Tatjana Trautmann | Essay |

Aus Tönnies' Notizbüchern

Ein Streifzug

Ferdinand Tönnies war ein unentwegter Schreiber. Er hinterließ nicht nur ein umfangreiches Œuvre zahlreicher Bücher, Aufsätze und Rezensionen, sondern auch ein großes Konvolut unveröffentlichter Ideen und Notizen. Seit seinem 16. Lebensjahr schrieb er seine Gedanken in zahlreichen Notizbüchern nieder, sie waren seine dauernden Begleiter. Tönnies nahm sie überallhin mit und schrieb darin auf, was ihn gerade beschäftigte. Insgesamt füllte er bis zu seinem Tod nicht weniger als 137 solcher Bücher und dazu nochmals 30 Notizkalender, in denen er Eintragungen verschiedener Art notierte. Die Kalender und Notizbücher sind Teil des 82 Archivkartons umfassenden Tönnies-Nachlasses (TN), der in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek (SHLB) unter der Signatur Cb 54 verwahrt wird. Der Soziologe und Handschriftenbibliothekar Jürgen Zander bezeichnete die Notizbücher aufgrund ihres ebenso ergiebigen wie ungeordneten Inhalts einmal treffend als „Steinbrüche des Geistes“.[1] Seit Mai 2018 werden diese „Steinbrüche“ von mir im Rahmen eines von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur unterstützten Kooperationsprojektes der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft und der SHLB erschlossen. Sie sind allerdings nur schwer zugänglich. Zum einen ist Tönnies’ Handschrift doch sehr gewöhnungsbedürftig und bisweilen nur schwer zu entziffern, zum anderen hatte er die Angewohnheit, die Bücher nicht nur einmal zu beschriften, sondern sie – auf den Kopf gedreht und in umgekehrter Richtung – auch noch ein zweites Mal zu beschreiben.[2] Was ich im Folgenden präsentieren möchte, sind einige Fundstücke aus der Gedankenwelt, die sich auf den eng beschriebenen Seiten erschließt.

Die ersten Einträge stammen noch aus seiner Zeit als Gymnasiast. Der Primaner Tönnies schrieb, wie sollte es anders sein, vor allem über Liebe und Gefühle. Ob die Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Theodor Storm, den er 1869 kennenlernte und mit dem er bis zu dessen Tod 1888 in engem Kontakt blieb, sein Interesse an Lyrik weckte, ist nicht sicher. Fest steht, dass Tönnies zu dieser Zeit einige Gedichte schrieb. Hier ein Beispiel aus dem Jahr 1871, als er 16 Jahre alt war:

„Ich sprach von Lieb‘ und du glaubtest es nicht
Du liebtest mich nicht und du küssetest mich
Und nun hast du abgewandt das Gesicht
Nun scherzen wir nicht und doch liebst du mich“.[3]

Das Interesse an Lyrik verließ Tönnies auch in späteren Jahren nicht. Immer wieder finden sich zwischen seinen Aufzeichnungen kurze Gedichte, in denen er Gedanken und Empfindungen zum Ausdruck brachte, so wie in diesem Zweizeiler aus dem Januar 1920:

„Zuweilen fühlt man wie d[as] Leben rinnt,
zuweilen sieht u. hört man wie es rennt.“[4]

Aber nicht nur Liebe und Lyrik trieben den jungen Tönnies um. Der aus einer wohlhabenden Bauernfamilie stammende Gymnasiast machte sich auch Gedanken über die soziale Frage und das Problem der Gerechtigkeit. So fragte er sich etwa, ob es rechtmäßig sei, eine höhere gesellschaftliche Stellung durch Bildung statt durch körperliche Arbeit zu erreichen, und sinnierte über das harte Leben der Arbeiter: „ununterbrochen mü[h]t er sich ab, bis i[h]n zur Mittagsstunde ein kärgliches Mal, und vor Hunger schreiende Kinder erwartet“.[5] Sympathien für die Angehörigen der unteren sozialen Schichten, wie sie nicht zuletzt in den Artikeln deutlich werden, mit denen Tönnies 1896 den Streik der Hamburger Hafenarbeiter publizistisch begleitete, sind hier bereits angelegt.

