Martin Saar | Rezension |

Die Gesellschaft der Singularitäten 6

Affekt und Singularität

Andreas Reckwitz:
Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne
Deutschland
Berlin 2017: Suhrkamp
480 S., EUR 28,00
ISBN 978-3-518-58706-5

Das enorme Anregungspotential von Andreas Reckwitz’ Buch Die Gesellschaft der Singularitäten ist schon wenige Wochen nach seinem Erscheinen so offensichtlich, dass es kaum mehr der Hervorhebung bedarf. Reckwitz ist gelungen, was sich alle zeitdiagnostisch orientierten Autorinnen und Autoren sozialwissenschaftlicher Texte wünschen. Er hat einen fundierten, mit langem Atem und vor dem Hintergrund fast einschüchternder Belesenheit geschriebenen Vorschlag gemacht, wie wir die Signatur unserer Zeit lesen können; und er hat damit nicht nur das soziologische Fachpublikum erreicht, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit, die sich von diesem Interpretationsvorstoß fesseln und inspirieren lässt. Die Grundthese ist bestechend klar und einprägsam: Unsere spätmoderne soziale Welt ist zentriert um den Wert des Besonderen und um Formen seiner Hervorbringung, und zwar in den verschiedensten Sektoren, in der Bildung, im Konsum, im Freizeitverhalten, am Arbeitsplatz. Überall zählen immer weniger die allgemeinen (oder allgemein definierten) Standards, Ziele, Vorgaben, Rollen und Kriterien als vielmehr das außergewöhnliche Profil, das einzigartige Angebot, das unvergessliche Erlebnis, die besondere Stadt und die unvergleichliche Persönlichkeit.

Dieses Muster beziehungsweise diese Logik, so kann Reckwitz in dieser Allgemeinheit überzeugend und in den Detailbeobachtungen faszinierend zeigen, hat zwar eine deutliche Herkunft (nämlich die „Kultur“ im weitesten Sinne) und eine Schichtenspezifik (nämlich die „neue Mittelklasse“), ist aber selbst inzwischen in unseren (das heißt westlichen Noch-Mittelstandsgesellschaften) zur gesellschaftsweiten Tendenz geworden, die das Private und das Öffentliche, das Ökonomische und das Kulturelle, die weichen Selbstverständnisse und die harten Produktionsverhältnisse prägt. Reckwitz᾽ eher thetische Einführung seines Narrativs fällt gleich am Anfang des Buches bereits so überzeugend aus, dass man fürchtet, die materialen Kapitel, die die einzelnen Funktionssphären abschreiten, könnte die hohe Plausibilität eher wieder verspielen. Doch erweist sich diese Sorge als unbegründet. Mit Ausnahme des Kapitels zur Politik, das etwas heterogener und dem Schema weniger gefügig wirkt,[1] reichern die Kapitel die panaromatische Erzählung kohärent an. Die idealtypische Figur der „Gesellschaft der Singularitäten“ offeriert also tatsächlich eine Perspektive, unter der ganz viele unterschiedliche soziale Phänomene zusammenzufassen und neu zu lesen sind. Damit ergibt sich eine elegant konzipierte Gesellschaftstheorie, die ihre empirische Anwendung und Fundierung gleich mitliefert, sich anschlussfähig und kritisierbar macht auch auf der Ebene neuester gesellschaftlicher Entwicklungen. Mehr kann eine soziologische Monographie wohl kaum leisten.

Ich möchte, bevor ich meinen eigenen, eher indirekten Beitrag zu dieser Diskussion leiste, nur zwei kleinere Punkte markieren, an denen ich Gesprächsbedarf anmelden würde. Erstens scheint mir eine terminologische Entscheidung ganz zu Anfang des Projekts eine folgenreiche und nicht alternativlose Weichenstellung nach sich zu ziehen. Wie Reckwitz selbst anmerkt, hat der Begriff der „Singularität“ im Kontext unterschiedlicher, ebenfalls zeitdiagnostisch ambitionierter philosophischer Theorien der Gegenwart eine andere Bedeutung als hier, wo er mit den Vorstellungen von Einzigartigkeit, Besonderheit und Individualität weitgehend deckungsgleich ist, was auch durchaus dem deutschen Sprachgebrauch entspricht. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass bei Deleuze und vielen seiner heutigen Schülerinnen und Schüler, bei Derrida, bei Agamben und auch bei Badiou, „Singularität“ selbst als Alternative und Gegenbegriff zur Vorstellung von „Identität“ konzipiert ist. Man muss diesen Positionen, die den Begriff mit „Identitätslosigkeit“ konnotieren, nicht im Einzelnen folgen, doch ist die semantische Intuition, der zufolge Singularität-Sein nicht das Haben einer bestimmten, nämlich einzigartigen Identität bedeutet, sondern einen Status oder Ort unterhalb oder jenseits der Identitätszuschreibungen und Erkennbarkeiten, stark und interessant.[2]

