Maya Halatcheva-Trapp, Angelika Poferl | Essay | 20.11.2023
Jane Addams (1860–1935)
Engagierte Sozialforscherin der ersten Stunde und politisch aktive Reformerin

Biografie
Jane Laura Addams wurde am 6. September 1860 in Cedarville, Illinois als achtes Kind der Familie von Sarah Weber Addams und John Huy Addams geboren. Der Vater gehörte der Quäker-Gemeinschaft an, war Mühlenbesitzer, republikanischer Staatssenator in Illinois und ein Freund Abraham Lincolns. Die Familie stammte aus der gehobenen US-amerikanischen Mittelschicht. Im Alter von zwei Jahren starb Jane Addams‘ Mutter, sie wuchs mit ihrem Vater, der Stiefmutter und Geschwistern auf. Nach dem Schulabschluss besuchte Addams das Rockford Female Seminary in Rockford, Illinois, eines der ersten Colleges für Frauen. Sie wurde Klassensprecherin, schloss 1881 als Klassenbeste ab und hielt eine Rede auf der Abschlussfeier.[1] Ein Satz daraus, der sehr treffend Addams’ Leitvorstellungen und Lebenswerk veranschaulicht, steht heute auf der Internetseite des Rockford Female Seminary: „We stand today united in a belief in beauty, genius and courage, and that these can transform the world.“
Nach dem College nahm Addams 1881 ein Studium am Women’s Medical College in Philadelphia auf und musste es bald krankheitsbedingt abbrechen. Noch im selben Jahr verstarb ihr Vater, dem sie sehr nahegestanden hatte und der für sie auch ein gesellschaftspolitisches Vorbild war. Addams fiel in eine Depression, suchte nach erfüllenden gesellschaftlichen Aufgaben, engagierte sich karitativ und reiste 1883 erstmals nach Europa. Die zweite Europareise vier Jahre später unternahm sie mit Ellen Gates Starr, einer ehemaligen Studienkollegin aus Rockford und späteren Sozialreformerin. In London besuchten sie gemeinsam Toynbee Hall – das erste Haus der Settlement-Bewegung. Dieser Aufenthalt inspirierte sie, zurück in Amerika, zur Gründung eines ähnlichen Projektes: dem Hull-House, das ein Hilfswerk für Migrant:innen, Arbeitslose und insbesondere für Frauen aus einem der sogenannten Elendsviertel von Chicago war.[2]
Ihr Leben lang setzte Addams sich als Mitbegründerin und Leiterin verschiedener Organisationen für soziale Gerechtigkeit ein, insbesondere für die Rechte von Frauen und Arbeiter:innen. Als Pazifistin protestierte sie gegen die Beteiligung der USA am Ersten Weltkrieg, gründete 1915 die erste US-amerikanische Women‘s Peace Party und rief gemeinsam mit anderen Feministinnen den Internationalen Frauenfriedenskongress ins Leben, der erstmals 1915 in Den Haag stattfand und für ein Kriegsende sowie für die politische Gleichberechtigung von Frauen plädierte.[3] Addams war Kongressvorsitzende und gehörte auch der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (Women’s International League for Peace and Freedom) an, die aus dem Kongress hervorging und bis heute weltweit aktiv ist.[4] Wegen ihres internationalen Engagements für Frieden geriet Addams in die öffentliche Kritik. Sie wurde vom US-amerikanischen Justizministerium zur „most dangerous woman in America“[5] erklärt – und erhielt 1931 den Friedensnobelpreis. Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie ihn jedoch nicht persönlich entgegennehmen und starb am 21. Mai 1935 in Chicago.
