Alexander Wierzock | Essay |

Eine Wissenschaft über den Parteien

Zum Verhältnis von Soziologie und Politik bei Ferdinand Tönnies

Unter den Klassikern der deutschsprachigen Soziologie ist Ferdinand Tönnies vermutlich der am wenigsten bekannte.[1] Noch immer sind Leben und Werk des ehemaligen Professors für wirtschaftliche Staatswissenschaften und Statistik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel nur teilweise erforscht. Es mangelt vor allem an Arbeiten, die sein Schaffen auf die ganze historische Breite seiner eigenen Zeit beziehen, um so zu detaillierten Rekontextualisierungen im engeren Sinne zu gelangen. Viele Aspekte seines akademischen und öffentlichen Wirkens wurden bislang nicht systematisch untersucht und harren nach wie vor der Entdeckung. Das gilt nicht nur für seine Rolle als wichtiger Repräsentant der Soziologie – eine öffentliche Position, die ihm als Vorstand und langjähriger Präsident der von ihm 1909 mitbegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zukam –, sondern auch für seine Beziehungen zu wichtigen (und weniger wichtigen) Fachvertretern aus der Gründungszeit der Soziologie oder für seine Position im inter- wie innerdisziplinären Gefüge der Wissenschaften des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik, um nur ein paar Stichworte zu nennen.[2] Folglich unterscheidet sich der Forschungsstand zu Tönnies erheblich von demjenigen zu Max Weber oder Georg Simmel, sodass sich von einem relativ unentdeckten Klassiker sprechen lässt.

Bislang nicht zusammenhängend aufgearbeitet ist auch Tönnies‘ Stellung in der politischen Kultur des Wilhelminischen Kaiserreichs, in dem er seit den 1890er-Jahren die Rolle eines ebenso kritischen wie machtfernen Intellektuellen spielte.[3] Zwar ist dank der Arbeiten von Thomas Nipperdey und Rüdiger vom Bruch mittlerweile allgemeinhin bekannt, dass Tönnies, „ein Leben neben der Universität als Publizist und Sozialreformer führte“,[4] wirklich erforscht ist diese Seite seines Tuns aber nicht. Stattdessen hält sich in der Forschung nach wie vor die verbreitete Annahme, Tönnies habe im späten Kaiserreich einer unpolitischen Soziologie vorgearbeitet, wie sie sich dann in der Weimarer Republik konstituierte: Praxisfern und losgelöst von den realen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. So haben etwa Silke van Dyk und Alexandra Schauer noch 2010 in einem Überblick über die Soziologie im Nationalsozialismus dem Fach für die Weimarer Republik eine „wissenschaftliche Entpolitisierung selbst aktuellster Themen“ attestiert, die als „selbsterklärtes Ziel“ durch die „Inhaber der institutionellen Herrschaft in der DGS“ erfolgt sei.[5] Zwar wird Tönnies an dieser Stelle namentlich nicht erwähnt, aber auch so wird klar, dass er gemeint ist. Denn wer, wenn nicht er als Präsident der DGS, repräsentierte das Vereinsestablishment in der Weimarer Republik? Ein maßgeblicher Bezugspunkt für eine solche Einordnung von Tönnies ist Dirk Käslers bekannte Studie über die „Entstehungs-Milieus“ der frühen deutschen Soziologie aus den 1980er-Jahren. In ihr wird Tönnies aufgrund seiner Vorstellungen einer über den Parteien stehenden Soziologie als insgesamt „unpolitisch“ eingestuft.[6] Diese Lesart ist aber nur dann zutreffend, wenn man die sowohl in der politischen Kultur des Wilhelminischen Kaiserreichs als auch der Weimarer Republik verbreitete Formel als Ausdruck einer apolitischen Haltung deutet, die einzig dem Erhalt obrigkeitsstaatlicher Strukturen verpflichtet gewesen sei. Tönnies aber verband mit dem Motiv einer über den Parteien stehenden Wissenschaft eine evident politische Agenda, die entschieden andere Ziele anvisierte. Doch obschon die Formel sich aufs Engste mit seinen Vorstellungen einer objektiven Gesellschaftsanalyse verknüpfte, handelt es sich dennoch keineswegs um einen analytischen Begriff seiner Soziologie. Eben hier liegt das Problem, dem sich der folgende Beitrag zuwenden will. Mit dem Über-den-Parteien-Motiv positionierte sich Tönnies vielmehr in der Debatte, welche Rolle die Bildungselite im Wilhelminischen Deutschland spielen sollte. Seine Gesellschaftsanalyse ist von diesem Kontext nicht zu trennen.

Vor diesem Hintergrund gliedern sich die nachfolgenden Betrachtungen in drei Abschnitte. Der erste Abschnitt befasst sich mit der Verbreitung und Bedeutung des Motivs um 1900. Unter Absehung von einer (den Rahmen sprengenden) systematischen Begriffsgeschichte will ich in nuce skizzieren, wie das Motiv seinerzeit in der akademischen Bildungsschicht für gewöhnlich verwendet wurde. Im zweiten Abschnitt beziehe ich diese Praxis in einigen knappen Bemerkungen auf die tief greifenden Wandlungen, die seit dem späten 19. Jahrhundert im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik aufgetreten sind, um mich auf diesem Weg dem Gebrauch des Motivs bei Tönnies anzunähern. Ausgehend von seinem Briefwechsel mit dem befreundeten Philosophen Friedrich Paulsen über den Gedanken einer Instanz über den Parteien möchte ich aufzeigen, dass sich aus dem Topos ganz unterschiedliche Konsequenzen ziehen ließen – vor allem mit Blick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Der letzte Abschnitt befasst sich schließlich damit, wie Tönnies das Über-den-Parteien-Motiv vor dem Ersten Weltkrieg in sein Verständnis von Soziologie integrierte, also zu einer Zeit, als die Diskussionen um eine institutionelle Verankerung und disziplinäre Ausgestaltung der Soziologie immer mehr Fahrt aufnahmen.[7]

Ein gängiger Topos der politischen Kultur um 1900

Die Forderung, einen Standpunkt über den Parteien zu beziehen, bildete ein zentrales Motiv der politischen Kultur des Wilhelminischen Deutschlands. Ihr Aufkommen koinzidiert mit dem Entstehen eines modernen Parteiensystems, das sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entlang von vier Weltanschauungen auffächerte: Konservative, Liberale, Katholiken und Sozialisten.[8] Die letzten beiden Strömungen, die auf der katholisch-sozialen und der sozialdemokratischen Bewegung basierten, bildeten erste parteipolitische Apparate im modernen Sinne aus, die sich, forciert durch den Kulturkampf und die Sozialistenverfolgung, allmählich zu bürokratisierten Massenparteien wandelten. Die lose organisierten Honoratiorenparteien des Bürgertums folgten später nach. Die bereits im Norddeutschen Bund erfolgte Ausweitung des Stimmrechts auf große Teile der männlichen Bevölkerung, die eine formal gleichberechtigte Teilnahme an den Reichstagswahlen garantierte, sowie die auf bundesstaatlicher Ebene meist vorhandenen parlamentarischen Vertretungen in den 22 Landesfürstentümern, den drei Stadtrepubliken und dem Reichsland Elsass-Lothringen, ließen Parteien als Apparate im politischen Prozess immer wichtiger werden. Ausgerechnet unter den Bedingungen des Obrigkeitsstaats begann sich somit ein modernes Parteiensystem mit professionellen Berufspolitikern zu entfalten. Zeitlich fällt diese Entwicklung in einen Gesamtzusammenhang, den die Historikerin Margaret Anderson bezogen auf das Deutsche Kaiserreich einprägsam als „Lehrjahre der Demokratie“ bezeichnet hat.[9]