Nach seinem Abitur 1872 studierte Tönnies Philologie, unter anderem in Jena, Berlin und Kiel, um nur die wichtigsten Stationen seiner Studienzeit zu nennen, die den umtriebigen Studenten quer durch Deutschland führte. Der Aufenthalt an der Universität Kiel im Sommersemester 1876 missfiel Tönnies, die Vorlesungen des Philologen Eduard Lübbert fand er „hohl“ und „gräßlich“.[6] Nachdem er im Alter von 22 Jahren seine Promotion an der Universität Tübingen erfolgreich abgeschlossen hatte, beschäftigte er sich intensiv mit den Schriften des englischen Staatstheoretikers und Philosophen Thomas Hobbes. Aus seinen Forschungen, die ihn 1878 auch für mehrere Wochen nach England und in den Lesesaal des British Museum führten, in dem er Karl Marx sah, aber nicht anzusprechen wagte, entstanden die „Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes“, die in vier Zeitschriftenartikeln zwischen 1879 und 1881 veröffentlicht wurden. In einem der Notizbücher[7] finden sich umfangreiche Vorarbeiten für diese Artikelserie. Neben Auszügen aus einem Werk des spanischen Humanisten Juan Luis Vives, das Hobbes als Quelle genutzt hatte, sind darin vor allem Passagen, in denen Tönnies seine Lektüreeindrücke festhielt. Einige davon stimmen mit den veröffentlichten Artikeln teilweise wörtlich überein. Mit Blick auf Hobbes’ politische Philosophie heißt es dort unter anderem:

„Hobbes Elem. of Law rein begriffliche Ableitung. Von Ursachen fast garnicht die Rede“.

Und weiter:

„Ich hege nun die Meinung und habe sie schon früher angedeutet, daß Hobbes die Grundzüge dieser ethisch-politischen Theorie schon für sich festgestellt hatte, als die mechanistische Betrachtung zur beherrschenden Macht seines Denkens wurde.“[8]

Die Einträge in dem betreffenden Notizbuch offenbaren ein weiteres typisches Merkmal dieser Werke: Tönnies nahm die Bücher in fortgeschrittenem Alter erneut zur Hand und vermerkte dabei Entstehungsdaten beziehungsweise unterstrich vorhandene Datumsangaben mit einem pinken Buntstift. Manchmal finden sich auch Bearbeitungen in anderen Buntstiftfarben, deren unterschiedliche Bedeutung aber nicht nachvollzogen werden kann.

Am 18. November 1879 formuliert Tönnies im selben Notizbuch das erste Mal die Idee zu einer „Philosophische[n] Theorie der Gemeinschaft“.[9] Erste, 1880 niedergeschriebene Gedanken zu diesem Lebensthema, das Tönnies nicht nur in seinem soziologischen Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft beschäftigte, lesen sich wie folgt:

„Indem wir geboren werden und die 4 Wände anschreien, treten wir ein in eine Gemeinschaft, die Familie.“

„Sehen wir hingegen das Grundschema der Gesellschaft an, so ist hier Ein für Mehrere gültiger Wille überhaupt nicht vorhanden, außer wenn er als gelegentliche Uebereinstimmung der verschiedenen Willen zu Stande kömmt“.[10]

Auch stellte Tönnies hier schon erste Überlegungen zur Struktur der Darstellung auf. Insgesamt arbeitete er acht Jahre an der ersten Fassung von Gemeinschaft und Gesellschaft, die er im Februar 1887 fertigstellte.[11] Im Rahmen seiner Vorarbeiten und Studien beschäftigte sich Tönnies zudem verstärkt mit Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte und las daher auch Rudolf von Jherings Werk Der Zweck im Recht. In einem der Notizbücher[12] entwarf er 1880 eine Rezension des Buches, die allerdings nicht veröffentlicht wurde. Darin äußerte er sich durchaus kritisch über das Werk des bekannten Juristen:

„Systematik der Zwecke […] [Der] Verf[asser] hat nicht hinlänglich dem Missverständnisse gewehrt, als halte er die Entwicklung dieser Begriffe für eine Entwicklung der Tatsachen; da dieses Verständniss sehr nahe liegt, zumal in der Erinnerung an berühmte u verhangnissvolle philosophische Theorien, wär es wol besser g[ewesen], auch den Ausdruck zu vermeiden und überhaupt über den methodologischen Charakter des Werkes von vornherin deutliche Aufklärung zu geben“[13]