Singulär ist dann nicht das Besondere (als besondere Eigenschaft von einem, eben besonderen, Etwas oder Jemand), sondern der ontologische Status des Einzelnen, von den anderen Getrennten, das sich erst zweitrangig vergleichend oder auch unvergleichlich auf die Anderen bezieht. Von dieser Begriffsverwendung (als Gegenbegriff zur „Besonderheit“) aus ergeben sich logischerweise auch andere Perspektiven auf eine mögliche „Politik der […] Singularität“.[3] Diese sind im Übrigen der Sache nach dem, was Reckwitz ganz am Ende und in Bezug auf seine vorherige Argumentation eher überraschend als Frage des Allgemeinen oder des „gemeinsam Geteilte[n]“ einführt (vgl. S. 437), gar nicht so unähnlich. Sie operieren allerdings terminologisch genau umgekehrt: Das Singuläre steht in diesen Theorien dem Allgemeinen oder Geteilten nicht gegenüber, sondern ist eine seiner möglichen Realisierungsformen; gegenübergestellt wird es der Identität. Da Reckwitz an diesem Punkt eher in der Bahn von Charles Taylor und anderen das Singuläre als das höchst Individuelle denkt, ist ihm dieser Weg zumindest von der begrifflichen Konstruktion her versperrt. Vielleicht bleibt er damit den individualisierungstheoretischen Überlegungen Ulrich Becks noch viel stärker verpflichtet, als er selbst es wahrhaben will.

Zweitens möchte ich nur zu Protokoll geben, dass eine der theoriestrategisch radikalsten Gesten des Buches eher en passant vorkommt, nämlich der Vorschlag einer restlos kultursoziologischen Reinterpretation des Wertbegriffs (vgl. S. 79–83). Vordergründig deklariert als Aufnahme eines Vorschlags von Bourdieu, dem zufolge Wert praxistheoretisch und entsubstanzialisiert als Ergebnis von Wertsetzungs- und Wertzuschreibungspraktiken („Valorisierungen“) zu denken sei, behauptet Reckwitz selbstbewusst, dass Wert als solcher so neu gedacht werden könne – jenseits substanziellerer Vorstellungen zu Wertschöpfung und ihrer materiellen Substrate und Bedingungen.

Ohne die Leistungsfähigkeit der soziologischen Praxistheorie, die Reckwitz selbst in den vergangen Jahren paradigmatisch ausgearbeitet hat, in Frage stellen zu wollen, möchte ich doch darauf hinweisen, dass diese Weichenstellung die leicht beunruhigende Tendenz des Buchs erläutern kann, den Status des Ökonomischen auf eigentümliche Weise zurückzudrängen, um den wirkmächtigen Zeitdiagnosen unter den Titeln „Ökonomisierung des Sozialen“ und „Neoliberalisierung“ etwas entgegen zu setzen. Auch möchte ich anmerken, dass immer noch Raum, ja Bedarf ist für die Idee, das In-Wert-Setzen des Singulären selbst folge einer genuin ökonomischen, keiner rein kulturellen Dynamik. Es wäre noch Platz für Analysen, die zeigen können, dass die Wertschätzung des Besonderen und der Authentizität heute sehr wohl auch Ausdruck eines innerökonomischen Strukturwandels ist, ohne dass diese Feststellung reduktiv gemeint sein müsste. Eine solche eher spätmarxistisch-kultursoziologische Perspektive, an viel älteren Phänomenen ausgearbeitet etwa von Frederic Jameson, heute zeitdiagnostisch eher in actu fruchtbar gemacht bei Kulturkritikern wie Diedrich Diederichsen oder Angela McRobbie (auf die Reckwitz natürlich hinweist), könnte der – nur an diesem Punkt – antimaterialistischen Tendenz von Reckwitz hilfreich entgegenstehen, vor lauter Abwehr einer reduktiveren Sicht das fundamentale Verwobensein von Produktions- und Verwertungsbedingungen und kulturellen Formen energischer herauszustreichen.[4]