Diese Entwicklung war von einer intensiven wissenschaftlichen Reflexion begleitet, die eine politische Soziologie des Parteiwesens hervorbrachte. Theoretische Erörterungen über Parteien setzten zwar bereits in der vormärzlichen Staatsrechtslehre und teilweise sogar noch früher ein,[10] genuin parteisoziologische Studien, die Veränderungen im Parteienapparat, im Parteiensystem oder sozialstatistische Wähleranalysen zum Inhalt hatten, kamen aber erst während der „Sattelzeit im Umbruch zu einer neuen Phase der Moderne“ auf,[11] also in den Jahrzehnten vor und nach 1900. Im angelsächsischen Sprachraum avancierten in dieser Zeit der Brite James Bryce, der US-Amerikaner Abbott Lawrence Lowell und der russischstämmige Rechtsgelehrte Moisej Ostrogorski durch Studien über das US-amerikanische und britische Parteiensystem zu Klassikern der Parteienforschung.[12] Aber auch im Deutschen Reich wurden die sich ausbildenden modernen Parteien intensiv untersucht. Vor allem im 1904 von Edgar Jaffé, Max Weber und Werner Sombart gegründeten Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, das unter den wissenschaftlichen Zeitschriften jener Zeit ein Zentrum demokratietheoretischer Diskussionen bildete, erschienen eine Reihe parteisoziologischer Arbeiten.[13] Darunter befanden sich auch Vorstudien zu Robert Michels Soziologie des Parteiwesens, der heute wohl bekanntesten deutschsprachigen Schrift auf diesem Gebiet. Michels‘ 1911 erschienene Abhandlung machte ihren Autor zugleich aber auch zu einem Repräsentanten „des sozialwissenschaftlich informierten Unbehagens“ an den Parteien par excellence.[14] Das liegt vor allem an der Kernaussage der Schrift, die bekanntermaßen ein „ehernes Gesetz der Oligarchie“ postuliert, dem zufolge jede bürokratische Organisation des Parteiwesens in einer Herrschaft „der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden“ gipfelt.[15] An Michels zeigt sich insofern, wie eng wissenschaftliche Betrachtung und Kritik der Parteien zu jener Zeit miteinander verwoben waren, auch wenn sein Werk nicht auf die Formulierung dieses ,Gesetzes‘ verkürzt werden sollte; vorrangig ging es ihm schließlich um eine Stärkung und Weiterentwicklung demokratischer Prozesse.

In der Parteienkritik, wie sie Michels und andere seinerzeit formulierten, kam auch ein Ressentiment gegen die Parteien zum Ausdruck, das in Deutschland eine lange Tradition besitzt und sich bis in Schriften aus der Zeit des Vormärz zurückverfolgen lässt. In dieser Zeitspanne des deutschen Frühparlamentarismus ist auch die Genese des Motivs von einem Standpunkt über den Parteien zu verorten, häufig verbunden mit einer ,funktionalen‘ Rechtfertigung der Monarchie, die nicht mehr unter Rekurs auf ihr vermeintliches Gottesgnadentum, sondern unter Verweis auf ihre Rolle als schiedsrichterliche Gewalt und unabhängige Macht über den Sonderinteressen legitimiert wurde. Diese Funktionserweiterung der Monarchie als gesellschaftliches Ordnungssystem lässt sich unschwer als Abwehrreflex gegen die demokratisierenden Tendenzen der Zeit begreifen, ohne deshalb die Monarchie des 19. Jahrhunderts vorschnell als „,Residuum‘ in Abwicklung“ für überlebt zu erklären.[16]

In diesem Begründungskontext erfuhr die Formel vom Standpunkt über den Parteien eine außerordentliche Verbreitung: Sie begegnet einem sowohl in der zeitgenössischen Publizistik des Konstitutionalismus und innerhalb staatsrechtlicher Abhandlungen als auch in der politischen Philosophie des Vormärz und in den Debatten der Frankfurter Nationalversammlung von 1848.[17] „Daß jede Regierung über den Partheien schwebend ihren Thorheiten und Uebertreibungen ferne bleiben muß, ist, wenn auch stets verkannt, doch so bekannt, daß es nach gerade zu einem Gemeinplatz geworden“, äußerte sich schon 1832 der Hochschullehrer und katholische Publizist Joseph von Görres über den häufigen Gebrauch der Formel.[18] Wie sehr sie sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt hatte, verdeutlichen auch beispielhaft einige Satiren aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, in denen das geläufige Lob der Überparteilichkeit kritisch hinterfragt wird. „Ueber den Parteiʼn, in der Luft, steht Niemand“, scherzte etwa der Humorist Adolf Glaßbrenner, und der mit der 1848er-Bewegung sympathisierende Gottfried Keller meinte gar: Wer über den Parteien sich wähnt mit stolzen Mienen, / Der steht zumeist vielmehr beträchtlich unter ihnen.“[19]

Noch größere Verbreitung und Wirkung erlangte das Motiv schließlich im Wilhelminischen Deutschland, wo es eine nahezu gesamtgesellschaftliche Erscheinung wurde. Der Grundsatz, man habe über den Parteien zu stehen, wurde zu einer allgegenwärtigen Forderung. Angefangen bei den staatlichen Institutionen und ihren Repräsentanten über die evangelische Kirche bis hin in die Kreise des Besitz- und Bildungsbürgertums bildete es eine zentrale Selbstprädikation, die auch noch die politische Kultur der Weimarer Republik nachhaltig beeinflussen sollte. Aus heutiger Perspektive wird das Motiv meist als Ausdruck eines ebenso konfliktaversen wie unterkomplexen Denkens verstanden und für eine „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates“ gehalten, als die es bereits Gustav Radbruch entlarvt hatte.[20] Vor allem dem deutschen Bürgertum wird von Politikwissenschaftlern und Historikern angelastet, einer interessenpluralistischen Konfliktlösung durch das Aushandeln von Kompromissen in der politischen Arena nicht genügend Raum gegeben zu haben.[21]

Tatsächlich wurde der Politik in der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs nicht selten die Aufgabe der Erzeugung gesamtgesellschaftlicher Harmonie zugewiesen, zuvorderst von den Spitzen des Bildungsbürgertums, den Professoren.[22] Nach ihrem Verständnis war Politik ein Dienst am gemeinen Wohl des Volkes und den höheren Interessen des Staates. Ihre auffallend kritische Haltung gegenüber dem Parteiwesen stellte quasi die Kehrseite ihres harmonieorientierten Politikverständnisses dar. Mitunter ging die Kritik soweit, den Parteien ihre politische Legitimation abzusprechen. Die Parteien repräsentierten demnach ideologisch verbrämte, das Gemeinwohl missachtende Partikularinteressen konkurrierender gesellschaftlicher Gruppen, deren Einfluss es im Interesse des Staates zu regulieren galt. Ein pluralistisches Politikverständnis, dem zufolge die Parteien mit unterschiedlichen Politikangeboten in legitimer Weise miteinander um die Gunst verschiedener Interessen- und Wählergruppen konkurrieren, lag der Zeit fern. In solchen Kategorien wurde Politik nicht gefasst. Von ,wahrer‘ Politik wurde erwartet, „idealiter überparteilich“ zu sein, und derart hatte eine Partei nach diesem Verständnis, um das Etikett „politisch“ zu verdienen, ihr Tun und Unterlassen überparteilich auszurichten.[23] Der mit Tönnies befreundete Philosoph Friedrich Paulsen brachte das 1900 wie folgt auf den Punkt: „Aber für alle Parteien muß die Maxime gelten: das Ganze geht dem Teil, das Wohl des Volks dem Interesse der Partei voran.“[24]