Das Hull-House oder: Der Settlement-Ansatz zur Erforschung und Bewältigung sozialer Probleme
Die sogenannte Settlement-Bewegung entwickelte sich im späten 19. Jahrhundert in Europa und den USA in Reaktion auf die massive Ausbreitung von Armut und Arbeitslosigkeit im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung. Zeitgleich expandierte die Social Survey Bewegung, deren Anhänger:innen – Intellektuelle und Sozialrefomer:innen – systematisch die gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse analysierten, Sozialreportagen verfassten und politische Reformen einforderten.[6] Es war eine Zeit der Um- und Aufbrüche: Armut wurde als sozialstrukturelles Problem definiert und galt nicht mehr als Charakterzug, die Bildung von Frauen gewann immer mehr an Bedeutung, philanthropisches Handeln breitete sich aus, und es formierten sich verschiedene soziale Reformbewegungen. Letztere setzten sich etwa für das Wahlrecht von Frauen, für bessere Arbeitsbedingungen und die Stärkung von Gewerkschaften, für die Abschaffung von Kinderarbeit und für Umweltschutz ein. In diesem sozialhistorischen Kontext entstanden die ersten Siedlungshäuser (Settlements), zunächst in Großbritannien, kurz darauf auch in den USA. 1884 öffnete in London Toynbee Hall seine Türen. Es wurde zum Vorbild zahlreicher Settlements und ist eng mit der Geschichte des Hull-House verbunden. Die Settlements waren insbesondere für junge und gebildete Frauen attraktiv, weil sie ihnen Möglichkeiten eröffneten, jenseits traditioneller Familienverhältnisse in Gemeinschaft zu leben und ihr Wissen und Engagement für öffentliche Belange einzusetzen. Frauen waren zu dieser Zeit von der Lehrtätigkeit an Universitäten ausgeschlossen, in den Settlements jedoch konnten sie auf legitime Art und Weise öffentlich wirksam werden, indem sie Menschen in schwierigen sozialen Lebenssituationen unterstützten.[7]
Addams trug maßgeblich zur Verbreitung der Settlement-Bewegung in den USA bei. 1889 gründete sie gemeinsam mit Ellen Gates Starr das Hull-House, ein Settlement-Haus im 19. Bezirk in Chicago. Als zweitgrößte Stadt in den Vereinigten Staaten war Chicago mit einer Vielzahl an neuen sozialen Problemen konfrontiert, unter anderem mit Armut, Zuwanderung, ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, beengten wie unhygienischen Wohnverhältnissen, Umweltverschmutzung und organisierter Kriminalität, für die es noch keine Lösungsansätze gab. Wie Addams‘ intellektuell, fachlich und persönlich enger Weggefährte George H. Mead schreibt: „Settlements wird man an jenen Orten finden, an denen die interessantesten Probleme des modernen industriellen und sozialen Lebens ihren Brennpunkt haben.“[8]
Ein besonderes Merkmal des Hull-House ist seine Doppelfunktion als soziales Hilfswerk und experimentelle Forschungswerkstatt gleichermaßen.[9] Zum einen wurde im Hull-House Bildungsarbeit für Arme und Migrant:innen geleistet. Die Siedler:innen des Hull-House, darunter Studierende, Sozialarbeiterinnen und Freiwillige, erteilten Englisch- und Geschichtsunterricht, organisierten Vorträge, Kunstausstellungen und Sonntagskonzerte wie auch Gewerkschaftstreffen und lokale gesellschaftspolitische Aktionen (beispielsweise die Überwachung der Müllabfuhr). Addams trat gemeinsam mit anderen Siedler:innen für eine Regulierung der Arbeitszeit, Einschränkungen der Kinderarbeit, hygienische Arbeitsbedingungen und kooperative Beziehungen zwischen Arbeitnehmer:innen- und Arbeitgeber:innenseite ein.[10] Um Familien im urbanen Alltag zu unterstützen, richtete das Hull-House eine Kinderkrippe und eine Gemeindeküche ein und bot außerschulische Freizeitaktivitäten für Jugendliche an. Handlungsleitend bei ihrer Arbeit war Addams‘ Verständnis von Familie als eng mit der Gemeinschaft im Quartier verwobene Institution.[11]
