Franziska Cooiman | Rezension |

Kolonialismus, Kapital und Ressentiment

Rezension zu „Kapital und Ressentiment“ von Joseph Vogl

Joseph Vogl:
Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart
Deutschland
München 2021: C.H. Beck
S. 224, EUR 18,00
ISBN 978-3-406-76953-5

Joseph Vogls neues Werk Kapital und Ressentiment spannt einen weiten Bogen zwischen Finanzwirtschaft, der Digitalökonomie und ihren Medienplattformen sowie den dort operierenden strukturellen Populismen. In der Breite seiner Perspektive schließt das neue Buch also nahtlos an seine Vorgänger an. Die kurze Theorie der Gegenwart verwebt in sechs Kapiteln eine Vielfalt an Gesellschaftsdiagnosen des letzten Jahrzehntes zu einem neuen Bild, dessen Stärke in ebendiesen neuen Verbindungen liegt. In einer Vorbemerkung heißt es, das Wort „und“ im Titel werde einer Belastungsprobe ausgesetzt (S. 7), und tatsächlich sind es diese Analysen rund um das „und“, die Vogls jüngste Studie interessant machen: Die Finanzindustrie nimmt eine immer zentralere Stellung ein und profitiert von der Entstehung der gegenwärtigen Internetindustrie. Informationen sind die wichtigste Ressource von Finanz- und Internetindustrie. Die resultierende Informationsökonomie strukturiert Öffentlichkeit, produziert Ressentiments und kann diese Affekte zu Geld machen. Ressentiments stabilisieren so den Finanz­ und Informationskapitalismus (S. 8), funktionieren als „Produkt und Produktivkraft“ (ebd., meine Hervorhebung, F.C.).

Vogls Perspektive ähnelt dabei der eines Nomaden, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari ihn beschrieben haben,[1] der ganze Disziplinen und Immanenzebenen in einer Weise durchwandert, die sichtbare Spuren hinterlässt. Die dabei entstehende virtuose Gesamtschau aus Wissenschaftsgeschichte, Wirtschaftswissenschaften und Medientheorie ist beeindruckend. Sie erlaubt ein neues Verständnis der Gegenwart und legt die Bahnen frei, auf denen sich die Jetztzeit bewegt und wir mit ihr. Drei seiner Hauptbezugspunkte sind die empirischen Arbeiten von Philipp Staab zum digitalen Kapitalismus,[2] Aaron Sahr zur Geldtheorie[3] und Nick Srnicek zum Plattform-Kapitalismus.[4] Naturgemäß steuern nicht alle Verbindungen gleichermaßen zur Tragfähigkeit seiner Analyse bei. So beispielsweise, wenn von einer „Polis der Solution“ die Rede ist,[5] die Vogl als neue „normative Ordnung“ adressiert (S. 101), um ihr im Anschluss nur wenige Absätzen zu widmen, anstatt seinen Punkt systematisch zu entwickeln.

Ich möchte genauer auf zwei der tragenden Verbindungslinien eingehen, die er in seinem Text aufspannt, sowie auf eine grundsätzliche Auslassung. Erstens ist das die Verbindung zwischen Finanzwirtschaft und Internetindustrie. Die Digitalisierung, oder konkreter: „elektronische Netzwerke“ haben, so argumentiert Vogl, „eine effektive Fusion von Finanz­ und Informationsökonomie ermöglicht, die eine schnelle Expansion des Finanzsektors und die Hegemonie des Finanzmarktkapitalismus bewirkte“ (S. 7). Das ist zunächst eine wichtige und nachvollziehbare Beobachtung. Die Finanzwirtschaft profitiert von Entwicklungen im Bereich der Informationstechnologie und kann so ihr globales Kapitalnetz immer engmaschiger spannen. Gleichermaßen, argumentiert Vogl, „drängen Plattformunternehmen nun ins Finanzgeschäft“, und zwar insbesondere „zur Schaffung privater Zahlungs- und Geldsysteme“ (S. 104). Als Beispiel bespricht Vogl das kürzlich in Diem umbenannte Währungsprojekt von Facebook. Er sieht darin den Versuch, den „Zirkel zwischen Finanzialisierung, Informatisierung und Kontrollmacht zu schließen, die private Besetzung souveräner Befugnisse auf die Wirtschaftsordnung insgesamt zu beziehen und den Übergang von einem regierungsgesteuerten zu einem marktgesteuerten Finanzsystem zu perfektionieren“ (ebd.). Ganz gleichgültig also, ob es der Finanzsektor ist, der sich Informationstechnologien zu eigen macht, oder die Internetindustrie, die sich in das Finanzgeschäft drängt, beides stärke die Hegemonie des Finanzmarktkapitalismus.

