreren Milliarden Kunden sowie der Tatsache, dass er im Besitz von großen Mengen an Pfund, Euro und Dollar wäre, die Möglichkeit, maßgeblich globale ökonomische Dynamiken zu beeinflussen.[7]
Doch soll es in dieser Serie von drei Artikeln weder um die (etwaigen) Auswirkungen des Projekts Libra gehen, noch um die Frage, wie wahrscheinlich seine Umsetzung überhaupt ist.[8] Im Zentrum unseres Interesses stehen vielmehr die Vorstellungen, die in der Diskussion über Libra aufgerufen werden, insbesondere zur Rolle von Staaten und privaten Akteuren innerhalb der bestehenden Geldordnung. Werfen wir hierzu noch einmal einen Blick auf den Tweet von Olaf Scholz: „Die Herausgabe einer Währung gehört nicht in die Hände eines Privatunternehmens, denn sie ist ein Kernelement staatlicher Souveränität.“
Mit dieser Aussage wollen wir uns auseinandersetzen. Freilich nicht, um die Bedeutung einer einzelnen Kurznachricht maßlos zu überzeichnen, sondern weil ihr Inhalt, das heißt die Überzeugung, Währungen seien wesentlich für die Souveränität von Staaten, sicherlich nicht nur die Meinung eines sozialdemokratischen Finanzministers wiedergibt. Dass viele Bürgerinnen und Bürger davon ausgehen, es seien staatliche und nur staatliche Institutionen, die mit der Herausgabe des Geldes betraut seien, dafür gibt es zahllose Hinweise.[9] Zu fragen ist allerdings, ob diese Annahme der Wirklichkeit entspricht.
Die Nachricht von Olaf Scholz enthält genau genommen drei Thesen: Erstens behauptet der Minister, die Schöpfung von Geld läge in staatlichen Händen.[10] Zweitens artikuliert er die politische Forderung, dieser Status Quo dürfe nicht angetastet werden – er postuliert normativ, die Herausgabe einer Währung gehöre nicht in die Hände eines privaten Unternehmens. Drittens führt der Finanzminister als Begründung für seine Ablehnung womöglich privater Geldschöpfung an, das Geldschöpfungsmonopol sei eine tragende Säule staatlicher Souveränität.
An diese dritte These ließe sich nun zweifelsohne eine problematisierende Analyse des Konzepts „staatlicher Souveränität“ anschließen. Doch möchten wir die kontroversen Facetten des Souveränitätsbegriffs an dieser Stelle nicht thematisieren, weil uns etwas anderes an dieser dreigliedrigen These bedeutsam erscheint, die Behauptung nämlich, das staatliche Geldmonopol sei bedroht. Nehmen wir also zunächst schlicht an, Souveränität bezeichne die Hoheit staatlicher Institutionen, über die Ausgestaltung sowie Regelung der Belange, die das Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger innerhalb des nationalstaatlichen Territoriums garantieren, bestimmen zu können. Unnötig zu sagen, dass es eine solche Durchgriffstiefe von Staatlichkeit aus ganz unterschiedlichen Gründen nie in absoluter Form gegeben hat noch gibt, sondern allenfalls in graduellen Abstufungen.
Monetär souverän ist, wer über Zahlungsfähigkeit verfügen kann
Berücksichtigt man die Bedeutung des Geldes für die Operationen staatlicher Institutionen und die Belange seiner Bürgerinnen und Bürger, leuchtet es freilich ein, dass staatliche Souveränität von der Verfügungsgewalt über Geld oder die Geldordnung berührt sein könnte. Um in einer geldvermittelten Ökonomie wie der unseren – manche nennen sie auch „Kapitalismus“ – agieren zu können, also handlungsfähig zu sein, muss man zahlungsfähig sein. Dafür ist wiederum die Verfügung über Geld unabdingbar. Das gilt für alle Haushalte, auch für Staaten. Zahlungsfähigkeit kann man auf vier Arten herstellen, wobei privaten Haushalten in der Regel (legal) nur die ersten beiden Möglichkeiten offen stehen: (1) man kann entweder Geld einnehmen (das heißt es freiwillig überlassen bekommen, als Geschenk oder im Austausch gegen Güter oder Dienstleistungen am Markt); (2) man kann es sich von jemandem leihen; (3) es jemandem wegnehmen beziehungsweise anderen eine Zahlungspflicht auferlegen oder aber: (4) man kann Geld herstellen. Einkommen (durch Tausch oder Geschenk), Darlehen, Aneignung durch Zwang oder Geldschöpfung können Haushalte zahlungsfähig machen.