Mein eigentlicher Lektürevorschlag betrifft einen anderen Topos, der im Buch durchgängig auftaucht, jedoch auf eine interessante und für den Systematiker Reckwitz untypische Weise untertheoretisiert bleibt, nämlich die Frage der Emotionen und das Verhältnis von Affektivität und Singularität. Meine Vermutung lautet, dass er sich der Schlagkraft und Plausibilität vieler Vorschläge im Rahmen des Affective Turn durchaus bewusst ist, die Nähe zu seinem eigenen Begriffsraster sieht und anerkennt, aber vor einer stärkeren affekttheoretischen Ausarbeitung zurückschreckt, weil sie ihn eventuell in Richtungen drängen würde, die ihm nicht gefallen.[5] Oder, theoretischer formuliert: Es könnte sein, dass die Position der Affekte und Emotionen in der gegenwärtigen Gesellschaft ähnlich fundamental ist wie die der Singularität, ja, dass diese vielleicht sogar von dort her anders erläutert werden kann.

Reckwitz nennt schon in seinem einführenden Kapitel als ein wichtiges Charakteristikum der Singularitätsgesellschaft die „extreme[] Relevanz der Affekte“ in ihr (S. 17). Sie ist im eminenten Sinne eine „Affektgesellschaft“, weil die sie prägende Logik der Singularität „mit Prozessen gesellschaftlicher Kulturalisierung und Affektintensivierung verknüpft“ ist (ebd.). Dieser „Affektcharakter der Logik der Singularitäten“ zeigt sich besonders als Erlebnisqualität; der Umgang mit Singulärem ist in hohem Maße affektiv, leidenschaftlich, identifikatorisch, impulsiv. Darin gleicht diese Logik ganz generell der Logik kultureller Erfahrung: „Die kulturell besetzten Objekte, Subjekte, Orte, Ereignisse und Kollektive wirken durchgehend affizierend, von ihnen geht eine erhebliche affektive Intensität aus. […] Die Valorisierung von Objekten, Subjekten, Orten, Ereignissen und Kollektiven als einzigartig und die Affizierbarkeit durch sie sind untrennbar miteinander verbunden. Sie sind beide strukturbildende Bestandteile der Zirkulationssphäre der Kultur und ihrer sozialen Logik der Singularitäten: Was wertvoll und besonders erscheint, wirkt affizierend, weil es wertvoll und besonders ist. Und was erheblich affiziert, scheint wertvoll und besonders, weil es so stark affiziert.“ (S. 83)

Diese Bemerkungen zeigen, wie fundamental die Bedeutung des Affektiven anzusetzen ist, denn es erläutert selbst das Zu-wert-Kommen des Singulären, seinen Wert oder Selbstzweck, von dem Reckwitz ja zeitdiagnostisch behauptet, dass er zur Leitwährung der sich singularisierenden Spätmoderne geworden sei, und zwar nicht nur in der Sphäre der Kultur, sondern generell. Diese Formulierungen bestätigen also deutlich die schon zitierte Aussage, die Gesellschaft der Singularitäten ließe sich als „Affektgesellschaft“ (s.o.) verstehen, denn ihre Logik ist eine der Aufwertung des Singulären, die gleichermaßen immer „Kulturalisierung“ wie affektive Aufladung des Singulären beziehungsweise des Intensiv-affiziert-Werdens vom Singulärem impliziert.