An dieser Stelle entgehen Vogls Blick mögliche Spannungsverhältnisse zwischen alteingesessener Finanzindustrie und der aufstrebenden Internetindustrie.[6] Neben den aufgezeigten symbiotischen Beziehungen und mimetischen Bewegungen gibt es durchaus auch Reibungspunkte, die herauszuarbeiten Bruchlinien in den scheinbar so festgeronnenen Machtverhältnissen sichtbar machen würden. Gerade das von Vogl diskutierte Beispiel des Facebook-Währungsprojektes verdeutlicht derartige Friktionen. Denn zu dessen Gründungsmitgliedern zählen überwiegend Risikokapitalfirmen und Technologieunternehmen, während kein einziges klassisches Finanzinstitut, wie etwa eine Bank, zu den beteiligten Akteuren gehört. Projekte wie dieses wollen also durchaus die Hegemonie der Finanzwirtschaft infrage stellen. Ein anderes Beispiel ist die Praktik von Wagniskapitalfirmen, Startups statt über einen klassischen, von Banken begleiteten Börsengang mithilfe eines sogenannten Direct Listing direkt an der Börse zu notieren. Damit umgehen sie die hohen Gebühren, die Banken bei einem Börsengang kassieren, und legen eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen trocken.[7] Schließlich machen auch Bewertungsdebakel wie im Fall von WeWork oder Theranos die Gräben sichtbar, die sich zwischen den „normativen Ordnungen“ der wagniskapitalgetriebenen Internetindustrie und der klassischen Finanzindustrie auftuen können.

Die zweite analytische Achse spannt sich zwischen Wirtschaft und Politik auf. Vogl argumentiert, dass „die langwierige Verfertigung des gegenwärtigen Finanzregimes“ mit der „dogmatischen Gegenüberstellung“ der Paare Wirtschaft/Politik und Markt/Staat nicht zu fassen sei (S. 21). Vielmehr seien „Regierungsfunktionen und marktbasierte Aktionsweisen in ein bi-polares Binnenverhältnis zueinander getreten und definieren ein Wirtschafts- und Finanzsystem, das den Titel eines regulativen Kapitalismus verdien[e]“ (S. 22). Das aktuelle Finanzregime strukturiere damit einen „Immanenzraum, in dem souveräne Befugnisse, Regierungsaktionen, Geschäfte und Marktoperationen ineinander verfließen“ (S. 22). Zugleich generiere es dabei eigene „Regeln und Abhängigkeiten“ und werde so zur „vierten Gewalt“, einer „Monetative“ (ebd.) neben legislativen, exekutiven und juridischen Regierungsgewalten. Folglich können wir, so Vogl, den Übergang von einer „geopolitischen zu einer geoökonomischen Ordnung“ und von einem „regierungsgesteuerten zu einem marktgesteuerten Finanzsystem“ beobachten (S. 32). Der Verweis auf die wachsende politische Macht von parademokratische Finanzinstitutionen, wie Zentralbanken oder Entwicklungsbanken, ist wichtig. Und deren Operationsmodus und Wirkweisen scharf zu beobachten, nicht minder bedeutsam. Eine grundsätzliche Eigenschaft von Verbindungslinien ist allerdings, dass sie in zwei Richtungen führen. Was in der politischen Ökonomie als infrastrukturelle Macht des Finanzsektors besprochen wird, teilt nicht nur Finanzakteuren Macht im politischen Prozess zu, sondern auch politischen Akteuren in der Finanzwelt.[8] Vogl selbst verweist auf „die wechselseitige Durchdringung von nationalstaatlichen Organen, internationalen Organisationen und Netzwerken, privaten Agenturen, Unternehmen und Marktprozessen“ und ein sich daraus ergebendes, „vielschichtiges Geflecht aus Regelordnungen unterschiedlicher Dichte und Reichweite“ (S. 21). Seine Analyse konzentriert sich jedoch primär auf die Wirkmächtigkeit der ökonomischen Seite. Aus normativer Sicht wäre jedoch gerade die Handlungsmacht staatlicher Akteure herauszuarbeiten, beispielsweise im Hinblick auf rechtliche Infrastrukturen,[9] um nicht mit dem dystopischen Ausblick auf ein „Ferment einer neuen Vorkriegsanalyse“ (S. 182) enden zu müssen.