Zum anderen wurde das Hull-House rasch Mittelpunkt einer gesellschaftspolitisch und reformerisch engagierten Forschung, die Partei für sozial schwache und marginalisierte Menschen ergriff. Die Anbindung ans Hull-House gestattete eine unabhängige, teils auch unkonventionelle Art der Forschungsarbeit, die im Rahmen des damaligen politischen Klimas an Universitäten nicht möglich gewesen wäre.[12] Forschung für eine gerechtere Welt, um gesellschaftliche Missstände öffentlich zu machen und die Lebensbedingungen von Menschen zu verbessern: Diesem Motiv der Social Survey Bewegung entsprach Addams mit den Forschungen im und um das Hull-House. Gemeinsam mit Bewohner:innen des Bezirks entwickelten und erprobten die Siedler:innen neue Forschungsmethoden, erkundeten den eigenen Bezirk, dessen Probleme sie nur zu gut kannten, und beteiligten sich dadurch aktiv an seiner sozialstrukturellen Transformation.[13]
Für Addams war das Settlement eine Methode, ein Ansatz zur Erforschung und Bewältigung sozialer Probleme.[14] Was zeichnet den Settlement-Ansatz aus? Es ist die Verwobenheit von Alltagsleben und Forschung, die Parteilichkeit für die Beforschten und der Vorrang, den deren Bedürfnisse vor denjenigen der Forschenden haben. Die Forschung galt als Instrument für politische Reformen, Partizipation und handlungspraktische Interventionen. Auch gaben sich die Forschenden als solche zu erkennen – ein Umstand, der damals neu war und sich von der üblichen Praxis verdeckter Forschung im Kontext von Enthüllungsreportagen unterschied.[15] Der Ansatz vereinte soziologische Beobachtung und Analyse mit politischen Ansprüchen und ethischen Normen für eine gerechtere Gesellschaft. Mead hebt insbesondere die Eingebettetheit der Settlement-Forschung im Umfeld des eigenen Zuhauses hervor:
„Doch der Settlement-Arbeiter unterscheidet sich sowohl von einem Missionar wie auch von einem wissenschaftlichen Beobachter aufgrund seiner Annahme, dass er in dem Gemeinwesen, in dem er lebt, zuallererst zu Hause ist und dass seine Versuche zur Verbesserung der Lebensbedingungen um ihn herum ebenso wie seine wissenschaftliche Untersuchung dieser Bedingungen sich aus diesen unmittelbaren menschlichen Beziehungen, diesem Nachbarschaftsbewusstsein, also aus dem Umstand herleitet, dass er dort zu Hause ist.“[16]
Mit der Gründung und Leitung des Hull-House wurde Addams zur Pionierin einer innovativen Erforschung und Bewältigung von sozialen Problemen und Ungleichheitsverhältnissen in der industrialisierten Großstadt. Rasch etablierte sich das Hull-House als führende Institution in Chicago und als Paradebeispiel der Settlement-Bewegung auf lokaler und sogar nationaler Ebene. Addams‘ Interesse an neuen Ideen und ihre Offenheit trugen dazu bei, dass sich im Hull-House eine Praxis der kollektiven Entscheidungsfindung etablierte, die von Respekt, Kreativität und stetem Austausch zwischen den Siedler:innen, Gästen und Bewohner:innen des Bezirks getragen war. Im Unterschied zu seinem Londoner Vorbild Toynbee Hall war das Hull-House egalitärer strukturiert, weniger religiös orientiert und fokussierte die spezifischen Bedürfnisse von Frauen stärker. Im Hull-House wohnten und arbeiteten sowohl Frauen als auch Männer, dennoch war es eindeutig ein von Frauen geleiteter und dominierter Raum.[17]
Die Hull-House Maps & Papers
Addams‘ Ansatz wird in der einschlägigen Literatur als mitfühlend (sympathetic), relational und experimentell bezeichnet.[18] Die Hull-House Maps & Papers sind ein eindrücklicher Beleg dieser Art von Forschung. Herausgegeben von Jane Addams und Florence Kelley im Jahr 1895 versammeln die Hull-House Maps & Papers die Befunde der von 1892 bis 1894 im Settlement und in dessen Umgebung betriebenen Forschungsarbeit. Die Maps beinhalten grafische Darstellungen von Einkommenserhebungen („Wages Map“) und der ethnischen Zusammensetzung („Nationalities Map“) der Bewohner:innen im Bezirk. In methodischer Hinsicht gelten die Maps als bahnbrechend, weil sie statistische Daten über Einkommen und Herkunft in Grafiken übertragen. Sie bilden damit exakt und umfassend die Sozialstruktur des Bezirks ab, unter anderem die räumliche Konzentration und Verteilung von Nationalitäten im Wohngebiet sowie ihre unterschiedliche Betroffenheit von Armut.[19] Die Papers enthalten neben einem Vorwort von Jane Addams zehn inhaltliche Beiträge und einen Anhang.