Während private Akteure durch Einkommen oder Darlehen zahlungsfähig werden müssen, steht es Staaten offen, ebenso auf Zwangsmittel zurückzugreifen, also durch Enteignung oder Steuern zahlungsfähig zu werden. Das Privileg, diese Mittel legal anwenden zu dürfen, lässt sich zweifelsohne im Kontext staatlicher Souveränität verorten. Scholz spricht nun aber explizit von Geldschöpfung – wörtlich: „der Herausgabe der Währung“ – als einer Säule staatlicher Souveränität. Und auch dieser Verknüpfung lässt sich einiges abgewinnen, eröffnet doch erst die Fähigkeit, Geld zu erzeugen, die Option, von Souveränität innerhalb der Zwänge einer Geldwirtschaft in emphatischem Sinne zu sprechen. Wenn Souveränität etwas mit (freilich nicht absoluter, sondern allenfalls gradueller) Handlungsautonomie zu tun hat, dann verlangt diese Autonomie in der Geldwirtschaft das Vermögen, über die eigene Zahlungsfähigkeit verfügen zu können. Freilich wird man die meisten Akteure einer Geldwirtschaft im Hinblick auf diese Verfügungsgewalt als monetär abhängig einzuschätzen haben. Diese Abhängigkeit ist tatsächlich bedeutsam für die Situation, in der wir alle als Privatpersonen stehen. Wir hantieren mit endlichen Budgets, die aufgebraucht werden können, was uns dazu zwingt, zu arbeiten, uns zu verschulden oder um Almosen zu bitten. Seien es nun Geschenke, Darlehen oder Einkommenszahlungen, faktisch hängt unsere Zahlungsfähigkeit davon ab, dass andere vorher zahlungsfähig waren und uns diese Zahlungsfähigkeit überlassen. Ebenso fallen Zwangsentnahmen von Geld unter den Begriff monetärer Dependenz, sind doch auch solche Maßnahmen darauf angewiesen, dass es überhaupt Mittel gibt, die entnommen werden können.
Allein die Fähigkeit, neue Geldmittel zu erzeugen, ändert die Situation monetärer Abhängigkeit grundlegend. Aus diesem Grund wird die Kapazität zur Geldschöpfung gemeinhin als Kern dessen gesehen, was monetäre Souveränität heißt,[11] das heißt eines Konzeptes, das seinerseits mindestens so umstritten ist, wie die ganze Idee staatlicher Souveränität selbst. Allerdings gehört diese monetäre von Anfang an zum Diskurs über moderne nationalstaatliche Souveränität,[12] so schon bei Jean Bodin, der in seinem frühneuzeitlichen Klassiker Sechs Bücher über den Staat die Bestimmung der Währung, die Festlegung des Geldwertes sowie die Verfügung über die Zusammensetzung von Münzen wie selbstverständlich zu den Hoheitsrechten des Staates zählt.[13]
Nach technisch elaborierten Definitionen von „monetärer Souveränität“ in derzeitigen Debatten ist die Verfügungsgewalt über die Herausgabe einer Währung freilich nur ein Aspekt der Kontrolle von Geld.[14] Doch macht es nicht nur für die Kontextualisierung des Tweets, der freilich nicht selbst den Begriff „monetäre Souveränität“, sondern nur die Herausgabe des Geldes ins Spiel bringt, durchaus Sinn, von Geldschöpfung als einem Schlüsselelement monetärer Souveränität auszugehen. Tatsächlich rechtfertigt die Frage der Geldschöpfung den Einsatz einer ebenso anspruchsvollen wie riskanten Qualifizierung gewisser Entscheidungskapazitäten als „Souveränität“.