Wie Paulsens Beispiel zeigt, gehörte es zu jener Zeit zum Proprium des Bildungsbürgers, die Orientierung an dieser regulativen Idee nicht nur zu fordern, sondern für Politik als Inbegriff überparteilichen Handelns auch aktiv einzutreten. Vor allem die Professorenschicht handelte so, da sie sich als legitime Repräsentanten der öffentlichen Macht im Staate sahen. Die Professoren, allen voran Historiker und Nationalökonomen,[25] stilisierten sich zu Sinnproduzenten. Sie glaubten als Vertreter des Geistes, gar des Weltgeistes, nicht nur an ihre Kompetenz, das politische Ganze beurteilen zu können, sondern sahen sich aus eben diesem Grund auch verpflichtet, für und im Sinne des Staates zu sprechen. Indirekt wurde damit auch der Universität als Einrichtung eine Nobilitierung zuteil. Folgte man den vollmundigen Argumenten einiger ihrer publizistisch besonders ambitionierten Repräsentanten, so kam ihr nicht bloß die Funktion einer Lehr- und Ausbildungsstätte zu, sondern ebenso die eines politischen Wächteramtes. Vor diesem Hintergrund sprach Paulsen 1902 davon, dass die Universitäten „in ihrer Gesamtheit etwas wie das öffentliche Gewissen des Volkes in Absicht auf das gute und böse in der Politik“ zu sein hätten.[26]

Auch Ferdinand Tönnies trug sich während dieser Zeit mit ganz ähnlichen Gedanken. Besonders eindrücklich zeigt das etwa die 1901 publizierte Schrift Politik und Moral, in der er sich auf die Suche nach einem „Wart-Turm über den Parteien“ begibt.[27] Das um das Bild des Wart-Turms erweiterte Motiv vom Standpunkt über den Parteien führt mitten hinein in Tönnies‘ Vorstellungen über das Verhältnis von Akademie und Politik, denn die Instanz, die er mit dem Bild aufruft, ist keine andere als die Wissenschaft selbst. „Die hohe Warte, derer ich gedenke“, heißt es entsprechend, „ist unser heiliges Palladium, die Wissenschaft“. Aber es ist nicht die Wissenschaft insgesamt, die von Tönnies mit dem Palladium gleichgesetzt wird, jenem Bildnis, das der Sage nach Troja beschützt haben soll, bis es von den Griechen aus der Stadt geraubt wurde. Diese Schutzfunktion, für die der Turm ebenfalls steht, übe nur die „Wissenschaft in ihrer Anwendung auf menschliche Dinge, in ihrer Anwendung auf Politik“ aus. Anders formuliert: Es sind nicht die Natur-, sondern die Kultur- und Sozialwissenschaften, die den „Wart-Turm über den Parteien“ bilden. Soweit dürfte deutlich geworden sein, in welchem Sinne Tönnies und Paulsen die Wissenschaft als eine Instanz über den Parteien charakterisierten. Hochinteressant ist nun, wie sich die Forderung nach einem Standpunkt über den Parteien mit tiefgreifenden Wandlungen im Verhältnis von Politik und Wissenschaft trifft, die damals vor sich gingen – was zum zweiten Teil überleitet.

Ein „Wart-Turm über den Parteien“. Die Verwendung des Motivs bei Tönnies

Die späte Kaiserzeit markiert eine Phase, in der sich die Handlungszusammenhänge von Wissenschaft und Politik grundlegend umgestalteten. Diese Entwicklung war eine Folge der weiteren funktionalen Ausdifferenzierung der beiden Bereiche. Zum einen professionalisierte sich die Politik: Sie wurde, mit Max Weber gesprochen, zum „Beruf“.[28] Soziale Bewegungen bildeten parteipolitische Ableger aus, von den Parteien und Verbänden getragene Berufspolitiker kamen auf, Detailkenntnisse waren gefragt, die Artikulation politischer Prinzipien trat zurück. Dasselbe galt für die Wissenschaft: Auch sie wurde Weber zufolge zu einem „Beruf“ und erfuhr einen beispiellosen Professionalisierungsschub.[29] So beschaulich die damaligen Universitäten heute erscheinen mögen, die Wahrnehmung der Zeitgenossen war eine vollständig andere. Die Wissensgebiete spezialisierten und komplizierten sich, immer neue Institute und Seminare entstanden und die Einheit der Wissenschaft verblasste angesichts der Vielzahl an Disziplinen. Damit nicht genug, wurden erste Kooperationsverhältnisse mit der Wirtschaft geknüpft und die steigenden Studentenzahlen erreichten bis dahin nicht gekannte Höhen. Die Universität wurden zum „Großbetrieb“, wie Adolf von Harnack 1905 bemerkte.[30]

Mit dieser analogen Entwicklung in Wissenschaft und Politik transformierten sich auch ihre Beziehungen zueinander. Neue Sozialfiguren tauchten auf, während andere, wie etwa der Typus des „politischen Professors“ aus der Zeit der Märzrevolution, die Bühne verließen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war diese Sozialfigur an den deutschen Universitäten nahezu verschwunden. Im 1912 gewählten Reichstag befanden sich gerade noch sieben Hochschullehrer.[31] Insofern war es nicht unbegründet, wenn Friedrich Naumann zur selben Zeit klagte, dass sich „vor einem halben Jahrhundert noch fast alle deutschen Universitätslehrer […] kräftig an der Parteipolitik beteiligt“ hätten. Nun aber müsse „man politische Professoren mit der Laterne suchen.“[32] Das Unisono von Professor und Berufspolitiker war zur schiefen, nur noch vereinzelt hörbaren Melodie geworden.

Parallel zu dieser Entwicklung gewann die semantisch durchaus unterschiedlich konnotierte Formel vom Standpunkt über den Parteien immer mehr an Popularität. In ihrer Verwendung durch die akademisch-professorale Oberschicht zielte sie auf die Entgegensetzung von Parteipolitik und Wissenschaft, von partikularen und nationalen Interessen, als deren Sachwalter sich die Angehörigen der akademischen Elite verstanden. Allerdings sollte man darin nicht ausschließlich einen Gestus der Abwehr oder des Rückzugs aus den vermeintlichen Niederungen der Parteipolitik sehen, auch wenn es solche Fälle natürlich gab; Werner Sombarts 1907 erhobene Forderung einer „Abkehr der Gebildeten von der Politik“ ist hierfür bestes Beispiel.[33] Mit dem Motiv vom Standpunkt über den Parteien konnte sich aber auch die Absicht einer stärkeren Hinwendung zur Politik verbinden. Diesem Verständnis von Politik lag aber oftmals kein konkreter, an praktischen Fragen und Forderungen ausgerichteter Gestaltungswille zugrunde, sondern ein eher abstrakter nationalpädagogischer Führungsanspruch, zu dem man sich gerade durch Abstinenz in tagespolitischen Angelegenheiten legitimiert sah.[34]

Im Kontext dieser Entwicklungen ist auch ein Briefwechsel zwischen Tönnies und Paulsen zu verorten, der knapp vier Jahre – von 1898 bis 1901 – dauerte. In ihm diskutierten beide lebhaft das Motiv des überparteilichen Standpunktes, um schließlich zu sehr unterschiedlichen Konsequenzen zu gelangen. Eine zentrale Frage war, ob Hochschullehrer einer Partei beitreten sollten oder nicht. Angesichts staatlicher Maßnahmen wie dem 1898 verabschiedeten und seinerzeit viel diskutierten „Lex Arons“, das Privatdozenten an preußischen Hochschulen dem Disziplinarrecht von Beamten unterstellte und die Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei für unvereinbar mit der Lehrtätigkeit erklärte, war diese Frage äußerst aktuell.[35] In einer Manuskriptskizze, die ebenfalls auf das Jahr 1898 datiert, gab sich Tönnies hin- und hergerissen: „Muß man einer politischen Partei angehören? oder darf man auch außerhalb von Parteien, über den Parteien zu stehen versuchen? ja ist dieser weil der höhere auch der edlere und bessere Standpunkt, den zu erreichen man wenigstens [er]streben sollte?“[36]