Im ersten Beitrag erläutert Agnes Sinclair Holbrook die Maps, in einem weiteren schreibt Florence Kelley, die auch die Recherchen leitete, über wirtschaftliche Ausbeutung am Beispiel des sweating-Systems und, gemeinsam mit Alzina P. Stevens, über lohnarbeitende Kinder. Ein Beitrag von Isabel Eaton liefert Informationen über die Einnahmen und Ausgaben der cloakmakers in der Bekleidungsindustrie in Chicago und New York. Drei weitere Beiträge, verfasst von Charles Zueblin, Josefa Humpal-Zeman und Alessandro Mastro-Valerio, porträtieren das Chicagoer Ghetto sowie die böhmische und italienische Gemeinschaft im Bezirk. Julia C. Lathrop untersucht die Wohlfahrtsverbände von Cook County. Ellen Gates Starr befasst sich mit der Bedeutung von Kunst in einem Arbeiterviertel. Der abschließende Beitrag von Jane Addams analysiert die Bedeutung der Settlements für die Arbeiter:innenbewegung. Mit Ausnahme von zwei Beiträgen sind alle Texte von Frauen verfasst – eine absolute Seltenheit zur damaligen Zeit.[20]
Die Hull-House Maps & Papers geben detaillierte Einblicke in das alltägliche Leben im Settlement und dessen Umgebung, sie wurden deshalb von den Siedler:innen scherzhaft als „the jumble book“ bezeichnet.[21] Addams setzte die Forschungsberichte als politisches Instrument für die Einleitung von Unterstützungsmaßnahmen ein, etwa für die Einführung des 8-Stunden-Arbeitstags und eines Mindestlohns. Nach der Publikation der Hull-House Maps & Papers setzten die Siedler:innen das Kartographieren und die Erfassung des sozialen wie kulturellen Lebens in der Nachbarschaft noch vierzig Jahre lang fort. In dieser Zeit sind 23 Studien entstanden, unter anderem über die Müllabfuhr, das Schuleschwänzen, die Lebenssituation der Zeitungsjungen und die gesellschaftliche Bedeutung von Bars. Die Ergebnisse wurden an den Wänden des Hull-House präsentiert, um stets wahrgenommen und diskutiert werden zu können. Zudem publizierten die Siedler:innen regelmäßig im angesehenen American Journal of Sociology und erhielten damit Aufmerksamkeit für ihre Arbeit.[22]
Die Hull-House Maps & Papers gelten als Meisterwerke der empirischen Sozialforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert, als innovativ und richtungsweisend, als Impulsgeber der Großstadtforschung. Bis zur Publikation der mehrbändigen Pittsburgh Survey (1909) galten sie als state of the art der sozialwissenschaftlichen Forschung über das urbane Leben der Arbeiterklasse in den USA.[23] Sie kombinierten unterschiedliche Arten von Daten miteinander – ethnografische Beobachtungen, Interviewmaterial aus Gesprächen mit zahlreichen (Leitungs-)Personen und politisch Verantwortlichen sowie statistische Erhebungen und grafische Visualisierungen – und können in soziologiegeschichtlicher Perspektive zu den Anfängen der soziografischen Forschung gezählt werden.
Addams lehnte es stets ab, das Settlement nur als soziologisches Laboratorium zu verstehen, und begründete wie folgt:
„Settlements should be something much more human and spontaneous than such a phrase connotes, and yet it is inevitable that the residents should know their own neighborhoods more thoroughly than any other, and that their experiences there should affect their convictions.“[24]
Addams war an der praktischen und partizipativen Anwendung von Wissen interessiert, grenzte sich explizit von der Universität ab und formulierte laut Mead einen doppelten Anspruch: „Das Settlement ist seiner Einstellung nach praktisch, aber seinen Methoden nach forschend und wissenschaftlich.“[25]
Jane Addams und die universitäre Soziologie
Addams‘ Verhältnis zur universitären Soziologie war vielschichtig und dynamisch, geprägt von einem regen Austausch und gemeinsamen akademischen wie politischen Aktivitäten. Angehörige der Chicagoer Universität waren regelmäßig zu Gast im Hull-House, sie hielten dort Vorträge und diskutierten mit, rezensierten Addams‘ Bücher und gründeten mit ihr gemeinsam die Chicago School of Civics and Philanthropy, an der Addams von 1907 bis 1914 Vorlesungen hielt.[26] Auch Albion W. Small (1854–1926), der 1892 das Department of Sociology an der Chicagoer Universität gegründet hatte, gehörte zu den Kooperationspartnern und unterstützte Addams in vielerlei Hinsicht: Gemeinsam machten sie sich für die Bekämpfung von Kinderarbeit stark; darüber hinaus offerierte Small Addams eine Teilzeitstelle als Professorin in seinem Department, fragte sie mehrfach als Autorin für das American Journal of Sociology an,[27] integrierte die Hull-House Maps & Papers in seine Lehre, setzte sich für die Verleihung des Ehrendoktortitels an Addams ein[28] und schlug schließlich sogar vor, das Hull-House institutionell an die Universität anzuschließen.