Michael Hochgeschwender | Rezension |

Glanz und Elend des Liberalismus in den USA

Rezension zu: „Wählen und Verdienen. Über die amerikanische Staatsbürgergesellschaft und das Streben nach Inklusion“ von Judith N. Shklar.

Judith N. Shklar:
Wählen und Verdienen. Über amerikanische Staatsbürgerschaft und das Streben nach Inklusion
Deutschland
Berlin 2024: Matthes & Seitz
170 S., 15,00 EUR
ISBN 978-3-7518-3022-5

Dem Berliner Verlag Matthes & Seitz kommt das Verdienst zu, ein schmales, aber inhaltsreiches und in Teilen überraschend aktuelles Essaybändchen der 1992 verstorbenen amerikanischen Politologin Judith N. Shklar aus dem Jahr 1991 in einer weithin gut lesbaren Übersetzung dem deutschen Publikum vorzulegen. Aktuell schon deswegen, weil die Verfasserin sich darin mit Themen befasst, die erst jüngst von Jill Lepore[1] in ihrer Gesamtdarstellung der Geschichte der USA zum roten Faden gekürt worden sind, etwa die Frage nach den Inklusions- und Exklusionsmechanismen im Bereich der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe, insbesondere der Rassenthematik. Shklars Bestreben lag, ähnlich wie viel später bei Lepore, in dem Bemühen, diese Partizipationsmechanismen und ihre Beschränktheiten historisch zu kontextualisieren und statische, rein theoretisch gewonnene politikwissenschaftliche Begriffsbestimmungen weitgehend zu eliminieren. Sie wollte zum einen die allmähliche Ausweitung des Wahlrechts, zum anderen aber die herausragende Bedeutung des Stellenwerts individueller Verdienstmöglichkeiten als genuinem und spezifischen Ort der sozialen Statuszuschreibung in der amerikanischen Geschichte seit der Revolution in ihre jeweiligen Kontexte einbetten. Dabei griff sie auf ideengeschichtliche Ansätze ihres akademischen Lehrers Louis Hartz zurück, eines der führenden Historiker der sogenannten liberalen Konsensschule der 1950er und frühen 1960er Jahre. Durch die sozialhistorischen Kategorien der New Social History, nämlich race, class und gender, aber auch durch kulturwissenschaftliche Konzepte wie agency und empowerment, hat Shklar diese Ansätze wesentlich erweitert und kritisch reflektiert. So entstand eine strikt thesengeleitete, gehaltvolle Studie, welche die wichtigsten Entwicklungslinien der Geschichte politisch-gesellschaftlicher Teilhabe in den USA konzis darstellte, um sie zugleich in ein aktivistisch-liberales Verständnis der amerikanischen Nationalgeschichte einzubinden.

Shklar bekannte sich ganz offen zu ihrem Liberalismus, in dem sie – wie schon Hartz – die eigentliche Grundlage der amerikanischen Gesellschaft zu erkennen glaubt. Mithin stellte ihr Essay auch eine Stellungnahme dar zur in den 1960er Jahren entbrannten Debatte zwischen den Verfechtern einer primär liberalen USA und den Anhängern der These, die revolutionäre und nachrevolutionäre Ideengeschichte Nordamerikas sei aus einer spezifischen Mischung aus klassischem, lockeanisch-individualistischen Liberalismus und dem aus der Renaissance übernommenen bürgerlichen, aber in erster Linie kommunitären Tugendrepublikanismus zu erklären. Inzwischen hat diese um 1990 mit enormer Schärfe geführte Debatte um die ideellen Grundlagen des Landes deutlich an Verbissenheit verloren, was aber den Wert der Darstellung kaum mindert.