Wer im Gegensatz zur Abhängigkeit von verfügbarer Zahlungsfähigkeit ernsthaft monetäre Souveränität beanspruchen will, der muss ohne Frage – in den Worten Scholz’ – über die Herausgabe der Währung verfügen können. (Monetäre) Autonomie über die eigenen (ökonomischen) Handlungen in einer Geldwirtschaft besitzt schließlich nur, wer neues Geld schöpfen kann, also: zahlen kann, ohne ein Budget zu haben und ohne auf andere Budgets angewiesen zu sein. Wer kein neues Geld erzeugen kann, läuft demgegenüber Gefahr, sein Budget auszugeben und damit seine Zahlungsfähigkeit aufzubrauchen. Er oder sie muss dann neues Geld einnehmen, es verdienen oder sich leihen, um eigene Zahlungsfähigkeit wiederherzustellen. Zwar können Staaten ihren Bürgerinnen und Bürgern Geld in Form von Steuern abverlangen, doch auch das bedeutet, es von anderen zu nehmen, das heißt – monetär gesehen – abhängig zu sein. Wer hingegen neues Geld herausgeben kann, dessen Zahlungsfähigkeit besteht unabhängig von der bereits existierenden Zahlungsfähigkeit anderer, die ihm überlassen werden müsste. Das Konzept der monetären Souveränität bezeichnet insofern eine von der Zahlungsfähigkeit anderer Akteure unabhängige Form der Zahlungsfähigkeit. Monetär souverän ist, wer über seine eigene Zahlungsfähigkeit verfügen kann;[15] und das kann ceteris paribus nur jemand, der zahlungsfähig ist, wenn er zahlungsfähig sein will, weil er mit neu geschaffenem Geld zu bezahlen vermag. Verfügungsgewalt über Geldschöpfung ist vielleicht noch keine hinreichende, sicherlich aber eine notwendige Bedingung monetärer Souveränität.
Spätestens im Lichte dieses Arguments lässt sich der dritten These in Scholz’ Tweet eine gewisse Plausibilität attestieren: Es geht ihm, bei Lichte besehen, um monetäre Souveränität; deren Kern – die Geldschöpfung – dürfe nicht in privaten Händen liegen. Auch der französische Wirtschaftsminister hat ganz im Sinne von Scholz vor einer „Privatisierung“ von Währungsemissionen als einem Angriff auf die „monetäre Souveränität“ und damit auf die „Unabhängigkeit“ von Staaten gewarnt.[16] Und selbst diejenigen, die Praktiken privater Geldschöpfung etablieren wollen, sehen den Punkt, auch wenn sie die Gefahr zu relativieren trachten: Als Reaktion auf ein Treffen zwischen Verantwortlichen der Digitalwährung und Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Zentralbanken in der Schweiz im September 2019 verfasste David Marcus ebenso wie der Finanzminister einen Tweet. Marcus, aus der Vorstandsetage des Bezahldienstleisters Paypal kommend, leitet das Projekt Libra. Unter der Überschrift „About Monetary Sovereignty of Nations vs. Libra“ bemerkte er: „Recently, there’s been a lot of talk about how Libra could threaten the sovereignty of Nations when it comes to money.“ Derartige Sorgen seien jedoch unbegründet, versicherte Marcus, würde die Fähigkeit zur Herausgabe neuen Geldes doch auch mit Libra in den Händen der Staaten verbleiben. Im Libra-System, so Marcus, gäbe es gar keine Geldschöpfung: „As such there’s no new money creation, which will strictly remain the province of sovereign Nations.“[17]
Bemerkenswert an dieser Verlautbarung ist der Umstand, dass Geldschöpfung – money creation – wie selbstverständlich als ein Bestandteil staatlicher Souveränität aufgefasst, zugleich aber betont wird, er solle durch die Einführung von Libra keineswegs infrage gestellt werden. Demnach schienen Absichten wie normative Horizonte der privaten und der öffentlichen Hände im Einklang zu sein. Selbstverständlich ließe sich über die Natur und die Rechtschaffenheit dieser Absichten trefflich spekulieren, doch ist zuvor eine viel grundsätzlichere Problemstellung aufzurufen. Die Frage, auf die wir uns im Folgenden konzentrieren werden, muss nämlich lauten, ob die Behauptungen von Scholz und die Beschwichtigungen überhaupt zutreffen. Nicht auszuschließen, dass sie schon auf deskriptiver Ebene falsch sind.
Private Banken als Produzenten des Geldes…
Unser Geldsystem basiert in seiner gegenwärtigen Form auf zwei unterschiedlichen Sorten von Geld. Zum einen gibt es das Zentralbankgeld. Es steht zu einem kleinen Teil der Bevölkerung zur Verfügung, wenn und insofern sie Banknoten und Münzen gebraucht.[18] Unser Bargeld wäre also tatsächlich im engeren Sinne als „staatliches Geld“ zu bezeichnen, schlicht weil die Zentralbank keine privatwirtschaftliche Institution, sondern eine staatliche ist. Freilich macht das Bargeld in der Eurozone gerade einmal neun Prozent der gesamten verfügbaren Geldmenge aus. Zum anderen gibt es nämlich dasjenige Geld, das im Wesentlichen den Guthaben entspricht, die auf Spar- und Girokonten liegen. Dieses Geld bildet im allgemeinen Zahlungsverkehr den großen Rest. Zwar bezahlen die deutschen Bürgerinnen und Bürger ihre Einkäufe noch gerne in bar, nimmt man die insgesamt getätigten Zahlungen hinzu, also die Zahlungen von Unternehmen, Lohn- oder Mietüberweisungen, wird die große Bedeutung dieser Bankguthaben deutlich.