[29] Diese Anbindung wie auch das Stellenangebot lehnte Addams ab. Mit George H. Mead (1863–1931) und John Dewey (1859–1952) teilte Addams nicht nur intellektuelle und gesellschaftspolitische Interessen – insbesondere in den Bereichen Bildung und Erziehung, Ethik und Demokratie sowie feministisches Engagement –, auch eine lebenslange private Freundschaft verband sie.[30] Addams und Mead hatten beträchtliche erkenntnistheoretische Überschneidungen, die sich gegenseitig befruchteten, und setzten sich gemeinsam mit gesellschaftlichen Ungleichheiten auseinander.[31] Dewey entwickelte eine enge Verbindung zum Hull-House und wird in diesem Zusammenhang als „Hull House convert“[32] bezeichnet. In seiner universitären Lehre arbeitete er mit Addams‘ Buch Democracy and Social Ethics (1902)[33] und wies die Forschungen im und um das Hull-House als signifikant für die Entwicklung seiner Konzeption von Erziehung und Demokratie aus.[34] Anlässlich seines 70. Geburtstags hielt Jane Addams eine Festrede mit dem Titel A Toast to John Dewey (1929)[35], in der sie neben seiner Philosophie auch seinen – für einen Wissenschaftler ungewöhnlich großen – Einsatz für das Gemeinwohl und die kontinuierliche Unterstützung des Hull-House würdigte. Einige Tage nach dem Fest schrieb ihr Dewey: „I hope you know, […] that there is no one in the world whom I would have so much desired to be present and speak.“[36]
Trotz der wertschätzenden kollegialen und persönlichen Beziehungen, des lebendigen Austausches und etlicher gemeinsamer Aktivitäten blieb Addams‘ Verhältnis zur universitären Soziologie ambivalent. Sie wollte die Unabhängigkeit des Settlements wie auch ihre eigene bewahren. Zudem empfand sie die universitäre Kultur als zu akademisch, politisch zu zurückhaltend und zu sehr auf Spezialisierung und Abstraktion ausgerichtet.[37] Addams hingegen war stets auf die praktische Anwendung von Wissen bedacht und von einem universellen Interesse an einer besseren, gerechteren Gesellschaft getrieben: „Sympathetic knowledge is the only way of approach to any human problem.“[38] Gleichermaßen inspiriert von Pragmatismus, Romantik und dem Glauben an die Nützlichkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse für die Verwirklichung von Sozialreform und Demokratie wollte sie die Menschen zu ethischem Handeln bewegen – ein Ideal, das Addams mit ihrer Art der Forschung im und um das Hull-House verwirklichte. Als politisch-praktisch tätige Reformerin und engagierte Forscherin, die an keiner Universität angestellt war, blieb Addams in der soziologischen Rezeption lediglich am Rande. Dies hat vor allem zwei Gründe. Sie betreffen die Rolle der Frauen in den Sozialwissenschaften, aber auch die Umbrüche in der Entwicklung der Sozialwissenschaften selbst.[39] Addams gehörte zu einer Generation von Frauen, die als Reformerinnen die Settlement-Bewegung und die Progressive Era in den USA in Gang setzten und sozialen Problemen mit ethischen Lösungen begegneten. Für diese Frauen war die Sozialwissenschaft ein „zweischneidiges Schwert“[40]: Einerseits gab sie ihnen das Vokabular und die analytischen Methoden an die Hand, über die auch ihre männlichen Zeitgenossen verfügten. Andererseits vertiefte die Sozialwissenschaft ihre Identifizierung mit ‚Frauenthemen‘. Je überzeugender und versierter diese Frauen sich mit allgemeinen sozialen Problemen auseinandersetzten, desto stärker wurden sie mit den spezifischen, im main stream der Forschung eher ausgeblendeten, Problemen von Frauen in Verbindung gebracht.[41] Zudem nahm die Akademisierung der Soziologie insbesondere seit den 1920er-Jahren eine Richtung, in der für außerakademisches Engagement kaum Platz war. Addams wurde später vor allem der Sozialen Arbeit, als eine ihrer Gründerinnen, zugeordnet – was soziologiegeschichtlich unzureichend ist. In Addams‘ Werk lassen sich die „tensions between the pure and applied tendencies in early American sociology“[42] nachvollziehen. Nichtsdestotrotz hatte sie einen entscheidenden Einfluss auf die Chicagoer Soziologie, insbesondere durch ihre ungewöhnliche Themen- und Methodenwahl. Auf die polemische Frage, ob Jane Addams eine Soziologin war,[43] lautet unsere Antwort: Selbstverständlich. Sie war eine Soziologin der ersten Stunde einer problemorientierten Soziologie und einer empirischen Sozialforschung, die die Nähe zur gesellschaftlichen Wirklichkeit sucht.