Das Bändchen ist in eine sorgfältig ausgearbeitete Einleitung sowie zwei Kapitel gegliedert, die sinnigerweise „Wählen“ und „Verdienst“ betitelt sind. In der Einleitung behandelt Shklar die Geschichte des Staatsbürgerkonzepts, vor allem aber diejenige seiner Exklusionsmechanismen auf der Grundlage von Rasse, Geschlecht, Ethnizität und Religion, wobei freilich der im 19. Jahrhundert durchaus gewaltsam verfolgte Konflikt etwa um die Staatsbürgerschaftsrechte katholischer Iren ebenso merkwürdig blass behandelt wird wie die Partizipationschancen der nordamerikanischen Ureinwohner, während der Problemkreis Rasse und Sklaverei, aber auch die Einschränkung der politischen Mitwirkungschancen von Frauen ausführlicher analysiert werden. Völlig zu Recht macht Shklar darauf aufmerksam, wie sehr die color line, die scharf gezogene Grenze zwischen weitgehend unfreien schwarzen Sklaven und Weißen jedweder Herkunft und Klassenzugehörigkeit gerade von Thomas Jefferson (1743–1826) und Andrew Jackson (1767–1845) dazu genutzt wurde, schrittweise die allgemeine Staatsbürgerschaft für alle Weißen und daraus abgeleitet das allgemeine, demokratische Wahlrecht für sämtliche erwachsenen weißen Männer durchzusetzen. Dass diese Demokratisierung durchweg damit einherging, bis dahin wahlberechtigten schwarzen Grundeigentümern das Wahlrecht zu entziehen, berührt Shklar eher am Rande. Ebenso fehlt jeder Hinweis auf die Free White Clause im Immigration and Naturalization Act von 1791, die nichtweiße Migranten der Möglichkeit beraubte, amerikanische Staatsbürger zu werden. Erst der in den USA geborenen Generation stand diese Chance dann offen, was gerade im Fall von Iren, Mexikanern und Juden zu langen Diskussionen über die Frage führte, ob sie überhaupt weiße Menschen seien. Bei den Iren stand bezeichnenderweise ihr Katholizismus im Mittelpunkt der Debatte, denn protestantische Iren galten immer als weiß, ein Beleg für die Unschärfe des Konzepts whiteness und damit des Rassenbegriffs überhaupt. Shklar jedoch blendet, warum auch immer, konfessionelle Fragen prinzipiell aus. Allerdings weist sie stattdessen darauf hin, wie 1857 im Sanford-Fall ausschließlich Schwarzen überhaupt das Bürgerrecht abgesprochen wurde. Insofern etabliert die Verfasserin frühzeitig die Thematik inhärenter Ungleichheit in der sozialen Praxis der USA, die sie als aus liberaler Perspektive prinzipiell verwirft.

Während das Essay die Bereiche Staatsbürgerschaftsrecht und Wahlrecht völlig korrekt eng aneinanderbindet, kann man das Kapitel zu „Verdienst“ auch für sich lesen. Hier dreht sich alles um die Bedeutung von Arbeit und Verdienst in der amerikanischen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert. Mit einiger Verve wendet sich die Verfasserin gegen die These Max Webers vom inhärenten Zusammenhang von protestantischem Arbeitsethos und kapitalistischer Praxis. Etwas ironisch entthront sie mit Benjamin Franklin einen von Webers Kronzeugen. Weder sei Franklin, der fromme Deist und besonders protestantisch gewesen, noch habe er, als überzeugter epikureischer Hedonist, protestantische Arbeitsethik auch nur ansatzweise praktisch gelebt. Dennoch vermag ihre Kritik nicht recht zu überzeugen, da sie offenkundig von den Ergebnissen des von Weber untersuchten Transformationsprozesses ausgeht und nicht von seinem Ausgangspunkt, wenn sie auf die kapitalistische Mentalität von jüdischen, katholischen und anderen Migranten hinweist. Vor allem aber fehlt jeder Hinweis auf die zentrale Rolle, die gerade evangelikale Prediger bei der normativen Neubewertung von Armut und Reichtum in christlichen Predigten zwischen 1810 und 1840 gespielt haben. Hier hätte Weber auf alle Fälle gegenüber Shklar einen Punkt gehabt. Wesentlich überzeugender ist ihre These, die Hoffnung auf Verdienst und Konsum sei allemal wichtiger gewesen als die reine Idee republikanischer Tugendhaftigkeit. Auch Shklars Hinweis, der liberale Individualismus der frühen Republik habe zum Verzicht auf explizite staatliche soziale Daseinsfürsorge im Sinne der europäischen, obrigkeitsstaatlichen „guten Polizey“ geführt, hat einiges für sich. Immerhin relativiert und historisiert sie dieses Argument sogleich mit Hinweisen auf den Weg zum New Deal, wodurch es seinen apodiktischen, ahistorischen Charakter verliert. Wichtig und nachdenkenswert bleiben die Ausführungen zur Bedeutsamkeit von Konsum als Ausdruck der Verdiensthaftigkeit des eigenen Lebens und der aktiven Partizipation in einer Gesellschaft von arbeitssamen Konsumenten.