Bei Beantwortung dieser Fragen blickten beide, Tönnies und Paulsen, auf sehr unterschiedliche Art und Weise auf das deutsche Kaiserreich. Während Paulsen im Beamten im Sinne Hegels per se eine überparteiliche Instanz erblickte, war Tönnies wesentlich kritischer. Für Paulsen, so ein Brief vom April 1899, war der Hochschullehrer in erster Linie Beamter – und hatte sich daher von allen Einflüssen der „herrschenden Gesellschaftsklassen frei zu halten“.[37] Sein Platz war an der Seite der „Monarchie“ – für Paulsen oberster Garant einer gemeinwohlorientierten Politik. In den Parteien hatten die Professoren folglich nichts zu suchen. Gerade an dieser angeblich neutralen Rolle der Beamten hatte Tönnies jedoch seine Zweifel. In einem Folgebrief Mitte des Aprils 1899 protestierte er gegen Paulsens Sichtweise: Die Monarchie und ihre Beamten seien „auf das allerschärfste und notwendigerweise parteiisch“, indem sie nämlich gerade dieses Regierungssystem repräsentieren.[38] Teilten die beiden Briefpartner also das gleiche Prinzip, waren sie in der Frage von dessen angemessener Umsetzung dennoch uneins.

Was aber schwebte Tönnies vor, wenn er Paulsen gegenüber „wirklich“ unabhängige Beamte forderte? Um sie von den restlichen, den staatstragenden Beamten, abzugrenzen, nannte er sie „Intellektuelle“, womit er den gerade im Zuge der Dreyfus-Affäre im französischen Nachbarland kursierenden Ausdruck „les intellectuels“ aufgriff.[39] In diesem Kontext fungierte der Ausdruck als Gruppenbezeichnung für das von Émile Zola angeführte Lager der Dreyfusards. Von einem politischen Fahnenwort wurde er bald zu einem Begriff, der für Personen stand, die öffentlich für bestimmte Prinzipien und Werte eintraten, um gegen den Machtmissbrauch politischer Eliten zu protestieren. Es war dieser Wortgebrauch, der bei Tönnies anklang, wenn er Paulsen erklärte, dass die Intellektuellen in die Parteien gehörten, um vermöge ihres unabhängigen Standortes in ihnen auf materielle, aber noch wichtiger auch auf ideelle Ziele hinzuwirken. Er bezweifelte, ob „Parteien notwendigerweise schlecht“ seien, wie Paulsen unterstellte.[40] Für den mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Tönnies war die „Quelle der verderbten Parteien und der verderbtesten Regierungen“ vielmehr ein und dieselbe: Es waren die „bornierten Bürokraten – Typus Bosse“ – die sich politischer Institutionen für ihre Zwecke bedienten.[41] Ähnlich wie später Robert Michels scheint Tönnies das Übel also in einer oligarchisierten Elitenherrschaft gesehen zu haben. Dieser war zu begegnen; daher die Forderung, dass Intellektuelle in die Parteien gehen sollten. Paulsen winkte ab. In einem weiteren Brief vertagte er die Diskussion auf mündlichen Austausch, schickte aber voran: „Was die Parteien anlangt, so hättest Du mehr recht, wenn wir politische Parteien hätten. Wir haben ja aber im Grunde nur noch wirtschaftliche Interessengruppen.“[42]

Genau das zu ändern, war das erklärte Ziel von Tönnies. Sein Blick war darauf gerichtet, wie die Parteien zu politischen Parteien in seinem Sinne verwandelt werden könnten, denn so wie sie waren, sollten sie nicht bleiben. Wie stellte sich Tönnies diesen Prozess vor? Grob gesagt, ging es ihm darum, die bisherigen Parteipolitiker umzuerziehen: Aus Parteimännern sollten Staatsmänner werden. Unter dem Einfluss der Intellektuellen, denen er somit eine integrierende Funktion zuwies, sollten Parteifunktionäre lernen, sich über ihre je partikularen Standpunkte zu erheben. Um es mit den Worten von Tönnies zu sagen: Der Parteimann sollte „mit den Stücken der Wissenschaft, die er sich anzueignen“ vermag, seinen Denk- und Handlungshorizont erweitern:[43] „So kann er sich erheben über das unklare Trachten und Streben der Partei, alsbald wird er sich erheben über ihre Wildheit und Leidenschaft, er wird als ein denkender Staatsmann mit den denkenden Staatsmännern anderer Parteien […] sich verständigen und zusammenwirken können.“[44] Das Fernziel, das Tönnies vor Augen stand, war also eine konsensuale Politik, und der Weg dorthin führte ihm zufolge notwendig über eine Verwissenschaftlichung der Parteien. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Konsequenzen, welche die Funktion als „Wart-Turm über den Parteien“ für die Kultur- und Sozialwissenschaften mit sich bringt. Hierum soll es im folgenden letzten Abschnitt gehen. Dabei interessiert mich vor allem, inwiefern das Motiv vom Standpunkt über den Parteien in jene Wissenschaft integriert ist, als deren Wegbereiter Tönnies heute gilt: die Soziologie.

Die Soziologie als über den Parteien stehende Wissenschaft bei Tönnies

Tönnies hat, als die Verwissenschaftlichung der Soziologie nach 1900 im kaiserlichen Deutschland an Fahrt aufnahm, der Disziplin bekanntlich die Aufgabe einer reinen Ist-Analyse der Gesellschaft zugewiesen. Er tat das in einer ganzen Reihe von Texten. Bekanntestes Beispiel ist wohl seine Eröffnungsrede auf dem Ersten Soziologentag der von ihm mitbegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1910 in Frankfurt am Main. Wie mit einem Messer trennt er hier das soziologische Wissen vom praktischen Wissen um das unmittelbar Lebensdienliche ab. Soziologie, so Tönnies, könne sich als Wissenschaft nicht unmittelbar in den Dienst der „Lebensführung“ stellen.[45] Das grundlegende Problem, mit dem es die Soziologie zu tun habe, sei das Erfassen einer Totalperspektive. Die Soziologie wissenschaftlich zu qualifizieren, bedeutet für Tönnies, sie aus ihrer unmittelbaren Umwelt und den dazugehörigen Verstrickungen zu lösen. Die Gesellschaft und ihre sozialen Vorgänge müssten so betrachtet werden, „als ob sie Vorgänge auf dem Mond wären, die uns gar nicht angehen“, umschreibt er 1910 in Frankfurt die Einstellung, welche sich die Soziologie im Erkenntnisakt zu eigen machen müsse.[46] Bei der von ihm beschriebenen Methode handelt es sich um eine Art geistiges Training, dessen Grundzüge er bereits 1887 in Gemeinschaft und Gesellschaft dahingehend charakterisiert hatte, dass nichts „den objectiven Anblick der Dinge stören dürfe“.[47] Auch das Motiv vom Blick auf den Mond klingt hier bereits an: Wer die „Cultur“ und ihre „Körper und Bewegungen“ beobachten wolle, müsse dies „wie mit [einem] Teleskop“ tun.[48]