Fußnoten
- Mary J. Deegan, Jane Addams, in: Mary J. Deegan (Hg.), Women in Sociology. A Bio-Bibliographical Sourcebook, New York/Westport/London 1991, S. 37–44, hier S. 37; Patricia M. Shields et al., On the Maturation of Addams Studies. A Figure of Vital Intellectual and Practical Signification, in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 3–34, hier S. 4 f.
- Mary J. Deegan, Jane Addams, in: Mary J. Deegan (Hg.), Women in Sociology. A Bio-Bibliographical Sourcebook, New York/Westport/London 1991, S. 37–44, hier S. 38.
- Ute Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009, hier S. 80.
- Auf der Internetseite der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit ist der Bericht zum Kongress vom 1919 in Zürich zu finden, in dem u. a. die Eröffnungsrede der Vorsitzenden Jane Addams dokumentiert ist.
- Anthony J. Blasi, Diverse Histories of American Sociology, Leiden/Boston 2005, hier S. 441.
- In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde die Sozialerhebung (Social Survey) zu einem wichtigen Instrument der gesellschaftlichen Analyse, welches eng mit sozialpolitischen Reformen verbunden war und von öffentlichen Verwaltungen wie auch von Einzelpersonen angewendet wurde. Die Surveys konzentrierten sich überwiegend auf das Individuum sowie auf Feldforschung in kleineren Kontexten und weniger auf aggregierte Daten. Eine wichtige Protagonistin der Social Survey Bewegung war Florence Kelley, die zusammen mit Jane Addams die Hull-House Maps & Papers herausbrachte (Nuria Font-Casaseca, Hull House Maps and Papers, 1895. A Feminist Research Approach to Urban Inequalities by Jane Addams and Florence Kelley, in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 525–544, hier S. 530; Martin Bulmer et al. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective, 1880–1940, Cambridge 1991).
- Kathryn K. Sklar, Hull-House Maps and Papers. Social Science as Women’s Work in the 1890s, in: Martin Bulmer et al. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective, 1880–1940, Cambridge 1991, S. 111–147; Nuria Font-Casaseca, Hull House Maps and Papers, 1895. A Feminist Research Approach to Urban Inequalities by Jane Addams and Florence Kelley, in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 525–544, hier S. 526 f.; Ann Oakley, Jane Addams and Settlement Sociology. in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 645–662, hier S. 647.
- George H. Mead, Das ‘Social Settlement’ – seine Grundlage und Funktion, in: Hans Joas (Hg.), George H. Mead. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Frankfurt am Main 1987, S. 391–396, hier S. 395. Ursprünglich erschienen in: The University of Chicago Record 12 (1908), 3, S. 108–110.
- Nuria Font-Casaseca, Hull House Maps and Papers, 1895. A Feminist Research Approach to Urban Inequalities by Jane Addams and Florence Kelley, in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 525–544, hier S. 526.
- Marilyn Fischer, Jane Addams’s Critique of Capitalism as Patriarchal, in: Charlene H. Seigfried (Hg.), Feminist Interpretations of John Dewey, Pennsylvania 2002, S. 278–296, hier S. 286 f.; Ingrid Miethe, Forschung in und um Hull-House als Beispiel einer frühen Sozialarbeitsforschung, in: Kirstin Bromberg et al. (Hg.), Forschungstraditionen der Sozialen Arbeit. Materialien, Zugänge, Methoden, Opladen 2012, S. 113–128, hier S. 113 f.