Und an späterer Stelle heißt es:

„Den Grundgedanken des ganzen Buches enthält der Titel und noch deutlicher das Motto, als welches lautet: ,Der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts‘. An diesem Ausdruck ist freilich schon zu missbilligen dass er ein rhetorisch-uneigentlicher ist, da er eine philosophisch-genaue Ausprägung gegebener Erfahrung sein sollte; ich bemerke dies weil es für die ganze Darstellungs-Art des Verf. charakteristisch ist. Der Gedanke selber aber ist allerdings für die gegenwärtige Jurisprudenz ein Epoche machender; aber er ist nicht wie Herr v Jhering denkt, eine Entdeckung, sondern […] eine Erneuerung des Naturrechts.“[14]

Über diese „Erneuerung des Naturrechts“ hielt Tönnies zur selben Zeit zwei Vorträge beim Akademisch-philosophischen Verein der Universität Leipzig. Das Vortragsmanuskript füllt drei kleine Notizbücher.[15] Er ging dabei unter anderem auf die Entwicklung des Naturrechts von der Antike bis zu seiner Zeit ein und erläuterte seine Rechtsdefinition:

„Ich verstehe also unter Recht eine Summe von Sätzen welche auf das friedliche Zusammenleben von Menschen sich beziehen. und innerhalb irgendwelcher Zeitdauer, auf irgendwelche Gruppe von Menschen angewandt werden.“

„Es gibt ein wirkliches Recht welches durch Vernunft erkannt werden […] muss. Das wirkliche Recht ist natürliches Recht.“[16]

Die Rezension und das Vortragsmanuskript sind Beispiele für einige der unveröffentlichten Texte, die sich in den Notizbüchern finden. Tönnies schrieb und publizierte sehr viel – rund 900 Veröffentlichungen aus seiner Feder sind bislang nachgewiesen –, aber einiges blieb doch „im Gewahrsam meines Pultes“[17] verborgen, wie er selbst schrieb, und kann nun durch die systematische Erschließung der Notizbücher hervorgeholt werden.

Kurz vor seinem 26. Geburtstag wurde Tönnies im Juni 1881 Privatdozent an der Universität Kiel. Bis er an gleicher Stelle eine ordentliche Professur erhielt, sollten allerdings noch viele Jahre vergehen. Die Ereignisse, die den Fortschritt seiner wissenschaftlichen Karriere, zu der er sich im Anschluss an seine Promotion entschlossen hatte, so lange verhindern sollten, lagen indes erst noch vor ihm. Tönnies, dem die mit der Privatdozentur verbundenen Lehrverpflichtungen eine Last waren, widmete sich der Ausarbeitung von Gemeinschaft und Gesellschaft, bevor er 1888 mit Forschungen zu Kriminalität und Verbrechertum in Schleswig-Holstein begann. Er sichtete Unterlagen im Zuchthaus Rendsburg und sprach auch mit Inhaftierten, begann also mit empirischen Arbeiten. In der Folgezeit wurde er häufiger als Gutachter angefordert. Besondere Anerkennung fand in diesem Zusammenhang seine 1891 erschienene Schrift Die Verhütung des Verbrechens, die auch ins Englische übersetzt wurde.

Auch im privaten Bereich kam es zu Veränderungen: Tönnies verlobte sich im Juli 1893 mit Marie Sieck. Nach der Hochzeit im Mai 1894 zog das junge Paar nach Hamburg, Tönnies hielt aber weiterhin Vorlesungen an der Kieler Universität. Im Oktober 1894 nahm er auf Einladung von René Worms am Gründungskongress des Internationalen Soziologischen Instituts in Paris teil. Als im November 1896 in Hamburg der große Hafenarbeiterstreik ausbrach,[18] verfasste Tönnies eine Reihe von Artikeln und Texten, in denen er sich für die Belange der Hamburger Hafenarbeiter einsetzte.[19] Sein Eintreten für die Streikenden, die er in seinem Notizkalender sogar als „meine Hafenarbeiter“ bezeichnete,[20] wirkte sich nachteilig auf seine weitere wissenschaftliche Karriere aus. Er fiel wegen seiner politischen Ansichten bei Friedrich Althoff, dem Ministerialdirektor und heimlichen Leiter des preußischen Kultusministeriums, in Ungnade und wurde in den folgenden Jahren bei Berufungen konsequent übergangen.