Auch dem von Tönnies kurz nach der Jahrhundertwende formulierten Vergleich der Soziologie als Teil der Kultur- beziehungsweise Sozialwissenschaften mit einem „Wart-Turm“ liegt ein ähnliches Motiv zugrunde, die Bildebene wird aber anders ausgestaltet. So eröffnet auch die hohe Warte demjenigen, der sich oben auf ihr befindet, eine Totalperspektive und eine entsprechend umfassende Sicht auf die nähere oder weitere Umgebung. Anders derjenige, der in den Niederungen verharrt, der sich keinen Überblick verschaffen kann und der folglich in seinem beschränkten Horizont befangen bleibt. Entsprechend schreibt Tönnies in dem Text Politik und Moral von 1901: „[N]ur auf der wirklichen Höhe, wo man nach allen Seiten rings um sich schaut, […] wo du die Gestalten der Menschen unscheinbar und einander sehr ähnlich unter dir erblickst, ja wo du dein Auge durch künstliches Fernglas verstärken mußt, um ihre Verhältnisse und Bewegungen zu gewahren, – nur da hast du einen stillen und sicheren Sitz über den Parteien, lernest ihr Wesentliches und Richtiges unterscheiden, siehst woher sie kommen, wohin sie gehen, und erkennst, wie auch das Leben, Trachten und Denken der Menschen nach großen, ehernen, ewigen Gesetzen bestimmt ist.“[49] Im Gegensatz zum Motiv vom Blick auf den Mond enthält die Turmmetapher allerdings auch etwas entschieden Wehrhaftes und eine Freund-Feind-Implikation.

Tönnies hat diese Sätze beziehungsweise sein Verständnis von Soziologie nun aber natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern innerhalb eines bestimmten Kontextes verfasst, in den er sich hineingestellt fand. Diesen Kontext bildet das soziologische Projekt nach 1900, von dem lange alles andere als klar war, dass es zu einer anerkannten Einzeldisziplin führen würde.[50] Das sollte sich erst rund zwanzig Jahre später in der Weimarer Republik ändern, als angefangen mit Franz Oppenheimer in Frankfurt am Main sowie Max Scheler und Leopold von Wiese in Köln die ersten soziologischen Lehrstühle eingerichtet wurden.[51] In der Zwischenzeit bestand das soziologische Projekt vor allem in einer Suche nach methodischer und theoretischer Eigenständigkeit sowie in einem Ringen um akademische Seriosität und Anerkennung. Beides war nicht leicht, galt doch Soziologie im Wilhelminischen Kaiserreich in mehr als einer Hinsicht als heikles Thema. Von außen betrachtet hatte die ‚Wissenschaft im Werden‘ noch keine klaren Konturen und irritierte. Überdies weckte die Soziologie politische Implikationen: Da war zuerst der französische Wortursprung, der das Fach aufgrund der althergebrachten Feindschaft mit dem Nachbarland in den Augen etlicher Konservativer von vornherein verdächtig machte. Eng damit zusammen hing eine, wenn man Tönnies glauben darf, durchaus verbreitete „Assoziation des Namens mit Sozialismus“.[52] Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem Begriff der „Gesellschaft“, der quasi den Objektbereich der Soziologie bezeichnete: Auch er evozierte in bürgerlichen Kreisen Anklänge an die Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund gab es nicht wenige Kritiker, denen die Soziologie als eine Blaupause für erträumte Gesellschaftsentwürfe galt.[53]

Dieser Vorwurf war durchaus nicht unbegründet. Tatsächlich existierte unter den frühen Soziologen ein großer sozialreformerischer Flügel, mit dem sich Namen wie Rudolf Goldscheid oder Franz Carl Müller-Lyer sowie der etwas prominentere Franz Oppenheimer verbinden lassen. In sich war dieser Flügel zwar heterogen, doch was die ihm zugehörigen Wissenschaftler ungeachtet aller Differenzen verband, war die Hoffnung auf eine umfassende, rationale Ordnung der Gesellschaft.[54] Wenn Tönnies der Soziologie die Aufgabe einer objektiven Gesellschaftsanalyse zuwies, richtete sich diese Forderung nicht zuletzt auch gegen ein derart normativ aufgeladenes Verständnis von Soziologie als einer philanthropisch-menschheitsbeglückenden Wissenschaft. Im Kampf der akademischen Disziplinen um die besten Köpfe hielt Tönnies das öffentliche Aufsehen, das insbesondere diese Richtung erhielt, für geradezu kontraproduktiv. Deutlich wird das in seiner Abgrenzung gegenüber Auguste Comte. Dieser hatte 1837 nicht nur den Begriff „Sociologie“ geprägt, sondern in seinem Spätwerk Système de politique positive das neue Wissensgebiet zugleich mit einem utopischen Programm verknüpft. Es gipfelt in einer von wissenschaftlichen Prinzipien geleiteten Zivilisation des Fortschritts und der Ordnung: Ordem e progresso, wie bekanntlich auch heute noch der von Comte inspirierte Wahlspruch des brasilianischen Staates lautet.[55] Diese erträumte Gesellschaftsordnung machte „Comte bei Sozialreformern zu einer zentralen sozialwissenschaftlichen Referenzperson“.[56] In einem Vortrag über „Comtes Begriff der Soziologie“, den Tönnies 1908 auf dem Internationalen Philosophenkongress in Heidelberg hielt, nutzte er die Gelegenheit, um sich von dieser Vorstellung von Soziologie abzugrenzen. Tönnies erinnerte daran, dass Comte den Begriff „Sociologie“ in Umlauf gebracht habe, weswegen er „oft auch als Begründer dieser Wissenschaft, nicht selten als ihr Vater hingestellt“ werde.[57] Diese Zuschreibung hielt Tönnies aber für irreführend: Comte habe zwar den Namen gestiftet, als „Vater“ der Soziologie könne er aber deshalb noch nicht gelten. Die Geschichte der Soziologie, so Tönnies, beginne nicht mit Comte und überhaupt sei alles in allem „durch ihn wenig geschehen“, um das Wissen über Gesellschaft – und vor allem darauf kam es Tönnies an – zu verwissenschaftlichen.[58] Die Aufgabe der Soziologie sei es, so Tönnies, das soziale Leben zu erfassen: „Sie muß Denkmittel schmieden, um diese Wirklichkeit zu verstehen“. Genau das Gegenteil sei aber bei Comte der Fall gewesen, er habe stattdessen ein „Ideal des sozialen Lebens“ erträumt.[59]

Derartige Abgrenzungsbemühungen sollten aber nicht dazu verleiten, Tönnies als unpolitischen Denker einzustufen. Ganz so einfach ist der Sachverhalt nicht, wie das Vorangegangene aufgezeigt hat. Natürlich ging es Tönnies darum, Entwürfe einer Soziologie mit normativen Prägungen á la Comte zurückzuweisen, weil sie eben viel Aufmerksamkeit auf sich zogen und die um 1900 erhobene Kritik an der Soziologie zu bestätigen schienen. Eine pauschale Entpolitisierung der Soziologie ging aber mit der von ihm betonten Dignität einer objektiven Sozialwissenschaft, welche die Soziologie zu sein hatte, nicht einher. Vielmehr beharrte er auf Distanz, Objektivität und Werturteilsfreiheit als Voraussetzungen für wissenschaftliche Erkenntnis, die dann in politisch relevantes Wissen transformiert und praktisch nutzbar gemacht werden konnte. Letztlich teilte Tönnies sogar die Ansicht, dass längst eine Gesellschaftsordnung im Entstehen sei, die entlang soziologischer Erkenntnisse ausgebaut und verbessert werden könnte. Bis in die späten 1890er Jahre – Tönnies hatte gerade angefangen, sich selbst als Soziologen zu bezeichnen – vertrat er solche Positionen auch noch unverblümt öffentlich, wie etwa im Nietzsche-Kultus, der 1897 erschien.