Insgesamt also bietet Shklar viele wertvolle Hinweise zum Verständnis der amerikanischen Gesellschaftsgeschichte bis in die Gegenwart hinein, obwohl der Erweis der identitätsstiftenden und hochproblematischen Funktion der auf Rassismus gegründeten chattel slavery gegenüber der „Lohnsklaverei“ weißer Arbeiter und der daraus resultierenden antiegalitären, plutokratischen Sozialhierarchie in den USA heute zum Allgemeingut geworden ist. Dennoch hinterlassen die beiden zentralen Essays, so lesenswert und flüssig geschrieben sie sein mögen, einen leicht zwiespältigen Eindruck. Dieser ergibt sich zum einen aus der Zeit, in der das Bändchen verfasst wurde. Shklar, als gute Schülerin des Konsensliberalismus, spart beispielsweise mit Kritik an Andrew Jackson. Sein Rassismus wird wie bei Thomas Jefferson eher en passant behandelt, seine Indianerpolitik nicht erwähnt. Dafür erscheint er primär als Vorkämpfer der Partizipation des common man. Bezeichnenderweise fehlte 1991 noch jeder Hinweis auf das, was in der aktuellen Diskussion gerne unter Populismus rubriziert wird. Zum anderen setzt Shklar ihr Anliegen, politikwissenschaftliche Konzepte zu historisieren und zu relativieren, nicht konsequent um. Ihre normativen Urteile werden a priori und ahistorisch begründet. Sie tut gerade so, als sei immer klar, was unter Liberalismus, Demokratie und Teilhabe in jeder von ihr behandelten Epoche zu verstehen war. Hier wird deutlich, dass sie naturgemäß die späteren Ergebnisse kulturhistorischer Forschung etwa zum Begriffswandel des Terminus „Freiheit“ zwischen den 1770er und den 1840er Jahren noch gar nicht rezipieren konnte. Nicht minder problematisch ist die umstandslose Gleichsetzung von Demokratie und einem weiten Verständnis von Egalität. Zwischentöne und Nuancen scheinen oft zu fehlen, vor allem wenn es um den konträren Gegensatz von „Bürger“ und „Untertan“ geht. In Großbritannien etwa sind die Bürger bis heute auch Untertanen der Krone, ohne dass dem Land eine grundlegend demokratische Ordnung deswegen abgesprochen werden müsste. Shklar bleibt durchweg in einer liberalen Weltanschauung, die ihren eigenen Ideologiecharakter nicht zu reflektieren vermag. Aber genau das wiederum macht das Büchlein lesenswert. Wer den Liberalismus in den USA in seinem Glanz und seinem Elend verstehen will, wird bei der Lektüre von Shklars Essays ganz gewiss fündig werden.

  1. Jill Lepore, Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, aus dem Englischen von Werner Roller, München 2019.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Demokratie Geschichte Gesellschaft Politik Politische Theorie und Ideengeschichte Rassismus / Diskriminierung Staat / Nation

Michael Hochgeschwender

Michael Hochgeschwender ist Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München

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