Im Januar 1898 kam das erste Kind von Ferdinand und Marie Tönnies zur Welt. In seinem Notizkalender vermerkt der frisch gebackene Vater dazu:

„Gleich nach Mitternacht ein heiler Knabe geboren. Dankbare Stimmung.“[21]

1901 zog die Familie Tönnies nach Eutin. Tönnies wurde Mitglied der Eutiner Literarischen Gesellschaft, die ihm einen Ort für den geistigen Austausch bot. Von 1907 bis 1922 war er Vorsitzender der Gesellschaft, in der er insgesamt 50 Vorträge hielt. Wie diese auf seine Zuhörer wirkten, wissen wir nicht. Was wir allerdings besitzen, sind Aufzeichnungen, in denen Tönnies seine Eindrücke über die Vorträge anderer festhielt, die ihm mal mehr, mal weniger gut gefielen. Am 18. Februar 1905 machte er seiner Unzufriedenheit über einen Vortrag Luft und notierte:

„Trüber Eindruck. Grimmige Langeweile. Gr[auen]v[olle] Rhetorik!“[22]

1905 feierte Tönnies seinen 50. Geburtstag im Kreis der Familie. Aus dieser Zeit stammt auch ein in seiner knappen Form für Tönnies ganz typischer Eintrag über das Wetter und sein Befinden. So notierte er am 16. September 1905 während eines Aufenthalts auf Sylt:

„Trüb, Regen, Nachm[ittags] stürmisch N[ord-]W[est], hohe See, kalt“.

Und über sich:

„Erkältung, Massage. Schmerz.“[23]

Tönnies war in den ganzen Jahren sehr produktiv, so verfasste er zum Beispiel allein im Jahr 1906 über 20 schriftliche Arbeiten. Am Silvestertag 1908 wurde Tönnies nach 27 langen Jahren als Privatdozent an der Universität Kiel schließlich zum außerordentlichen Professor der wirtschaftlichen Staatswissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Statistik ernannt. Ab dem Sommersemester 1909 leitete Tönnies den statistischen Unterricht und hielt abwechselnd zwei Vorlesungen über theoretische und praktische Nationalökonomie. Die Soziologie, die als Hochschulfach noch nicht etabliert war, förderte er durch die Mitbegründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), die am 3. Januar 1909 in Berlin vollzogen wurde. Tönnies wurde zum ersten Präsidenten der DGS gewählt und blieb bis 1933 in diesem Amt.

Ein einschneidendes Erlebnis bildete der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Am 30. Juli 1914 notierte Tönnies:

„Russische Mobilmachung […] – Ausbruch des Krieges ganz nahe gerückt!!“[24]

Veranstaltungen wurden abgesagt, viele von Tönnies’ Studenten zogen in den Krieg. 1916 geriet sein ältester Sohn Gerrit in französische Kriegsgefangenschaft. Am 8. August 1916 notierte Tönnies in seinem Kalender:

„Gerrit vermißt!!“ Am folgenden Tag: „Wachsende Sorge“.[25]

Gerrit überlebte den Krieg, kehrte aber erst im Februar 1920 zurück. Im Herbst 1916 gab Tönnies das Ordinariat für Staatswissenschaften an der Universität Kiel, das er erst drei Jahre zuvor im September 1913 erhalten hatte, wieder auf und betätigte sich von nun an hauptsächlich als wissenschaftlicher Publizist. Die Ereignisse um den Kieler Matrosenaufstand erlebte Tönnies hautnah mit. In seinem Notizkalender schrieb er am 4. November 1918:

„Mittags nach Kiel. Unruhen. […] Abends d[er] Umzug m[it] roten Fahnen. Matrosen.“

Und am folgenden Tag schrieb er:

„Kiel in d[en] Händen der Aufständischen. Arb[eiter] & Soldatenrat. Die roten Fahnen auf Schiffen, Rathaus usw. […] Das Schießen in d[en] Straßen.“[26]

Schon am 24. November machte sich Tönnies Gedanken über die „Fam[ilie] im neuen Staat“.[27] Den 19. Januar 1919, den Tag der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung, vermerkte Tönnies in seinem Notizkalender mit „der Wahltag!“[28] und der Uhrzeit, zu der seine Frau und er wählen gingen. Für ihn war dieser Tag ein Feiertag.