Es ist nun allerdings bezeichnend, dass auf diese grundlegende Bestimmung im Rest des Buchs nur noch wenig Bezug genommen wird und eine theoretische Grundlegung dieses Teils der Diagnose weitgehend fehlt. Zwar ist in Einzelbeobachtungen immer wieder vom Affektcharakter die Rede, etwa im Kontext vom ästhetisch-gestalterischen Charakter vieler Singulargüter (vgl. S. 87ff.), der Attraktivitätsmärkte (vgl. S. 107f., 113ff., 121f.), der „digitalen Affektkultur der Extreme“ (S. 270), der Dominanz „positiver Affekte“ (S. 348) in der Bestätigungs- und Performanzkultur der Gegenwart und indirekt im Rahmen der Frage von Hass und Abgrenzung unter essenzialistischen Vorzeichen (vgl. S. 418f. u.ö.). Aber an keiner Stelle wird ausführlicher behandelt, wer denn nun die genauen Subjekte, Objekte und Techniken der Affizierungsprozesse sind, wie diese sich verwandelt und angepasst haben, was ihr Bezug zum Ökonomischen, zur Bildung oder zur Politik der Gegenwart ist. Reckwitz denkt vermutlich, dass es sich um ein Querschnittsthema handle, dessen isolierte Behandlung sich an dieser Stelle seiner eigenen zeitdiagnostischen Konzeption gar nicht aufdränge, da er selbst den Beitrag des Affective Turn zur Kulturtheorie der Gegenwart bereits an anderer Stelle gewürdigt hat.[6] Ich möchte nur kurz andeuten, welche Richtungen sich bei einem stärkeren Fokus auf diesen Aspekt ergeben könnten und wieso die theoretisch detailliertere Befassung mit Affizierungsprozessen auch gesellschaftstheoretisch lohnenswerte Pfade erschließen könnte.

Erstens ist es etwas leichter, mit einer deutlicher emotions- oder affekttheoretischen Erläuterung die Dynamik und den Motivationscharakter kultureller Wertsetzungen zu verstehen. Affektive Dynamiken sind besonders wirkmächtige Potenziale, ihre Entfesselung setzt hochenergetische Prozesse in Gang und kann menschliches Handeln kurzfristig und langfristig in eine bestimmte Form bringen. Die seit einigen Jahren geläufigen historischen Thesen zur Affektstruktur der Moderne (von Eva Illouz über Ute Frevert bis zu Arlie Hochschild) konnten dazu beitragen, die Veränderungen in dieser Dimension nicht nur als Nebeneffekte, sondern als maßgebliche, freistehende Faktoren zu betrachten.[7] Modernisierung ist gleichermaßen Rationalisierung wie (neue) Emotionalisierung und Sentimentalisierung. Das affektive Subjekt ist ein relativ junges Produkt auch einer Therapie- und Selbstreflexivitätskultur und reagiert auf neue Expressivitätsimperative und Selbstregulierungszumutungen.

Hier gäbe es also eine – zu Reckwitz’ Narrativ wohl parallel – zu erzählende Geschichte vom zugleich Singulär- oder Individuell-Werden des Affektiven (vor allem im psychologischen und psychotherapeutischen Register) und zum Öffentlich- und Sozial-Werden des Affektiven (besonders in der Populärkultur und am Arbeitsplatz). Ein sicher sehr entscheidender Strang des Trends hin zur Singularisierung ist die Aufwertung des individuellen Körpers und seiner Bedürfnisse und damit eine neue Wertschätzung individueller Bedürfnisbefriedigungen. Die spätmoderne Kultur und Gesellschaft mit allen ihren Techniken, Formen und Institutionen hat, so könnte man vermuten, relativ neue Wege gefunden, diese Affektenergien zu intensivieren, zu kanalisieren und zu repräsentieren. Das Singuläre an ihr stammt daher, dass die affektiven Gratifikationen Individuen – als emotional subjects – mit neuen kulturellen und sozialen Institutionen in Verbindung bringen und damit Begehrensdynamiken und -kreisläufe stiften, die bisher durch ältere institutionelle Allgemeinheiten (Religion, Norm, Ethos) gedämpft waren. Gleichzeitig werden die Affekte der singulären Subjekte ihrerseits aber wieder enorm generalisiert in einem affektdeutenden und affektverwaltenden Komplex aus Self Help- und Populärpsychologie, Therapieroutinen und sentimentalisierender Unterhaltung. Dieses Ineinander aus Singularität und Allgemeinheit (oder Formatiertheit) lässt sich an den Affektregimen besonders deutlich beobachten.

