Charlotte Johann | Rezension |

Die Zeit des Staates

Rezension zu „The Life and Death of States. Central Europe and the Transformation of Modern Sovereignty“ von Natasha Wheatley

Natasha Wheatley:
The Life and Death of States. Central Europe and the Transformation of Modern Sovereignty
USA
Princeton 2023: Princeton University Press
424 S., 45,00 $
ISBN 9780691244075

Die Habsburgmonarchie ging in einer Papierflut unter. Ein Schwall von Erklärungen, Programmen, Notverfassungen und Depeschen und läutete im Herbst 1918 ihre Auflösung ein. Während der Völkerkrieg auf den Gebieten der besiegten Mittelmächte mehr oder weniger nahtlos in einen Flächenbrand von Bürgerkriegen überging, machten hastig konstituierte Interimsregierungen und Nationalversammlungen konkurrierende territoriale Ansprüche geltend.[1] Der Kampf um die Nachfolge des Vielvölkerreiches war nicht nur ein militärischer. Die Souveränität der Staatsgebilde, die an seine Stelle traten, wurde auf diplomatischer Ebene und somit rhetorisch errungen. Wie bei einem Großteil der Staaten, die im Laufe des 20. Jahrhunderts mit dem Zusammenbruch der europäischen Imperien das Licht der Welt erblickten, vollzog sich ihre Geburt zu einem wesentlichen Teil an den Verhandlungstischen von multilateralen Gipfeltreffen und internationalen Organisationen. Die Geschichte dieser Staatenwelt des 20. Jahrhunderts, zeigt Natasha Wheatley in ihrer wegweisenden Monographie The Life and Death of States. Central Europea and The Transformation of Modern Sovereignty, muss deswegen auch und vor allem als Ideengeschichte erzählt werden. Sie war und ist eine gedankliche Konstruktion, Frucht eines generationenübergreifenden Diskurses. Lange wurde sie gleichgesetzt mit dem Siegeszug einer bestimmten Ideologie, nämlich der Doktrin des nationalen Selbstbestimmungsrechtes. Von den nationalistischen Geschichtsdarstellungen des neunzehnten Jahrhunderts bis hin zu Woodrow Wilsons 14-Punkte-Programm und Lenins Aufrufen zur Weltrevolution – der Anspruch der Völker, sich politisch und rechtlich selbst zu verfassen und zu regieren, wurde bis zur Zwischenkriegszeit sowohl als Naturrecht als auch als historisches Telos begründet.[2] Die Auf- beziehungsweise Ablösung der Donaumonarchie durch eine nationalstaatliche Ordnung gerierte sich in dieser Erzählung als eine historische Notwendigkeit. Doch Wheatleys Studie kommt zum entgegengesetzten Schluss: Die Souveränitätsansprüche der post-imperialen Staaten wurzelten in den Habsburgischen Verfassungsdebatten des neunzehnten Jahrhunderts. Sie waren nicht Bruch, sondern Fortführung einer Debatte, die 1848 mit dem Projekt einer kodifizierten Verfassung für das post-revolutionäre Reich einsetzte. Der Versuch, die Souveränität eines über Jahrhunderte gewachsenen Verbundes von Ländern und Völkern rechtlich abzubilden, schuf die begriffliche Registratur, auf die die Vertreter (und selten sichtbare Vertreterinnen) der Selbstbestimmungsansprüche 1919 zurückgriffen.

Das uneinheitliche Wesen und die Unübersichtlichkeit des Vielvölkerreiches zwangen das habsburgische Staatsrecht des 19. Jahrhunderts zum Erfindungsreichtum. Seine Verfassung passte nicht in die begrifflichen Formen, die das westeuropäische politische Denken von Bodin über Hobbes bis Rousseau geprägt hatte. Die Staatsgewalt der Doppelmonarchie mit ihren Kronländern, jedes mit seinen eigenen Titeln und Privilegien, entsprach nicht den formalen Kriterien von ungeteilter Souveränität und einheitlicher Rechtsordnung, die den modernen Staat in den kanonischen Erzählungen auszumachen schienen. Der Kodifikationsprozess der Reichsverfassung, betont Wheatley, war deshalb nicht das juristische Abbild einer empirischen Beschaffenheit, sondern ein kreativer Prozess – die Herstellung einer Rechtswirklichkeit. Die habsburgischen Staatsrechtler erdachten die Welt, die sie zu beschreiben behaupteten. Das daraus resultierende Spannungsverhältnis von Fakt und Norm, pluralistischen historischen Verhältnissen und maximalem juristischen Formalismus machte die habsburgische Verfassungsproblematik zum Prüfstein modernder Staatstheorie. Mitteleuropa wurde sowohl zur Werkstatt als auch zur Feuerprobe für das Projekt einer staatenbasierten internationalen Ordnung, welches die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestimmen sollte.