Die wirtschaftlich schwierige Situation in den Nachkriegsjahren führte dazu, dass Tönnies die ungeliebte Lehrtätigkeit an der Kieler Universität zum Sommersemester 1921 wieder aufnahm. Er erhielt einen Lehrauftrag für Soziologie und trug so dazu bei, das Fach „an der Kieler Universität zu installieren“.[29] Ein Zeichen für seine beschränkten finanziellen Mittel war auch, dass er den Notizkalender von 1921 im Jahr 1922 weiterbenutzte.[30] Zudem entschied sich die Familie, das Haus in Eutin zu verkaufen und nach Kiel zu ziehen. Am 5. Oktober 1921 vermerkte Tönnies, dass er mit seiner Frau Marie Abschiedsbesuche in Eutin machte. Zwei Wochen später war der Umzug vollzogen und am 22. Oktober schrieb er: „Erster Tag in d[er] neuen Behausung.“[31]

Anfang der 1920er-Jahre arbeitete Tönnies an diversen Manuskripten, unter anderem an der Sammlung Soziologische Studien und Kritiken sowie an der Monografie Kritik der öffentlichen Meinung. Die erste Idee zu einem Buch über das Phänomen der öffentlichen Meinung datierte bereits aus dem Jahr 1907. Im Zuge der Meinungskämpfe während des Ersten Weltkrieges griff er das Thema erneut auf und veröffentlichte 1916 einen ersten Forschungsbericht.[32] 1920 schienen die Arbeiten am Werk schon weit fortgeschritten zu sein, denn in einem Notizbuch finden sich unter dem Datum „Okt 12. 1920“[33] bereits konkrete Ideen für Kapitelüberschriften, die dann auch vielfach Eingang in die 1922 veröffentlichte Monografie fanden. Zudem stößt man auf Textpassagen, die inhaltliche Überschneidungen mit dem fertigen Werk aufweisen, so zum Beispiel die Feststellung, dass „die Stoßkraft der öffentlichen Meinung […] eingebüßt hat durch das Erstarken des Radikalismus“.[34]

Tönnies’ zunächst wenig beachtetes und 1912 in zweiter und erweiterter Auflage erschienenes Buch Gemeinschaft und Gesellschaft wurde in den 1920er-Jahren sehr erfolgreich. Es erschienen weitere Auflagen und der Titel entwickelte sich zu einem „Bestseller des neuen Faches Soziologie“.[35] Auch die „Deutsche Gesellschaft für Soziologie“ belebte sich wieder. In seinen Notizkalendern finden sich Aufstellungen für Ausgaben, die Tönnies für die DGS aufwandte.[36] Auf dem 4. Soziologentag der DGS im September 1924 konnte er in seiner Eröffnungsrede mit Genugtuung „feststellen, dass sich die Soziologie in der Weimarer Republik etabliert habe“.[37] Was für die junge Wissenschaft galt, galt auch für einen ihrer Begründer. Auch Tönnies war mittlerweile arriviert. 1916 hatte ihm das Preußische Staatsministerium den Titel eines Geheimen Regierungsrates verliehen. 1921 und 1925 folgten Ehrendoktorwürden der Universitäten Hamburg und Bonn. Zu seinem 70. Geburtstag im Juli 1925 wurde der Jubilar mit einem Fackelzug geehrt. Außerdem fand im Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr eine Feier zu seinen Ehren statt. In seinem Notizkalender notierte Tönnies den Ablauf der Feierlichkeiten und die erhaltenen Geschenke: einen „Blumenstrauß“ und einen „Korb mit Lebensmitteln“.[38] Im September 1925 erholte sich Tönnies auf Schloss Assenheim, einer von Max Graf zu Solms begründeten und im Vorjahr eröffneten Erholungs- und Begegnungsstätte für Gelehrte. Ihm gefiel es dort offenbar, kehrte er doch in den kommenden Jahren insgesamt fünfmal dorthin zurück. Über seine Aktivitäten berichtet er ebenfalls in seinem Notizkalender. Demnach verbrachte er viel Zeit mit Lektüre, ging spazieren und unterhielt sich mit Kollegen. Auch von gemeinsamen Boccia-Partien ist die Rede.[39]