Zweitens könnte eine affekttheoretische Perspektive noch etwas deutlicher sichtbar machen, in welchem Sinne die Versprechen der Singularität neben dem motivationalen immer auch einen trügerischen oder phantasmatischen Charakter haben. Denn die neue kulturelle Norm, jede Tätigkeit, Beziehung oder Ware müsse einzigartig, unvergleichlich und erlebnisintensiv sein ist ja, wie Reckwitz selbst schreibt, eine Kultur, die Enttäuschung vorprogrammiert (vgl. S. 344ff.). Sie erzeugt solche Frustrationen aus strukturellen Gründen, denn genau die Art von Besonderheit, die sich zur Norm erhoben findet, wird von den sie begleitenden sozialen Umständen oft eher unwahrscheinlich gemacht, suggeriert diese Norm doch Einzigartigkeit, wo Massenproduktion (etwa im Konsum) oder sozialer Konformitätsdruck (etwa in der Partnerwahl) bereits als Randbedingungen gesetzt sind. Gleichwohl wirkt diese Norm genau dadurch, dass sie mehr und darin zu viel verspricht; sie lässt eigentlich unerreichbare Objekte begehrenswert erscheinen, nährt Hoffnungen und Orientierung, die reale Gratifikation schlicht nicht zulassen.

In einer der interessantesten Diskussionen im Rahmen der Affect Studies hat Lauren Berlant versucht, diesem phantasmatischen und auch schmerzhaften Unerfüllbarkeitscharakter vieler gegenwärtiger spätbürgerlicher Ideale auf die Spur zu kommen, und ihr Begriffsvorschlag vom cruel optimism enthält schon ihre Deutungsthese.[8] Die spätmoderne Kultur errichtet selbst affektiv aufgeladene Ideale und inszeniert Rituale und Komödien um ihre Unerreichbarkeit. Das kulturelle Phantasma vom jedem verfügbaren kometenhaften Aufstieg oder von der konfliktfreien Erfüllung romantischer Liebe sind für Berlant solche Topoi eines Versprechens, an das man dringend glaube möchte, das trotz allem auch motivierend wirkt, allerdings ebenso ausbeutbar wie verletzlich macht. Solche Begehrensrichtungen aufrecht zu erhalten, sind insofern keine (ideologischen) Fehler, sondern affektökonomische Kalkulationen, “affective bargains about the costliness of one᾽s attachments”.[9] Solche auch unmöglichen Projektionen und Investierungen hängen also an der inneren Strukturiertheit affektiver Bindungen und ihrem lebenserhaltenden Charakter. Derartige Befunde kulturtheoretisch zu entziffern, ist wohl nur möglich unter Zuhilfenahme psychologischer oder (wie im Falle von Berlant) psychoanalytischer Überlegungen zu psychischen Gleichgewichten und Ökonomien. Es scheint aber, als sei gerade diese Ebene relevant, ja vielleicht sogar unverzichtbar, um das in Herrschaft-Geraten kultureller Ideale zu erläutern, die offensichtlich trügerisch sind, genau wie die Metanorm der Singularität.

Drittens schließlich bieten sich viele der politischen Phänomene, die Reckwitz ganz am Ende seines Buches beschreibt, für eine affekttheoretische Aufarbeitung geradezu an. Das betrifft nicht nur Populismus, Xenophobie oder Minderheitendiskriminierung, sondern auch die liberale Kultur, ihr Rechtsverständnis und ihre Symbolpolitiken. Den inneren Logiken dieser Gesellschafts- und Politikform dürfte wohl nur auf die Schliche kommen, wer auch den Einsatz und die Manipulation der Affekte in ihr wahrzunehmen und zu beschreiben vermag. Denn Emotionalisierung und Affektreizung sind zentrale Elemente einer spätliberalen Kultur, die permissiv und hochselektiv zugleich ist, die soziale Ein- und Ausgrenzungen stets auch symbolisch verhandelt und damit Identifikations- und Desidentifikationsprozesse aktiv moderiert.