Die Soziologie, „die Lehre von den Tatsachen und der Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens“, und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, die „aus eigenen Kräften die moderne Kultur in ihren tiefsten Grundlagen zu erneuern“ versucht, machte er hier zu Bündnispartnern an der Schwelle zum neuen Jahrhundert.[60] Die historische Entwicklung, die für ihn vor allem durch die soziale Frage bestimmt war und an der sich die „Zerrüttung der modernen Kultur“ immer offener zeigte,[61] hatte in seinen Augen die Voraussetzungen für die Entfaltung und Verbreitung soziologischen Wissens befördert. Die Soziologie war insofern eine Folge der gesamten „Philosophie des 19. Jahrhunderts“, vor allem aber war sie die Erbin jener „kritisch-positiven Denkungsart“, die nicht mehr wähnt, so Tönnies weiter, „daß sie die Dinge machen könne, sondern ihre Aufgabe in jener bescheidenen sokratischen Kunst sich bestimmt, der zuerst Karl Marx einen sozialen Sinn gegeben hat: in der Geburtshilfe“.[62] Und es war nur folgerichtig, wenn Tönnies die „herrschende Klasse“ umgekehrt zur größten „Feindin der neuen Sociologie“ stilisierte.[63]

Zwar wird Tönnies das von ihm zu dieser Zeit ausgesprochen kämpferisch propagierte Bündnis von Soziologie und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung in den Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht mehr so dezidiert beschwören – zumindest nicht öffentlich –, dennoch bleibt die Soziologie für ihn eine Transformationswissenschaft.[64] Das ergibt sich jedenfalls unweigerlich aus seinen Gedanken einer über den Parteien stehenden Soziologie mit ihrer Tendenz zur Verwissenschaftlichung der Politik. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist es, seine Kritik an der aus der Sozialreform hervorgehenden Soziologie und ihrer Referenzperson Auguste Comte erneut aufzugreifen. Blickt man zu diesem Zweck noch einmal in die Rede auf dem Internationale Philosophenkongress 1908 in Heidelberg, so zeigt sich, dass Tönnies an die betreffende Stelle eine Passage ankoppelt, die neben der reinen Ist-Analyse der Gesellschaft eine ganz andere Lesart eröffnet. Nach dieser habe eine „praktische“ Soziologie auf einer vorangegangenen theoretischen aufzubauen. Oder anders ausgedrückt: Der letzte Schritt könne nicht vor dem ersten getan werden.[65] In diesem Sinne lässt Tönnies den 1908 gehaltenen Vortrag über Comte ausklingen. Er schreibt hier: „Die bleibende Bedeutung […] [von Comtes, A. W.] Soziologie liegt in einer andern Sphäre. Sie stellt nicht eine Begründung, sondern eine Krönung dar, nicht ein Piedestal, sondern ein Kapitäl.“[66] Tönnies vergleicht somit die Soziologie mit einer in die Höhe strebenden Säule. Das Piedestal, ihren Sockel bildet insofern die theoretische Soziologie, ganz oben angekommen, thront letztlich die praktische Soziologie als Kapitell, gleichsam den oberen Abschluss der Säule bildend. Und so schließt sich ganz beiläufig auch wieder der Kreis zum Bild der Soziologie als „Wart-Turm über den Parteien“.