Zwei grundsätzliche Argumentationsmuster bildeten sich in den imperialen Verfassungsdebatten heraus, die später die völkerrechtlichen Diskussionen der Nachkriegsordnung mitprägten. Das erste war die Berufung auf die historischen Privilegien der Kronländer, die in der Systematik der modernen Rechtswissenschaft zu Staaten mit völkerrechtlich verbriefter juristischer Persönlichkeit wurden (Kap. 1, 3). Die Souveränität der mitteleuropäischen Nationalstaaten war laut mancher Fürsprecher keine neue Errungenschaft von 1918, sondern ein althergebrachtes, aus feudalistischen Verhältnissen abgeleitetes Recht – ein Recht also, das dem Habsburgreich vorausging. Was im Falle Ungarns, das seine Souveränität im Ausgleich von 1867 mit dem raffinierten Sprachspiel der kaiserlich-königlichen (oder gar kaiserlich und königlichen) Doppelmonarchie ausdrücklich bewahrt hatte, eine naheliegende Deutung war (Kap. 2), gestaltete sich bei den Kernprovinzen des Reiches als anspruchsvolle Neuinterpretation der habsburgischen Verfassungsgeschichte. Die ursprüngliche Souveränität Böhmens und Mährens beispielsweis wurde im 20. Jahrhundert zum Herzstück der Unabhängigkeitsansprüche der Tschechoslowakei. Um zu erklären, wie sie die knapp vierhundert Jahre der Eingliederung in das Reich überlebt hatte, sahen sich tschechische Nationalisten gezwungen, die juristische Kontinuität ihres Staates begrifflich von seinem faktischen Dasein zu trennen. Zwar waren sie über Jahrhunderte von der Donaumonarchie regiert worden, aber ihr Recht auf Selbstbestimmung hatten sie nie freiwillig aufgegeben, verkündete der tschechoslowakische Nationalrat 1918 (Kap. 5). Als unsterbliche juristische Fiktion blieb ihre Souveränität unangetastet von tatsächlichen historischen Entwicklungen.

Dieses Spannungsverhältnis von Fakt und Norm, politischer und rechtlicher Wirklichkeit, stand ebenfalls im Zentrum der zweiten Legitimationsstrategie des staatsbasierten Völkerrechts: dem neukantianischen Rechtspositivismus. Anhand der Debatte zwischen den zwei Hauptfiguren der österreichischen Rechtswissenschaft, Georg Jellinek und Hans Kelsen, arbeitet Wheatley die konkrete verfassungspolitische Bedeutung der nur vermeintlich abstrakten erkenntnistheoretischen Streitpunkte der positivistischen Rechtstheorie heraus (Kap. 4). Jellinek trieb der Antisemitismus in- und außerhalb der akademischen Kreise seiner Heimatstadt Wien ausgerechnet nach Deutschland, wo er in Heidelberg umgeben von den Vertretern des sogenannten Badischen Neo-Kantianismus – darunter Max Weber und Wilhelm Windelband – eine Rechtsphilosophie prägte, die das Rechts als normative Ordnung klar von der empirischen Welt politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse abgrenzte. Sein Schüler Kelsen, der der nationalsozialistischen Verfolgung 1940 in die USA entfloh, ging noch einen Schritt weiter und konzipierte diese normative Ordnung als die Grundlage des staatlichen Anspruchs auf Herrschaft über eben jene politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Staat existierte für Kelsen nicht außerhalb seiner rechtlichen Zusammenhänge. Die logische Einheit der Rechtsordnung war gleichbedeutend mit seiner Souveränität. Begriff und Wirklichkeit waren nicht voneinander zu trennen. Wheatleys Freilegung der Wiener Wurzeln beider Rechtstheoretiker ermöglicht eine Deutung der apriorisch ‚reinen‘ Rechtslehre als strategisches Kontrastprogramm zum Rechtspluralismus des Vielvölkerstaates. Das unübertroffene Abstraktionsvermögen des habsburgischen Rechtspositivismus war zugleich Symptom der und Antwort auf die konstitutionelle Komplexität des imperialen Kontexts, dem sie entsprang.