Physisch betrachtet ist das Guthaben bei privaten Banken ein elektronischer Datenbankeintrag, rechtlich betrachtet – und das ist wichtig – eine Schuld. Es handelt sich also um sogenannte Verbindlichkeiten. Ein Guthaben auf einem Konto ist im Prinzip nichts anderes als die Zusicherung der Bank, Zentralbankgeld bei Bedarf in einem festgelegten Umfang zur Verfügung zu stellen, sei es bei Abhebungen[19] oder Überweisungen, für die im Hintergrund Zentralbankgeld bewegt werden muss. Der größere Teil unseres Geldes ist folglich eine private Schuld, eine Art Vereinbarung, die ausschließlich zwischen zwei privaten Parteien (Kunde und Bank) getroffen wurde – und mit einer solchen privaten Vereinbarung kann man bezahlen.
Scholz (und auch Marcus, der Libra-Chef) scheinen zu unterstellen, die Herausgabe dieser privaten Vereinbarungen werde von staatlichen Institutionen gesteuert. Diese Vorstellung entspricht auch der Darstellung von Geldschöpfung in vielen älteren Ökonomielehrbüchern. Dort begegnet einem häufig ein Argument, das womöglich auch den beiden Kurznachrichten von Olaf Scholz und Marcus zugrunde liegt: Es führt ins Feld, Privatbankgeld sei ein Versprechen auf Zentralbankgeld. Folglich seien private Banken auch monetär abhängig von der Zentralbank. Also entscheide diese staatliche Institution nach festgelegten Maßstäben darüber, das eigentliche Geld, nämlich das Zentralbankgeld, herauszugeben. Genau diese Unterstellung einer Autonomie staatlicher Banken bei der Erzeugung von Geld wurde in den letzten Jahren allerdings nicht nur von Zentralbankern und kritischen Ökonominnen, sondern auch von Wirtschaftsanthropologen und Soziologinnen gründlich in Frage gestellt.
Ein prominenter Vertreter dieses Forschungszweiges ist Joseph Huber. Interessanterweise bedient sich der Wirtschaftssoziologe einer ähnlichen Wortwahl wie Olaf Scholz, stellt dessen Beschreibung des Status Quo allerdings auf den Kopf. Zwar bezeichnet auch Huber es als ein „Hoheitsrecht“ des Staates, „die Landeswährung zu bestimmen [und] das Geld in dieser Währung herauszugeben“.[20] Mithin sieht er diese Souveränität des Staates, ganz wie Scholz, durch den Einfluss privater Akteure herausgefordert. Aber selbst wenn sich Scholz und Huber normativ offenbar darin einig sind, welche Rolle dem Staat geldpolitisch zukommen sollte, könnte ihre jeweilige Beschreibung des Ist-Zustandes unterschiedlicher kaum ausfallen. Während Scholz zufolge ein Verlust von Souveränität erst durch die Einführung einer privaten Digitalwährung droht, ist für Huber dieser Verlust bereits Realität. Der Staat habe längst „Souveränität an die Banken abgegeben“,[21] indem er ihnen in Sachen Geldschöpfung das Ruder überließ. Huber behauptet, die Kausalität sei umgedreht: Entscheidungen über die Herausgabe des Geldes an die Privatwirtschaft lägen bereits bei Unternehmen, nämlich den privaten Banken.