  1. Dieser Beitrag basiert auf einem Plenarvortrag, den ich im September 2019 auf dem X. Internationalen Tönnies-Symposium in Kiel gehalten habe. In erweiterter Form wird er demnächst in einer Publikation erscheinen, die alle Beiträge des Symposiums versammelt. Für Anregungen und Hinweise bedanke ich mich herzlich bei meinen Kollegen vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, allen voran bei Uwe Dörk und Verena Keysers, sowie bei Sven Altenburger und Arthur Kuhle von der Georg-August-Universität in Göttingen und nicht zuletzt auch bei Albert Dikovich von der Universität Konstanz.
  2. Einige Aspekte von Tönniesʼ Tätigkeit als Präsident und im Vorstand der DGS beleuchten Uwe Dörk, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) in der Zwischenkriegszeit 1918–1933. Akademische Etablierung unter dem Zeichen elitär-demokratischer Kreisbildung, in: Stephan Moebius / Andrea Ploder (Hg.), Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie, Bd. 1: Geschichte der Soziologie im deutschsprachigen Raum, Wiesbaden 2018, S. 829–848 und ders., Die frühe Gesellschaft für Soziologie. Zum organisatorischen, epistemischen und sozialen Profil einer Fachgesellschaft, in: ebd., S. 809–828. Siehe in diesem Zusammenhang auch Alexander Wierzock, Ferdinand Tönnies über den wissenschaftlichen Nachwuchs in der Soziologie. Eine Denkschrift aus der Zeit der Weimarer Republik, in: Zyklos. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie 3 (2017), S. 313–339. Zur DGS-Geschichte allgemein siehe auch Uwe Dörk / Sonja Schnitzler / Alexander Wierzock, Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vor 110 Jahren, in: Soziologie 48 (2019), S. 309–316.
  3. Zwei Ausnahmen bilden Harry Liebersohn, „Gemeinschaft und Gesellschaft“ und die Kritik der Gebildeten am deutschen Kaiserreich, in: Lars Clausen / Carsten Schlüter (Hg.), Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991, S. 17–30 und Fritz Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, übers. von Klaus Laermann, München 1987 (auf Englisch zuerst erschienen 1969), insb. S. 153–161.
  4. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 670 und Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980, insb. S. 194–196, S. 284–287, und S. 401–411. Tönnies stärker als politischen Intellektuellen in den Blick zu nehmen, forderte jüngst auch Niall Bond, Ferdinand Tönnies und die Politik, in: Uwe Carstens (Hg.), Ferdinand Tönnies. Der Sozialstaat zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, Baden-Baden 2014, S. 171–182.
  5. Silke van Dyk / Alexandra Schauer, „… daß die offizielle Soziologie versagt hat“. Zur Soziologie im Nationalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS, Essen 2010, S. 21.
  6. Dirk Käsler, Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Opladen 1984, S. 406. Für eine frühe Kritik der Einordnung von Tönnies als „unpolitisch“ siehe Volker Kruse, Soziologie und „Gegenwartskrise“. Die Zeitdiagnosen Franz Oppenheimers und Alfred Webers. Ein Beitrag zur historischen Soziologie der Weimarer Republik, Wiesbaden 1990, S. 42–44.
  7. Der zweite Abschnitt des vorliegenden Textes basiert in Teilen auf Alexander Wierzock, Ein „Wart-Turm über den Parteien“. Tönnies als Kritiker von Parteien und Parlament im Deutschen Kaiserreich, in: Carstens (Hg.), Ferdinand Tönnies, S. 101–122. Zur Formierung des disziplinären Projekts der Soziologie um 1900 siehe jetzt Roberto Sala, Theorie versus Praxis? Soziologie in Deutschland und den Vereinigten Staaten im frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main / New York 2019, S. 59–77 , und ders., Ein schwaches Etikett? Die deutschsprachige Soziologie im frühen 20. Jahrhundert, in: Uwe Dörk / Fabian Link (Hg.), Geschichte der Sozialwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Idiome – Praktiken – Strukturen, Berlin 2019, S. 83–112.
  8. Siehe hierzu Heino Kaack, Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971.
  9. Vgl. Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und Politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, übers. von Sybille Hirschfeld, Stuttgart 2009.
  10. Siehe hierzu Philipp Erbentraut, Theorie und Soziologie der politischen Parteien im deutschen Vormärz 1815–1848, Tübingen 2016.
  11. Birgit Aschmann, „Das Säkulum der Widersprüche“. Das 19. Jahrhundert und der Durchbruch der Moderne? Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Durchbruch der Moderne? Neue Perspektiven auf das 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2019, S. 5–28, hier S. 15.
  12. Siehe James Bryce, The American Commonwealth, Vol. I-III, London 1888; Abbott Lawrence Lowell, Government and Political Parties, Vol. I-II, Boston 1896; Moisej Jakovlevič Ostrogorskij, Democracy and the Organization of Political Parties, Vol. I-II, London 1902.
  13. Zur Bedeutung des Archivs für die demokratietheoretische Diskussion während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik siehe jetzt Gangolf Hübinger, Kapitalismus und Demokratie im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ 1904–1933, in: Detlef Lehnert, Soziale Demokratie und Kapitalismus. Die Weimarer Republik im Vergleich, Berlin 2019, S. 49–76.
  14. Harald Bluhm / Skadi Krause, Einleitung. Robert Michelsʼ Soziologie des Parteiwesens. Oligarchie und Eliten – die Kehrseiten moderner Demokratie, in: dies. (Hg.), Robert Michelsʼ Soziologie des Parteiwesens. Oligarchie und Eliten – die Kehrseiten moderner Demokratie, Wiesbaden 2012, S. 9–19, hier S. 19. Zu den Vorstudien siehe Robert Michels, Die Deutsche Sozialdemokratie. Parteimitgliedschaft und soziale Zusammensetzung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 23 (1906), S. 470–556; ders., Die oligarchischen Tendenzen der Gesellschaft. Ein Beitrag zum Problem der Demokratie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 27 (1908), S. 73–135.
  15. Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens [1911], Stuttgart 1989, S. 369.
  16. Vgl. hierzu Monika Wienfort, Das 19. Jahrhundert als monarchisches Jahrhundert, in: Aschmann (Hg.), Durchbruch der Moderne?, S. 56–82, hier S. 56.
  17. Zur Illustration seien hier einige weitere Beispiele genannt: Für den kurhessischen Journalisten Friedrich Murhard etwa bildete ein Standpunkt über den Parteien die Grundvoraussetzung dafür, ein „wahrhafter Nationalkönig“ zu sein. Auch Joseph Ennemoser, ein bekannter medizinisch-philosophischer Autor der Zeit, bediente sich der Begrifflichkeit. So bemerkte er über den Monarchen, dass dieser zwar „nicht absolut frei, weil er an die Gesetze der Volksgewalt im Parlamente gebunden ist, aber doch frei über den Partheien“ sei. Vom Monarchen losgelöst und auf die Regierung übertragen findet sich der Gedanke auch in der Frankfurter Nationalversammlung, so etwa bei dem Rechtswissenschaftler Carl Joseph Anton Mittermaier, einem Vertreter des gemäßigten südwestdeutschen Liberalismus. Die Rolle des Gesetzgebers definierte er entsprechend als ein über den Parteien stehendes Staatsorgan. Für die Zitate siehe der Reihenfolge nach: Friedrich Murhard, Das königliche Veto. Eine wichtige Aufgabe in der Staatslehre der konstitutionellen Monarchie, Kassel 1832, S. 66; Joseph Ennemoser, Sendschreiben an seine alten und jungen Brüder über den Begriff der wahren Freiheit und eines gesunden Staatsorganismus für das deutsche Vaterland, München 1848, S. 16 f.; Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. 40: Nr. 90–112, Leipzig 1848, S. 2490.
  18. Joseph Görres, Ministerium, Staatszeitung, rechte und unrechte Mitte, München 1832, S. 8 f.
  19. Glaßbrenner zit. n. Jurende’s Vaterländischer Pilger. Geschäfts- und Unterhaltungsbuch für alle Kronländer des österreichischen Kaiserstaates auf das gemeine Jahr 1851, Wien 1851, S. 201. Komplett lautet der Spottvers „Ueber die Parteien“ wie folgt: „Ueber den Parteiʼn, in der Luft, steht Niemand. Zwischen den Kämpfern / Laufet Ihr Narren: sichere Opfer der Schlacht.“ Gustav Keller, zit. n. Ludwig Völker, Bürgerlicher Realismus, in: Walter Hinderer (Hg.), Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Würzburg 2001, S. 340–370, hier S. 345.
  20. Gustav Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts [1930], in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 14: Staat und Verfassung, bearb. v. Hans-Peter Schneider, Heidelberg 2002, S. 42–53, hier S. 46.
  21. Siehe als ein Beispiel von vielen Ulrich von Alemann, Grundlagen der Politikwissenschaft. Ein Wegweiser, Wiesbaden 1995, S. 18.
  22. Beispiele zum Folgenden finden sich etwa im Abschnitt „Die deutschen Professoren und die deutsche Politik: der deutsche Eigenweg“, in: Nipperdey, Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 590–601.
  23. Ebd., S. 592.
  24. Friedrich Paulsen, Parteipolitik und Moral, Dresden 1900, S. 38.
  25. Vgl. Rüdiger vom Bruch, Historiker und Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland, in: Klaus Schwabe (Hg.) Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815–1945, Boppard am Rhein 1988, S. 105–150.