Neben seinem Lehrauftrag an der Universität Kiel setzte Tönnies auch seine moralstatistischen Studien fort. Dabei unterstützten ihn vor allem seine Assistenten Eduard Jacoby und Ernst Jurkat. Von der persönlichen Arbeit sowie dem schriftlichen Austausch mit Jurkat finden sich viele Vermerke in Tönnies‘ Notizkalendern, so fuhr er zum Beispiel im Mai 1929 mehrfach mit Jurkat nach Rendsburg.[40] Unter anderem entstanden Werke über Selbstmord und schwere Kriminalität von Männern in Schleswig-Holstein.[41] 1929, pünktlich zum 250. Todestag des Philosophen, wurde auf Initiative von Cay von Brockdorff und Ferdinand Tönnies die „Internationale Hobbes-Gesellschaft“ gegründet. Aus diesem Anlass fanden eine Gedächtnisfeier und ein internationaler Kongress in Oxford statt. An der Feier nahmen 69 Gelehrte aus 19 Staaten teil.[42] Tönnies wurde zum Präsidenten der Gesellschaft gewählt, was er nicht ohne Stolz auch in seinem Kalender notierte: „Tag der Conference im Hertford College, me praeside.“[43]

Im April 1930 entschied sich Tönnies in politisch unruhigen Zeiten der SPD beizutreten. Im Kontext der Reichstagswahlen im September 1930, als die NSDAP zahlreiche Sitze hinzugewann und zur zweitstärksten politischen Kraft wurde, begann Tönnies sich publizistisch gegen die Nationalsozialisten zu wenden und veröffentlichte Schriften in verschiedenen Zeitungen. Tönnies schrieb über das Wahlergebnis in seinen Notizkalender: „Schande üb[er] die Wahlergebnisse: 107 […] Hitlerianer!“[44] Trotz seines fortgeschrittenen Alters, er war inzwischen 75 Jahre alt, publizierte Tönnies weiterhin viel, 1931 waren es mehr als 30 Veröffentlichungen, darunter die Monografie Einführung in die Soziologie.

Im Jahr 1932 ergriff Tönnies abermals entschieden Partei für die SPD und verfasste mehrere Artikel und einen Wahlaufruf zur Reichstagswahl im Juli 1932. In seinem Notizkalender finden sich außerdem mehrere Einträge über die Teilnahme an Treffen der „Eisernen Front“.[45] Am 6. März 1932 notierte er: „Nachm[ittags] großer Demonstrations-Umzug der Eisernen Front“.[46] Den Ergebnissen der ersten Runde der Reichspräsidentenwahl am 13. März des Jahres lauschte er gebannt bis 1 Uhr nachts am Radio, wie er notierte.[47] In mehreren Veröffentlichungen, auf die sich Verweise in den Notizkalendern finden, wandte Tönnies sich offen gegen Hitler und die NSDAP.[48] Die nationalsozialistische Presse reagierte auf Tönnies’ Schriften mit Polemik gegen ihn.

Schon bald nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 spürte Tönnies auch persönlich die Veränderungen. Am 19. Februar nahm Tönnies zusammen mit rund 900 weiteren Teilnehmern – darunter viele bekannte Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten – an dem in Berlin veranstalteten Kongress „Das Freie Wort“ teil, auf dem er einen Vortrag über „Rede- und Lehrfreiheit“ hielt. Kurz nach seiner Rede wurde der Kongress aufgelöst. In Kiel kam es zu politisch motivierten Morden, unter anderen an dem Rechtsanwalt Wilhelm Spiegel, den Tönnies persönlich gekannt hatte. Über die Ermordung Spiegels und eine ihm zu Ehren abgehaltene Gedenkfeier notierte Tönnies im März 1933: „Triste Zeiten.“[49] Den Staatsakt am 21. März 1933 zur Eröffnung des neues Reichstages in der Potsdamer Garnisonskirche kommentierte er zornig wie folgt: „21. !!! Sog[enannter] Nationalfeiertag für d[as] Hakenkreuz als Symbol der tiefsten deutschen Erniedrigung.“[50]