Banken werden in Lehrbüchern manchmal als „Intermediäre“ bezeichnet, als Firmen, die zwischen Sparerinnen und Schuldnern vermitteln. Ganz so, als ob sie Geld von den sparenden Kontoinhaberinnen an interessierte Kunden verleihen würden. Olaf Scholz’ Vorgänger im Amt, Wolfgang Schäuble, hatte diese Vorstellung einmal in folgende Worte gefasst: „Der eine spart, der andere braucht Geld, das er noch nicht hat. Das muss organisiert werden. Das nennt man Bank. So einfach ist das.“[22] Dieses Bild ist allerdings falsch. Tatsächlich verwalten Banken unser Geld nicht nur. Bei der Kreditvergabe wird durch die Gutschrift einer bestimmten Summe stets neues Geld geschaffen. Die Bank muss nicht erst Geld einsammeln, um es an anderer Stelle verleihen zu können. Sie schafft diese Mittel selbst, durch eine einfache Buchung auf dem Konto. Weil wir mit den Schulden privater Banken bezahlen und solche Vereinbarungen keine anderen Konstruktionsmaterialien benötigen als eine Bilanz, in der sie verzeichnet und gespeichert werden, kann Geld in der Tat „aus dem Nichts“ erzeugt werden.[23] Man trägt einfach die gewünschte Summe in das Buchhaltungssystem der Bank ein.[24] Es kommt lediglich darauf an, diese neue Verbindlichkeit durch ein Vermögen gleicher Summe auszugleichen – schließlich darf die Bilanz nicht einseitig belastet werden (das ist das Grundprinzip einer solchen doppelten Buchführung). Wenn aber jemand einen Kredit beantragt, dann kann die Bank diesen Kredit – vereinfacht gesagt: ein Rückzahlungsversprechen – als Vermögen in ihrem Buchhaltungssystem registrieren und das geliehene Guthaben als neuen Kontostand der Schuldnerin buchen – und so Geld erschaffen. In einer stark vereinfachten Version der doppelten Buchführung sieht das dann so aus:
Deswegen ist Schäubles Bild der Banken als Logistikern von Spareinlagen völlig irreführend. Banken sind, wie es der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter einmal formulierte, nicht nur „Zwischenhändler“ des Geldes, sondern vor allem „Produzenten dieser Ware“.[25]
…und Taktgeber der Geldschöpfung
Diese Geldschöpfungsfähigkeit privater Banken ist im Übrigen absolut kein Geheimnis. Bis vor einigen Jahren meinten viele Kommentatorinnen und Kommentatoren des Banken- und Geldsystems freilich, man könne getrost darüber hinwegsehen. Das Argument, das wir ja bereits in den Thesen von Scholz und Co. ausgemacht haben, lautete, Banken seien in ihrer Zahlungsfähigkeit monetär von der Zentralbank ihres jeweiligen Währungsraumes abhängig. Wie viel Geld sie bei der Kreditvergabe erschaffen können, so die Annahme, hänge davon ab, wieviel Zentralbankgeld sie zuvor erhalten hätten. Tatsächlich müssen Banken ein Konto mit Zentralbankgeld führen. Über dieses Konto wickeln sie nämlich erstens Überweisungen zwischen Kundinnen verschiedener Banken ab. Hinter den Kulissen muss nämlich jede Zahlungsabwicklung per Geldüberweisung, die Kundenguthaben auf ein Konto bei einer anderen Bank transferieren soll, durch eine Überweisung von Zentralbankgeld – also einen Geldtransfer zwischen den Konten der Banken selbst – nachvollzogen werden. Zweitens eröffnet ihr Guthaben bei der Zentralbank (unbares Zentralbankgeld) den privaten Banken Zugang zu Bargeld (ebenfalls Zentralbankgeld), das von den Kunden zumindest in Deutschland noch gerne nachgefragt wird. Drittens schließlich sind Banken in vielen Währungsgebieten schlicht regulatorisch verpflichtet, eine gewisse Mindestreserve an Zentralbankguthaben vorzuhalten.