  26. Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902, S. 331.
  27. Ferdinand Tönnies, Politik und Moral. Eine Betrachtung [1901], in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 5: 1900–1904, hrsg. v. Bärbel Carstens u. Uwe Carstens, Berlin / Boston, MA 2018, S. 3–47, hier S. 36. Das folgende Zitat ebd. (Hervorh. im Original).
  28. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesamtausgabe I/17: Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1992, S. 70–111, hier S. 106.
  29. Ebd.
  30. Adolf von Harnack, Vom Großbetrieb der Wissenschaft [1905], in: ders, Aus Wissenschaft und Leben, Bd. 1: Wissenschaft, Schule und Bibliothek, Gießen 1911, S. 11–20.
  31. Vgl. zu diesen Angaben vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, S. 59. Freilich lässt sich mit Bernhard von Brocke auf die nur bedingte Aussagekraft dieser Angabe hinweisen, denn die politisch engagierten Hochschullehrer verteilten sich „im Laufe des Kaiserreichs […] auf die Vielzahl parlamentarischer Vertretungskörperschaften“ des Bundesstaates. Ders., Professoren als Parlamentarier, in: Schwabe (Hg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815-1945, S. 55–92, hier S. 66. Hinzu kommt als weitere Ebene die kommunalpolitische, die gerade für die deutschen Großstädte zu einem selbstverständlichen Betätigungsfeld vieler Professoren gehörte.
  32. Friedrich Naumann, Politische Professoren, in: Die Hilfe 20 (1914), S. 474–475, hier S. 474.
  33. Werner Sombart, Die Abkehr der Gebildeten von der Politik, in: Morgen 1 (1907), 16, S. 479–483. Siehe hierzu auch Friedrich Lenger, Die Abkehr der Gebildeten von der Politik. Werner Sombart und der „Morgen“, in: Gangolf Hübinger / Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main 1993, S. 62–77.
  34. Vgl. Gustav Schmidt, Gelehrtenpolitik und politische Kultur in Deutschland – Zur Einführung, in: ders., / Jörn Rüsen (Hg.), Gelehrtenpolitik und politische Kultur in Deutschland 1830–1930, Bochum 1986, S. 5–35, hier S. 12.
  35. Nipperdey, Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 595.
  36. Über den Parteien. Vigilius (= Tönnies), Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel (SHLB), Tönnies-Nachlass (TN), Cb 54.33:17, Bl. 2. (Hervorh. im Original).
  37. Friedrich Paulsen an Ferdinand Tönnies, 8.4.1899, in: Ferdinand Tönnies / Friedrich Paulsen, Briefwechsel 1876–1908, hrsg. v. Olaf Klose, Georg Eduard Jacoby u. Irma Fischer, Kiel 1961, S. 341.
  38. Ferdinand Tönnies an Friedrich Paulsen, 18.4.1899, in: ebd., S. 341–342, hier S. 341.
  39. Vgl. zum Folgenden Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Darmstadt 2010, S. 25–34. Beiläufig bemerkt, steht Tönnies damit für eine ausgesprochen frühe deutsche Rezeption des Intellektuellenbegriffs, der gerade erst 1898 im Zuge der Dreyfus-Affäre wirkmächtig wurde. Seine Geburtsstunde war Émile Zolas offener Brief „Jʼaccuse“ vom 13. Januar 1898 und das darauffolgende „Manifeste des intellectuels“. Erstmals kennengelernt hatte Tönnies den Begriff bereits am 14. Januar 1898, als er im Hamburger Café Ott – eines seiner Stammlokale – durch einen nicht näher genannten Herrn auf Zolas Brief aufmerksam gemacht wurde. In seinem Taschenkalender des Jahres hielt Tönnies diesbezüglich fest: „Nachm. [Nachmittags] Café Ott. Der alte Hr. [Herr] über Zolas Brief i S [im Sinne] Dreyfus – ‚Heldentat‘“. Taschenkalender 1898, SHLB, TN, Cb 54.11:03, Eintragung v. 14.01.1898.
  40. Ferdinand Tönnies an Friedrich Paulsen, 18.4.1899, in: Tönnies/Paulsen, Briefwechsel 1876–1908, S. 342 (Hervorh. im Original).
  41. Ebd.
  42. Friedrich Paulsen an Ferdinand Tönnies, 29.4.1899, in: Tönnies/Paulsen, Briefwechsel 1876–1908, S. 342.
  43. Tönnies, Politik und Moral, S. 40.
  44. Ebd. (Hervorh. im Original).
  45. Ferdinand Tönnies, Wege und Ziele der Soziologie. Rede zur Eröffnung des Ersten Deutschen Soziologentages (1910), in: ders., Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung, Jena 1926, S. 125–143, hier S. 125.
  46. Ebd., S. 127.
  47. Ferdinand Tönnies, Vorrede zur ersten Auflage, in: ders., Gesamtausgabe. Bd. 2: 1880–1935. Gemeinschaft und Gesellschaft, hrsg. v. Bettina Clausen u. Dieter Haselbach, Berlin / Boston, MA 2019, S. 19–32, hier S. 27.
  48. Ebd.
  49. Ders., Politik und Moral, S. 36.
  50. Vgl. zum Kontext Sala, Ein schwaches Etikett?
  51. Zu Oppenheimer und dem für ihn gestifteten Lehrstuhl für Soziologie und Theoretische Nationalökonomie, den er von 1919 bis 1929 bekleidete, siehe Volker Caspari / Klaus Lichtblau, Franz Oppenheimer. Ökonom und Soziologe der ersten Stunde, Frankfurt am Main 2014 und Claudia Willms, Franz Oppenheimer (1864–1943). Liberaler Sozialist, Zionist, Utopist, Köln/Weimar 2018, S. 218–222. Zum Fall der Universität Köln und dem dort eingerichteten Institut für Sozialwissenschaften siehe auch Sala, Theorie versus Praxis?, S. 184–207. Zu Leopold von Wiese siehe auch den in Kürze im Bd. 28 der Neuen Deutschen Biographie erscheinenden Artikel Sonja Schnitzlers.
  52. Ferdinand Tönnies, Ferdinand Tönnies, in: Die Philosophie in Selbstdarstellungen, hrsg. v. Raymund Schmidt, Leipzig 1924, S. 202–242, hier S. 233.
  53. An dieser schwierigen Lage der Soziologie änderte sich auch unmittelbar zu Beginn der Weimarer Republik zunächst nur wenig. Die Disziplin blieb angefochten. Siehe hierzu Erhard Stölting, Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1986, S. 211–220 und ders., Die Soziologie in den hochschulpolitischen Konflikten der Weimarer Republik, in: Bettina Franke / Kurt Hammerich (Hg.), Soziologie an den deutschen Universitäten: Gestern – Heute – Morgen, Wiesbaden 2006, S. 9–30.
  54. Vgl. zu dieser Richtung in der frühen, noch nicht institutionalisierten Soziologie Katharina Neef, Die Entstehung der Soziologie aus der Sozialreform. Eine Fachgeschichte, Frankfurt am Main 2012.
  55. Aus der reichhaltigen Literatur zu Comte siehe etwa Raymond Aron, Hauptströmungen des soziologischen Denkens, Bd. 1: Montesquieu. Auguste Comte. Karl Marx. Alexis de Tocqueville, übers. von Franz Becker, Köln 1971, S. 71–130.
  56. Neef, Die Entstehung der Soziologie aus der Sozialreform, S. 103.
  57. Ferdinand Tönnies, Comtes Begriff der Soziologie, in: ders., Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung [1908], Jena 1926, S. 116–122, hier S. 116.
  58. Ebd., S. 122.
  59. Ebd.
  60. Ferdinand Tönnies, Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik [1897], Berlin 1990, S. 20.
  61. Ebd.
  62. Ebd., S. 22 (Hervorh. im Original).
  63. Ebd., S. 20 (Hervorh. im Original). Freilich sollten die schwierigen Zwischentöne im Verhältnis von Tönnies zur Sozialdemokratie, sein sozialer Pessimismus und die Kritik an revolutionärer Politik, um hier nur zwei Aspekte kurz zu nennen, nicht übersehen werden. Siehe dazu ausführlicher Alexander Wierzock, Nähe und Distanz eines Intellektuellen zur Sozialdemokratie. Ein vergessenes Gutachten des Soziologen Ferdinand Tönnies zur Revision des Erfurter Programms, in: Archiv für Sozialgeschichte 55 (2015) S. 321–342.
  64. Zur Soziologie als Transformationswissenschaft und ihren sozialreformerischen Implikationen bei Tönnies nach 1918/19 siehe Alexander Wierzock, „Nicht Kartenhäuser oder Luftschlösser, sondern einen Tempel des Geistes und der Gesittung“. Ferdinand Tönniesʼ Verhältnis zu den revolutionären Erneuerungshoffnungen 1918/19, in: Albert Dikovich / Alexander Wierzock (Hg.), Von der Revolution zum Neuen Menschen. Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur, Stuttgart 2018, S. 39–66.
  65. Im Zuge der Systembildung teilt Tönnies nach 1900 die Soziologie auf drei Teilbereiche auf, die er a) als „reine“ oder „theoretische“, b) „angewandte“ und c) „empirische“ Soziologie bzw. Soziographie zu bezeichnen pflegt. Siehe etwa Ferdinand Tönnies, Einteilung der Soziologie [1925], in: ders., Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung, Jena 1926, S. 430–443. Sieben Jahre später unternimmt er aber beiläufig eine Ausweitung auf eine „praktische“ Soziologie, die er an dieser Stelle auch ausdrücklich auf Comtes Vorstellungen einer positiven Politik bezieht. Siehe ders., Mein Verhältnis zur Soziologie [1932], in: ders., Gesamtausgabe. Bd. 22: 1932–1936, hrsg. v. Lars Clausen, Berlin / New York 1998, S. 327–349, hier S. 349.
  66. Ders., Comtes Begriff der Soziologie, S. 122.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Politik Politische Theorie und Ideengeschichte Universität Wissenschaft

Alexander Wierzock

Alexander Wierzock promoviert an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Biografie über den Soziologen und politischen Intellektuellen Ferdinand Tönnies (1855-1936). Außerdem ist er derzeit am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im DFG-Projekt „Ferdinand Tönnies: Eine digitale Briefedition“ beschäftigt.

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