- Kathryn K. Sklar, Hull-House Maps and Papers. Social Science as Women’s Work in the 1890s, in: Martin Bulmer et al. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective, 1880–1940, Cambridge 1991, S. 111–147, hier S. 135; Marilyn Fischer, Jane Addams’s Critique of Capitalism as Patriarchal, in: Charlene H. Seigfried (Hg.), Feminist Interpretations of John Dewey, Pennsylvania 2002, S. 278–296, hier S. 292.
- Kathryn K. Sklar, Hull-House Maps and Papers. Social Science as Women’s Work in the 1890s, in: Martin Bulmer et al. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective, 1880–1940, Cambridge 1991, S. 111–147, hier S. 115.
- Nuria Font-Casaseca, Hull House Maps and Papers, 1895. A Feminist Research Approach to Urban Inequalities by Jane Addams and Florence Kelley, in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 525–544, hier S. 525.
- Jane Addams, Twenty Years at Hull-House, New York 1910, hier S. 52.
- Ingrid Miethe, Forschung in und um Hull-House als Beispiel einer frühen Sozialarbeitsforschung, in: Kirstin Bromberg et al. (Hg.), Forschungstraditionen der Sozialen Arbeit. Materialien, Zugänge, Methoden, Opladen 2012, S. 113–128, hier S. 121 f.
- George H. Mead, Das ‘Social Settlement’ – seine Grundlage und Funktion, in: Hans Joas (Hg.), George H. Mead. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Frankfurt am Main 1987, S. 391–396, hier S. 392. Ursprünglich erschienen in: The University of Chicago Record 12 (1908), 3, S. 108–110.
- Mary J. Deegan, Jane Addams, in: Mary J. Deegan (Hg.), Women in Sociology. A Bio-Bibliographical Sourcebook, New York/Westport/London 1991, S. 37–44, hier S. 39; Marilyn Fischer, Jane Addams’s Critique of Capitalism as Patriarchal, in: Charlene H. Seigfried (Hg.), Feminist Interpretations of John Dewey, Pennsylvania 2002, S. 278-296, hier S. 292; Nuria Font-Casaseca, Hull House Maps and Papers, 1895. A Feminist Research Approach to Urban Inequalities by Jane Addams and Florence Kelley, in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 525–544, hier S. 527.
- Nuria Font-Casaseca, Hull House Maps and Papers, 1895. A Feminist Research Approach to Urban Inequalities by Jane Addams and Florence Kelley.in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 525–544, hier S. 525.
- Kathryn K. Sklar, Hull-House Maps and Papers. Social Science as Women’s Work in the 1890s, in: Martin Bulmer et al. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective, 1880–1940, Cambridge 1991, S. 111–147, hier S. 123; Ingrid Miethe, Forschung in und um Hull-House als Beispiel einer frühen Sozialarbeitsforschung, in: Kirstin Bromberg et al. (Hg.), Forschungstraditionen der Sozialen Arbeit. Materialien, Zugänge, Methoden, Opladen 2012, S. 113–128, hier S. 118 f.; Nuria Font-Casaseca, Hull House Maps and Papers, 1895. A Feminist Research Approach to Urban Inequalities by Jane Addams and Florence Kelley, in: Patricia M. Shields et al. (Eds.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 525–544.
- Residents of Hull-House, Hull-House Maps and Papers. A Presentation of Nationalities and Wages in a Congested District of Chicago, Together with Comments and Essays on Problems, Growing out of the Social Conditions, New York 1895.
- Kathryn K. Sklar, Hull-House Maps and Papers. Social Science as Women’s Work in the 1890s, in: Martin Bulmer et al. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective, 1880–1940, Cambridge 1991, S. 111–147, hier S. 122.
- Mary J. Deegan, Jane Addams and the Men of the Chicago School, 1892–1918, New Brunswick / Oxford 1988, hier S. 47; Ingrid Miethe, Forschung in und um Hull-House als Beispiel einer frühen Sozialarbeitsforschung, in: Kirstin Bromberg et al. (Hg.), Forschungstraditionen der Sozialen Arbeit. Materialien, Zugänge, Methoden, Opladen 2012, S. 113–128, hier S. 116.
- Kathryn K. Sklar, Hull-House Maps and Papers. Social Science as Women’s Work in the 1890s, in: Martin Bulmer et al. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective, 1880–1940, Cambridge 1991, S. 111–147, hier S. 122.