Im September 1933 wurde Tönnies auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 aus dem Hochschuldienst entlassen. Die Zahl seiner Veröffentlichungen nahm deutlich ab, durch die Gleichschaltung der Presse verschwanden viele Organe, in denen er publiziert hatte. Es gelang Tönnies aber noch, den ersten Teil der lang geplanten Monografie Geist der Neuzeit fertigzustellen, der 1935 erschien. Weitere Teile erschienen nicht mehr zu seinen Lebzeiten.[51] In seinen letzten Lebensmonaten kämpfte Tönnies mit gesundheitlichen Problemen, er starb am 9. April 1936 und wurde auf dem Kieler Eichhof-Friedhof beerdigt.

Wie die genannten Beispiele hoffentlich verdeutlicht haben, sind die Notizbücher und -kalender äußerst wichtige Quellen und Dokumente für die Tönnies-Forschung. Einerseits geben sie Auskunft über biografisch bedeutsame Ereignisse und lebensgeschichtliche Zusammenhänge, andererseits enthalten sie aufschlussreiche Informationen zur Entstehung und Entwicklung von Ideen, Argumenten und Texten. Tönnies nutzte die Notizbücher und -kalender unentwegt, sie waren seine ständigen Begleiter im Alltag, auf Forschungsreisen und auf Kongressen. Mit ihrer Hilfe lassen sich nicht nur viele Details, sondern auch die großen Linien in der teilweise über Jahrzehnte andauernden Genese von Themen und Texten im Werk von Ferdinand Tönnies nachvollziehen.