Diese formale Abhängigkeit hat lange Zeit die Überzeugung getragen, es sei letztendlich die Zentralbank, die durch ihre Geldschöpfung den Takt vorgebe – private Banken könnten sich nur innerhalb solcher, durch die Zentralbank „exogen“ vorgegebener Grenzen bewegen. Diese Doktrin monetärer Abhängigkeit privater Banken hat heute allerdings kaum noch Anhänger. Es waren nicht zuletzt die Zentralbanken selbst, die, unterfüttert durch entsprechende empirische Studien, mit zunehmender Offenheit auf die ganz anders geartete Realität der Gelderzeugung hingewiesen haben:[26] In Wahrheit scheren sich private Banken bei ihrer Kreditvergabe wenig um die verfügbaren Guthaben auf ihrem Zentralbankkonto, weil jeder Bedarf an zusätzlichen Mitteln routinemäßig durch Neuschöpfung von Zentralbankgeld ausgeglichen werden kann – und faktisch wird. Den Zentralbanken fehlt schlicht das Mandat, das Geldsystem durch eine Verknappung der Reserven in eine Zahlungskrise zu stürzen. In der Praxis bedeutet das, dass die privaten Banken den Takt der Geldschöpfung vorgeben – und nicht, oder nur in Ausnahmefällen, die Zentralbanken. Deswegen seien es, so konstatiert die Deutsche Bundesbank, vor allem die Nachfrage nach neuem Kredit sowie die Risiko- und Profitabilitätskalkulationen der privaten Banken, die bestimmen, wie viel Geld erschaffen wird – und für wen! Die Praxis der Geldschöpfung unterliege letztendlich weniger gesamtwirtschaftlichen Zielvorstellungen, als vielmehr der Nachfrage und dem „Gewinnmaximierungskalkül“.[27] Bei gegebener Nachfrage nach neuem Geld genießen, um es im Klartext zu sagen, private Banken folglich einen hohen Grad an Autonomie in Bezug auf die Entscheidung, ob sie diese Nachfrage bezahlen wollen oder nicht. Die Entscheidungskompetenzen darüber, wie viel Geld herausgegeben wird und an wen, sind de facto weitestgehend in die Hände privater Unternehmen gelegt.
Missverhältnisse privater Geldschöpfung
Die beschriebene privatwirtschaftliche Geldschöpfung wurde zumal in den letzten Jahren zunehmend als Quelle einer Reihe gravierender Probleme identifiziert. Der Grund dafür ist die ungeheure Intensität, mit der während der zurückliegenden vier Dekaden neue Zahlungsfähigkeit produziert wurde: So war im Jahr 1980 nicht einmal ein Prozent der heute in Europa verfügbaren Geldmenge vorhanden, in den Ländern der Eurozone weniger als sechs Prozent.[28] Entsprechend des primären Produktionsmodus dieses Geldes – die Kreditvergabe nach Profitabilitätskriterien – erlebte die ganze Welt über Jahrzehnte, wie die Bankkredite schneller wuchsen als die Wirtschaftsleistung.[29]
Dieses extrem beschleunigte Wachstum der Geldmenge erzeugt vor allem Probleme unter zwei Hinsichten, sorgt es doch sowohl für Instabilität wie für Ungleichheit.[30] Erstens ist eine Zunahme an Krediten – bei denen es sich ja um riskante Zahlungsversprechen handelt – immer auch mit einer Zunahme an Unsicherheit im ökonomischen und (falls diese Kredite von privaten Haushalten nachgefragt werden) sozialen Sinne verbunden. Zweitens hat sich die kreditäre Geldschöpfung insgesamt von produktiven Investitionen hin zur Finanzierung des Handels mit bereits existierenden Vermögenswerten verschoben; darauf haben nicht zuletzt Dirk Bezemers Studien hingewiesen, der diese Verlagerung als „debt shift“ bezeichnet.[31] Folglich hat die Geldschöpfung über Jahrzehnte nicht für industrielles Wachstum und allgemeine Wohlstandszuwächse gesorgt, sondern die Preise für Immobilien und Aktien in die Höhe getrieben. Diese Vermögenspreisinflation hatte eindeutige Verteilungseffekte, sind die Geldschöpfungsgewinne vor allem doch bei sehr wenigen Haushalten gelandet. Wir werden im dritten Teil unserer Artikel-Serie noch einmal auf diesen Problemkomplex zurückkommen, den wir mit dem Begriff der monetären Souveränität – inspiriert durch Olaf Scholz – aufrufen wollen.
Der Euro wird allerdings nicht nur maßgeblich von privaten Banken an die Märkte ausgegeben. Auch die Zahlungsfähigkeit von Staaten ist in der Eurozone auf eine Weise arrangiert worden, die Entscheidungsbefugnisse in die Hände privater Unternehmen und Investorinnen gelegt hat. Von daher äußert Olaf Scholz seine Bereitschaft, die staatliche Autonomie bei der Geldschöpfung zu verteidigen, ausgerechnet als Finanzminister einer Bundesrepublik, die sowohl privatwirtschaftlich gesteuerte Geldschöpfung für den Privatsektor akzeptiert hat, als auch willens war, die autonome Sicherung ihrer eigenen Zahlungsfähigkeit abzutreten – und zwar nicht an supranationale Organisationen, sondern wiederum an den Privatsektor. Mit dieser Architektur wird sich der nächste Text unserer Reihe über Missverständnisse und Missverhältnisse monetärer Souveränität in Europa auseinandersetzen.