Gerade aus dem Kontext der feministischen Sozialwissenschaften hat es faszinierende Versuche gegeben, dieser liberalen „affektiven Gouvernementalität“ nachzuspüren.[10] Was damit sichtbar gemacht werden kann, ist die affektive Unterseite gegenwärtiger Macht- und Herrschaftsformen; denn dass mit Affekten Politik gemacht, Institutionen gestützt oder stabilisiert und sozialer Widerstand pazifiziert wird, ist offensichtlich. Ebenso deutlich ist, dass zeitgenössische Emanzipationsbewegungen und Projekte ihrerseits in hohem Maße Affektenergien mobilisieren.[11] Ein Nachzeichnen einer solchen immer auch widersprüchlichen Politik der Affekte würde zur Analyse der Gegenwart unverzichtbar sein; für diesen Versuch könnte der Begriff der Singularitäten wichtig, aber vielleicht nicht entscheidend sein. Dieser Fokus auf den Zusammenhang von Affekt und Macht, der in den derzeitigen Debatten zentral ist, dürfte auch den Topos der Singularität, der ja von Reckwitz selbst zumindest knapp affektbezogen erläutert wird, nicht unberührt lassen, ja, vielleicht ließe sich so auch etwas deutlicher eine kritische Erzählung über die Politik der Singularität anbieten, die nicht ganz so stark auf die Selbstbeschreibungen der Akteure aus Kreativwirtschaft, Stadt-Marketing und angewandter Sozialwissenschaft eingeht, wie Reckwitz es tut.

Klar ist aber, dass es mit einem solchen Erkenntnisinteresse möglich sein wird, die schwierige Beziehung zwischen Ökonomie und Singularität anders zu akzentuieren. Dann wäre es möglich, wie oben schon angedeutet, die Aufwertung des Singulären selbst als politische Herrschafts- und ökonomische Verwertungstechnik zu betrachten, gerade weil sie affektive Bindungen herstellt und ausbeutet. Denn niemand ist regierbarer und ausbeutbarer als diejenigen, die glauben, dass nur für sie produziert, verwaltet und interpretiert wird.[12] Eine affekttheoretische Perspektive könnte, mit anderen Worten, der Frage nach dem Wert des Singulären eine gesellschaftskritische Schärfe geben, die sie bei Reckwitz, der Sache nach ganz zu Unrecht, noch nicht hat.

  1. Vgl. dazu auch die kritischen Anmerkungen von Felix Trautmann in seinem Beitrag zum Buch-Forum.
  2. Vgl. Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, übers. v. Andreas Hiepko, Berlin 2003, S. 80 (Orig.: La comunità que viene, Torino 1990).
  3. Ebd.
  4. Vgl. Angela McRobbie, Be Creative: Making a Living in the New Culture Industries, London 2014; Diedrich Diederichsen, (Over)Production and Value, Berlin/New York 2017.
  5. Vgl. exemplarisch Patricia T. Clough/Jean Halley (Hg.), The Affective Turn: Theorizing the Social, Durham 2007; Marie-Luise Angerer/Bernd Bösel/Michaela Ott (Hg.), Timing of Affect: Epistemologies, Aesthetics, Politics, Berlin/Zürich 2014.
  6. Vgl. Andreas Reckwitz, Praktiken und ihre Affekte, in: ders., Kreativität und soziale Praxis, Bielefeld 2016, S. 97–114.
  7. Vgl. Eva Illouz, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004, Frankfurt am Main 2006; Arlie Russell Hochschild, Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, erw. Neuausg., übers. v. Ernst v. Kadoff, Frankfurt am Main 2006;
  8. Ute Frevert, Vergängliche Gefühle, Göttingen 2013.
  9. Lauren Berlant, Cruel Optimism, in: Melissa Gregg/Gregory J. Seigworth (Hg.), The Affect Theory Reader, Durham 2010, S. 93–116.
  10. Ebd., S. 94.
  11. Vgl. Otto Penz/Birgit Sauer, Affektives Kapital. Die Ökonomisierung der Gefühle im Arbeitsleben, Frankfurt am Main/New York 2016.
  12. Vgl. hierzu Brigitte Bargetz, The Distribution of Emotions: Affective Politics of Emancipation, in: Hypathia 30 (2015), 3, S. 580–596.
  13. Vgl. für radikalere Perspektiven Frédéric Lordon, Capitalisme, désir et servitude – Marx et Spinoza, Paris 2010; Rainer Mühlhoff, Immersive Macht – Das Subjekt im Affektgeschehen. Sozialtheorie nach Foucault und Spinoza, Dissertation, Freie Universität Berlin, 2016.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Moderne / Postmoderne

Martin Saar

Martin Saar ist seit Herbst 2017 Professor für Sozialphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Arbeitsschwerpunkte beziehen sich auf die Politische Ideengeschichte der frühen Neuzeit, die Kritische Theorie und die neuere französische Philosophie.

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