  1. Jürgen Zander, Ferdinand Tönnies (1855–1936). Nachlass, Bibliothek, Biographie, Kiel 1980, S. 8.
  2. Ein gutes Beispiel dafür ist das Notizbuch mit folgender Signatur: SHLB, TN, Cb 54.41:06.
  3. SHLB, TN, Cb 54.41:02, Bl. 4l, datiert „April 7 1871“.
  4. SHLB, TN, Cb 54.11:18, 24.1.1920.
  5. SHLB, TN, Cb 54.41:02, Bl. 11l.
  6. Uwe Carstens, Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger, erg. und völlig überarb. 2. Aufl., Bredstedt 2013, S. 61.
  7. SHLB, TN, Cb 54.41:13.
  8. SHLB, TN, Cb 54.41:13, Bl. 5l, 7r.
  9. SHLB, TN, Cb 54.41:13, Bl. 36l.
  10. SHLB, TN, Cb 54.41:06, Bl. 8l, 9l, 16l.
  11. Ausführliche Angaben zur Entstehungsgeschichte von Gemeinschaft und Gesellschaft finden sich im editorischen Bericht. Siehe Ferdinand Tönnies, Gesamtausgabe, Bd. 2: 1880–1935. Gemeinschaft und Gesellschaft, hrsg. von Bettina Clausen und Dieter Haselbach, Berlin / Boston, MA 2019, S. 434–595.
  12. Das Notizbuch besteht aus zwei Teilen: SHLB, TN, Cb 54.41:17a und 17b.
  13. SHLB, TN, Cb 54.41:17a, Bl. 1r.
  14. SHLB, TN, Cb 54.41:64 I, Bl. 25r-26r.
  15. SHLB, TN, Cb 54.41:64 I-III.
  16. SHLB, TN, Cb 54.41:64 I, Bl. 2r, 10r.
  17. Die Formulierung findet sich in dem Beitrag „Ferdinand Tönnies. Eutin (Holstein)“, in: Raymund Schmidt (Hg.), Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 3, Leipzig 1922, S. 13/211.
  18. Siehe dazu z. B. Hans-Joachim Bieber, Der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97, Hamburg 1987.
  19. Vgl. Carstens, Ferdinand Tönnies, S. 139. Die Abhandlungen finden sich gesammelt in Rolf Fechner (Hg.), Ferdinand Tönnies. Schriften zum Hamburger Hafenarbeiterstreik, München 2010.
  20. SHLB, TN, Cb 54.11:02, 9.4.1897.
  21. SHLB, TN, Cb 54.11:03, 31.1.1898.
  22. SHLB, TN, Cb 54.11:08, 18.2.1905.
  23. SHLB, TN, Cb 54.11:08, 16.9.1905.
  24. SHLB, TN, Cb 54.11:12, 30.7.1914.
  25. SHLB, TN, Cb 54.11:14, 8./9.8.1916.
  26. SHLB, TN, Cb 54.11:16, 4./5.11.1918.
  27. SHLB, TN, Cb 54.11:16, 24.11.1918. Siehe hierzu Alexander Wierzock, „Nicht Kartenhäuser oder Luftschlösser, sondern einen Tempel des Geistes und der Gesittung“. Ferdinand Tönnies’ Verhältnis zu den revolutionären Erneuerungshoffnungen 1918/19, in: Albert Dikovich / Alexander Wierzock (Hg.), Von der Revolution zum Neuen Menschen. Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur, Stuttgart 2018, S. 39–66.
  28. SHLB, TN, Cb 54.11:17, 19.1.1919.
  29. Carstens, Ferdinand Tönnies, S. 221.
  30. SHLB, TN, Cb 54.11:19.
  31. SHLB, TN, Cb 54.11:19, 22.10.1921.
  32. Vgl. hierzu auch den editorischen Bericht in: Ferdinand Tönnies, Gesamtausgabe, Bd. 14: 1922. Kritik der öffentlichen Meinung, hrsg. von Alexander Deichsel / Rolf Fechner / Rainer Waßner, Berlin / New York 2002, S. 685–690.
  33. SHLB, TN, Cb 54.41:17b, Bl. 32RS.
  34. SHLB, TN, Cb 54.41:17b, Bl. 29r.
  35. Carstens, Ferdinand Tönnies, S. 226. Details zu den verschiedenen Auflagen und der Rezeptionsgeschichte finden sich wiederum im editorischen Bericht.
  36. So zum Beispiel in SHLB, TN, Cb 54.11:18.
  37. Carstens, Ferdinand Tönnies, S. 233.
  38. SHLB, TN, Cb 54.11:22, 25./26.7.1925.
  39. SHLB, TN, Cb 54.11:22, 15./16.9.1925.
  40. SHLB, TN, Cb 54.11:26, 7./21.5.1929.
  41. Ferdinand Tönnies, Der Selbstmord in Schleswig-Holstein. Eine statistisch-soziologische Studie, Breslau 1927; ders. / Ernst Jurkat, Die schwere Kriminalität von Männern in Schleswig-Holstein in den Jahren 1899–1914, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie 5 (1929), 1, S. 26–39.
  42. Carstens, Ferdinand Tönnies, S. 259.
  43. SHLB, TN, Cb 54.11:26, 28.9.1929.
  44. SHLB, TN, Cb 54.11:27, 15.9.1930.
  45. Siehe auch SHLB, TN, Cb 54.11:29, 21.2.1932.
  46. SHLB, TN, Cb 54.11:29, 6.3.1932.
  47. SHLB, TN, Cb 54.11:29, 13.3.1932.
  48. Zum Beispiel SHLB, TN, Cb 54.11:29, 18.6.1932 und 28.7.1932.
  49. SHLB, TN, Cb 54.41:70, Bl. 12.
  50. SHLB, TN, Cb 54.41:70, Bl. 13.
  51. Mehr zu den weiteren Teilen in Ferdinand Tönnies, Gesamtausgabe, Band 22,2: 1932–1936. Geist der Neuzeit. Teil II, III und IV, hrsg. von Bärbel Carstens und Uwe Carstens, Berlin / Boston, MA 2016.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaft Kultur Politik Universität Wissenschaft

Tatjana Trautmann

Tatjana Trautmann, Historikerin und Politikwissenschaftlerin, von 2011 bis 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Kiel, seit 2018 arbeitet sie in einem Forschungsprojekt zu den Notizbüchern von Ferdinand Tönnies.

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