Dossier
Der ewige Zeitgenosse
Zum 200. Geburtstag von Charles Baudelaire
Ob Charles Baudelaire seinen eigenen Geburtstag mochte, ist uns nicht bekannt. Gut möglich, dass er ihn ausschweifend feierte, sich Opium besorgte, ins Bordell oder in die Tuilerien ging. Gut möglich aber auch, dass er seinen Geburtstag verabscheute wie so vieles andere seiner Zeit: den Fortschrittsglauben, den Anstand, die Sitten und die Moral, Napoleon III., Belgien, die Chefredakteure der Zeitungen, die Nachlassverwalter des väterlichen Erbes, das Volk, das positivistische Denken, die Inspiration und – nicht zu vergessen – die Bourgeoisie. Für den Dichter, der am 9. April 1821 in Paris das Licht der Welt erblickte, war das Hassen eine Passion, seine größte vielleicht neben der, die er selbst als seinen Kult der Bilder bezeichnete.
Soziopolis feiert Baudelaires 200. Geburtstag mit einem eigenen Schwerpunkt, einer Einladung an die Wissenschaft der Gesellschaft, sich auf einen Dichter einzulassen, der die seinige mit Leidenschaft verachtete.
Baudelaires literarische Produktion fällt zusammen mit dem rund zwanzig Jahre währenden Second Empire, das auf die Revolution von 1848 folgte. Es ist die Zeit der großen Pariser Generalüberholung durch Georges-Eugène Haussmann und seinen Bauherrn Napoleon III., die Zeit der Weltausstellungen und der Modernisierungswut. Als Moderner par excellence wurde Baudelaire schließlich auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften rezipiert, eine Rezeption, die nach wie vor durch Walter Benjamins Idee von Baudelaire als Geheimagenten der eigenen Klasse geprägt ist.
Für die Rolle des Gegenwartsbeobachters im Zweiten Kaiserreich brachte Baudelaire besonders günstige Voraussetzungen mit. Als Sohn eines wohlhabenden, aber früh verstorbenen Ministers war er mit höheren gesellschaftlichen Kreisen bestens vertraut. Zugleich hatte er überall Schulden und war in beständiger Gefahr, von der Prekarität in die endgültige Zahlungsunfähigkeit abzurutschen.
Seine drohende Armut, seine Einsamkeit, seinen ausbleibenden Erfolg und sogar seine Krankheit und Drogensucht inszenierte er mal selbstgefällig als gerechte (Selbst-)Bestrafung, mal selbstgerecht als ungerechte Strafe, die ihm sein spießiges Zeitalter auferlegte. Wenn er zum „Rüstzeug der Zerstörung“ griff, tat er das nicht, um seiner Epoche einen Spiegel vorzuhalten, sondern um ihr den Prozess zu machen, so wie sie ihm im Jahr 1857, unmittelbar nach Erscheinen seines Gedichtbandes „Les Fleurs du Mal“, den Prozess machte.
Wie verhält sich Baudelaires modernité zu dem, was heute unter „Moderne“ firmiert? Und was heißt es, Zeitgenosse zu sein? Welche Form eignet sich, die Flüchtigkeit der Jetztzeit einzufangen? Baudelaires Physiognomie der Moderne ging mit einem offenen und experimentierenden Verhältnis zur eigenen Gegenwart einher, er nahm ein elektrisches Bad in der Menge.
Unser Dossier rekonstruiert die Bedingungen avancierter Zeitgenossenschaft und erinnert an die wirklichkeitserschließende Kraft der Literatur. Zum Auftakt fragt Walburga Hülk nach der Position des Dichters im literarischen Feld, Lothar Müller erkundet Baudelaires paradoxe Ästhetik der Modernität und Benjamin Loy erhellt die gern unterschlagene Bindung des Kronzeugen der Moderne an gegenaufklärerische Affekte und Traditionen.
In der Fortsetzung unseres Themenschwerpunkts rekonstruiert Hermann Doetsch Baudelaires wissenschaftsaffinen Umgang mit Massenmedien und Menschenmengen. Karin Westerwelle protokolliert die komplexen Verhältnisse von Sprache, Geld und bürgerlicher Moral im Prosagedicht „Das Falschgeld“. Und Barbara Vinken erklärt, warum sich Baudelaires modernité viel besser zur Offenbarung der Katastrophe als zur Fortschrittserzählung eignet.
Zum Abschluss des Dossiers vermittelt unsere Bilderstrecke kommentierte Einblicke in die Milieus des Dichters. Und Ingo Meyer wünscht der Baudelaire-Rezeption weniger biederen Historismus, mehr Rausch und vor allem: kein Ende.
Im Schatten der modernité des Charles Baudelaire, der 1867 in Paris starb, stehen Beschreibungen von Gesellschaft bis heute.
Die Redaktion
Ingo Meyer | Essay
Baudelaire und hoffentlich kein Ende
Verstreute Bemerkungen zu Allegorie und Moderne, Rezeption und Rausch
Karin Westerwelle | Essay
„La fausse monnaie“
Zur Ökonomie von Sprache und Geld bei Charles Baudelaire