- Jane Addams, Twenty Years at Hull-House, New York 1910, hier S. 130.
- George H. Mead, Das ‘Social Settlement’ – seine Grundlage und Funktion, in: Hans Joas (Hg.), George H. Mead. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Frankfurt am Main 1987, S. 391–396, hier S. 396. Ursprünglich erschienen in: The University of Chicago Record 12 (1908), 3, S. 108–110.
- Mary J. Deegan, Jane Addams and the Men of the Chicago School, 1892–1918, New Brunswick / Oxford 1988, hier S. 76; Ingrid Miethe, Forschung in und um Hull-House als Beispiel einer frühen Sozialarbeitsforschung, in: Kirstin Bromberg et al. (Hg.), Forschungstraditionen der Sozialen Arbeit. Materialien, Zugänge, Methoden, Opladen 2012, S. 113–128, hier S. 115; Kaspar Villadsen, Was Jane Addams a Sociologist? in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 389–410, hier S. 391.
- Von 1896 bis 1914 publizierte Jane Addams fünf Artikel und einen Kommentar im American Journal of Sociology.
- An der Chicagoer Universität wurde dies verwehrt. Im Jahr 1910 verlieh die Universität Yale Jane Addams als erster Frau den Ehrendoktortitel (https://yalealumnimagazine.org/articles/4881-women-of-honor).
- Mary J. Deegan, Jane Addams and the Men of the Chicago School, 1892–1918, New Brunswick / Oxford 1988, hier S. 80 ff.
- vgl. dazu Barbara J. Lowe, The Complementary Theory and Practice of Jane Addams and George Herbert Mead: Bending Toward Justice, in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 129–148; Shane J. Ralston, Jane Addams and John Dewey, in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 169–186.
- Mary J. Deegan, Jane Addams and the Men of the Chicago School, 1892–1918, New Brunswick / Oxford 1988, hier S. 118 ff.; Kaspar Villadsen, Was Jane Addams a Sociologist? in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 389–410, hier S. 395.
- Jay Martin, The Education of John Dewey. A Biography, New York 2002, hier S. 165.
- Jane Addams, Democracy and Social Ethics, New York 1902.
- Marilyn Fischer, Jane Addams’s Critique of Capitalism as Patriarchal, in: Charlene H. Seigfried (Hg.), Feminist Interpretations of John Dewey, Pennsylvania 2002, S. 278–296, hier S. 279.
- Jane Addams, A Toast to John Dewey, in: Charlene H. Seigfried (Hg.), Feminist Interpretations of John Dewey, Pennsylvania 1929/2002, S. 25–30.
- Jay Martin, The Education of John Dewey. A Biography, New York 2002, hier S. 376.
- Kathryn K. Sklar, Hull-House Maps and Papers. Social Science as Women’s Work in the 1890s, in: Martin Bulmer et al. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective, 1880–1940, Cambridge 1991, S. 111–147, hier S. 136; Dorothy Ross, Jane Addams (1860–1935). Häuslicher Feminismus und die Möglichkeiten der Sozialwissenschaften, in: Claudia Honegger / Theresa Wobbe (Hg.), Frauen in der Soziologie. Neun Porträts, München 1998, S. 130–152, hier S. 149 f.
- Jane Addams, A New Conscience and an Ancient Evil, New York 1912, hier S. 11.
- Aus wissenskultureller Sicht Maya Halatcheva-Trapp / Angelika Poferl, Jane Addams and the Hull-House Maps & Papers. A Knowledge-Culture Approach 2023 (Manuskript eingereicht).
- Kathryn K. Sklar, Hull-House Maps and Papers. Social Science as Women’s Work in the 1890s, in: Martin Bulmer et al. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective, 1880–1940, Cambridge 1991, S. 111–147, hier S. 113
- Kathryn K. Sklar, Hull-House Maps and Papers. Social Science as Women’s Work in the 1890s, in: Martin Bulmer et al. (Hg.), The Social Survey in Historical Perspective, 1880–1940, Cambridge 1991, S. 111–147, hier S. 113 f.
- Anthony J. Blasi, Diverse Histories of American Sociology, Leiden/Bosten 2005, hier S. 1.
- Kaspar Villadsen, Was Jane Addams a Sociologist? in: Patricia M. Shields et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Jane Addams, New York 2022, S. 389–410.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nicole Holzhauser, Stephanie Kappacher.
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