Beide Argumentationstypen, der logische und der historische, kamen nach dem Zusammenbruch des Reichs bei der völkerrechtlichen Rechtfertigung der Nachfolgestaaten zum Tragen (Kap. 6). Souveränität, betont Wheatley, entsteht nicht im luftleeren Raum. Die ideologischen Ressourcen, aus denen Staaten ihre Existenzberechtigung ziehen, müssen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung bereits vorhanden sein. Zugleich liegt es im Wesen des modernen Staates, sich als zeitlich unbegrenzt zu begreifen. Die Rechtsordnung des Staates hat kein Ablaufdatum. Und ihr Ursprung, im positivistischen Weltbild, liegt in der Staatssouveränität, die dem Recht immer logisch oder zeitlich vorausgeht. Das daraus folgende Henne-Ei-Paradox versuchten die Vordenker der post-imperialen Ordnung mit geistiger Akrobatik zu lösen, die laut Wheatley Zeitlichkeit zum wesentlichen Konstruktionsmoment der modernen Staatenwelt erklärte. Mitteleuropa führte vor, was im nur wenige Jahrzehnte später einsetzenden Dekolonisierungsprozess zu einer globalen Problemstellung werden sollte, nämlich die Frage nach den juristischen Parametern von Staatsunabhängigkeit und Staatsnachfolge, also des Übergangs von imperialer Ordnung zu souveränem Staat. Mit welchen Obligationen und Rechten, von Staatsschulden bis zur Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, die sich konstituierenden Staaten betraut waren, entschied sich daran, wie neu oder alt ihre umkämpfte Souveränität eigentlich war. Die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie waren gewissermaßen die Schrödinger-Katze des modernen Völkerrechts: zugleich tot und lebendig, je nachdem, ob jemand genau hinsah.

Die Staatenwelt, die am Ende von The Life and Death of States steht, ist jung, viel jünger als es die Meistererzählung vom Westfälischem System und die frühneuzeitliche Staatstheorie à la Bodin und Hobbes vermuten lassen. Der Staat als Begriff an und für sich mag Jahrhunderte alt sein, aber als weltumspannendes Ordnungssystem basierend auf der juristischen Fiktion souveräner Gleichheit ist er eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts – und zwar keine zwangsläufige. Der Prozess, den Wheatley schildert, war ein kollektiver Schöpfungsakt. Die geistigen Architekten der Staatenwelt trotzten der Geschichte jeden Zoll ihrer Gedankengebäude durch mühsame Begriffsarbeit ab. Mit den Eminenzen der historisch orientierten Staatstheorie von Max Weber bis Quentin Skinner teilt Wheatley damit das Interesse an der Konstruktion von Herrschaftslegitimität und das Feingefühl für deren geschichtlichen Tiefgang. In Australien geboren und aufgewachsen, ist ihr Blick allerdings geprägt von den Kämpfen für die Landrechte indigener Bevölkerungen, die die Frage ursprünglicher Souveränität seit den 1990er-Jahren in den Blick der Öffentlichkeit rückten (Acknowledgments). In siedlerkolonialen Kontexten war es deutlich schwieriger, die Aporien der liberalen Weltordnung auszuklammern, als in den Vorlesungssälen südenglischer Universitäten. Und dennoch legt der mitteleuropäische Fokus des Buches nahe, dass die Krisenhaftigkeit von Souveränität in kolonialen und europäischen Kontexten, wenn auch jeweils unterschiedlich gelagert, doch zwei Seiten der gleichen Medaille darstellt. In beiden Fällen enthüllt sich der Staat trotz seiner göttergleichen Ewigkeitsansprüche als ein mit den entsprechenden Brüchen und Mängeln behaftetes Gebilde von Menschenhand. Die historische Komplexität von Staatlichkeit herausarbeiten heißt deshalb nicht, das ideologische Projekt dem Sog geschichtlicher Vergänglichkeit zu entreißen. Im Realismus-orientierten Zeitalter des Kalten Krieges, vermerkt Wheatley in ihren Schlussreflektionen, hatte Kelsens Legalismus seinen Glanz verloren. Die Fragen, die der Tod und das Leben der Donaumonarchie aufwirft, mögen auf der Höhe unserer Zeit sein, aber die Antworten der Wiener Moderne auf diese Fragen sind es nicht. Das Wesen von Staatlichkeit in Ost- und Mitteleuropa stand am Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ausbruch der Balkankriege ebenso in Frage wie zu seinem Beginn. Unlängst weist der Krieg in der Ukraine auf den Niedergang des Pax Americana in Europa und die damit wieder deutlicher werdenden imperialen Verstrickungen von Souveränität hin. Der Kreislauf von Geburt und Tod des Staates geht seinen Gang.

  1. Robert Gerwarth, The Vanquished: Why the First World War Failed to End (New York, 2016), Kap. 12.
  2. Eine kritische Perspektive hierzu bei Adom Getachew, Worldmaking After Empire: The Rise and Fall of Self-Determination (Princeton, 2019), Kap. 2.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Europa Geschichte Internationale Politik Politik Politische Theorie und Ideengeschichte Recht Staat / Nation

Charlotte Johann

Dr. Charlotte Johann ist Historikerin und forscht als Leverhulme Early Career Fellow an der Queen Mary University of London. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Rechtspolitik und -kultur des 19. Jahrhunderts.

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