Neben diesen beiden Verbindungslinien möchte ich einen Blick auf eine Auslassung in Vogls Erzählung werfen: den Kolonialismus und seine Folgen. Zwar erwähnt er Kolonialgeschichte (S. 118) und Regionen des globalen Südens wie „Afrika“ oder „Asien“ (S. 107), allerdings stets nur im Vorbeigehen. Mit seiner Konzentration auf europäische wie US-amerikanische Kapitalien und Ressentiments bleibt Vogl nicht nur räumlich, sondern, wie ich argumentieren möchte, auch analytisch dem globalen Norden verhaftet. Seine Erklärung setzt in einer Welt an, die ohne koloniale Ausbeutung nicht existieren würde, und zwar nicht nur in ihrer historischen Entstehung, sondern auch in ihrer gegenwärtigen Reproduktionsweise.[10] Kapitalismusgeschichte ist mehr als eine Sequenz von pfadabhängigen Akkumulationsregimen[11] – deren aktuellsten Wandel Vogl beschreibt. Sie ist fundamentell geprägt von Kolonialismus, Imperialismus und darauf wuchernden Rassismen. Eine dritte Achse im Sinne einer „kolonialen politischen Ökonomie[12] in die Analyse einzufügen, würde also den Blick auf Treiber und Dynamik der Gegenwart verändern.

Die geschichtliche Rahmung der Nachkriegswohlfahrtsstaaten durch „starke Gewerkschaften und Bankenregulierung, Kapital- und Währungskontrollen, eine defensive Konjunktur-, Steuer- und Sozialpolitik, langfristige Investitionen und Massenproduktion […]“ (S. 10) müsste dann ergänzt werden um koloniale wie imperiale Ausbeutungen und Extraktionen.[13] Auch das Ende des Wohlfahrtsstaats müsste nebst dem „Zusammenspiel […] politische[r], institutionelle[r] und doktrinäre[r] Eingriffe“ (S. 16) – von dem viel berufenen Ende des Bretton Woods Währungssystem (S. 13), über den Volcker Schock (S. 11) zu einer neuer Rolle für Zentralbanken (S. 14) und supranationale Institutionen (S. 13) – in den Kontext der zugleich stattfindenden Dekolonialisierung gesetzt werden.[14] In anderen Worten: Ohne koloniale Ausbeutungsverhältnisse hätte es den Wohlstand und die darauf basierende Wohlfahrtstaatlichkeit in Europa nicht geben können, was in der Konsequenz bedeutet, dass sich mit dem Ende direkter kolonialer Formen der Ausbeutung eben auch die Existenz dieses Wohlfahrtsstaat infrage gestellt fand, was dem Finanzmarktkapitalismus Tür und Tor öffnete. Der „Ausbruch des Finanzkapitals aus seiner wohlfahrtsstaatlichen Einhegung“ (S. 9), den Vogl als Bedingung für seine Konfigurierung als „inter- oder transgouvernementale Handlungsmacht“ (S. 22) nennt, wurzelt also direkt in der Kolonialgeschichte.

Eine koloniale analytische Achse würde dabei nicht nur die Kapitalseite von Vogls Argumentation berühren, sondern auch die des Ressentiment. Dieses gedeihe „durch ein zirkulierendes Fehlen und die konsequente Produktion von Knappheit“, also der „Basis kapitalistischer Marktsysteme“, und „bezieht [sich] auf das, was immer schon weggeschnappt wurde: Der andere hat stets, was niemand besitzt […]. Das Ressentiment leidet am Diebstahl dessen, was nie besessen wurde, es laboriert an einer begehrlichen Unlust, an einer unzugänglichen, vermuteten und unterstellten Fülle im Anderen.“ (S. 165). Entzündet sich das Ressentiment an dem, was immer schon weggeschnappt wurde und nie jemand bessen hat, verweist ein solches Begehren nach der vermeintlichen Fülle des Anderen allerdings nicht nur auf die Logik kapitalistischer Knappheit, sondern auch auf einen historischen Herrschaftsanspruch. In den Worten Eva von Redeckers ist es die Sachherrschaft der Vergangenheit, die den Phantombesitz, also das schmerzhafte Fehlen dessen, worüber man meint, rechtmäßig verfügen zu können, der Gegenwart begründet.[15] Imperiale Herrschaftsfantasmen sind es also, die auf den Medienplattformen als Ressentiment zu Tage kommen, und politisch wie ökonomisch verwertet werden.[16] Insofern würde eine postkoloniale Perspektive nicht nur die Heraufkunft des Finanzregimes globalgeschichtlich verorten, sondern zugleich einen weiteren Strang in das Verständnis der zeitgenössischen Affektökonomie flechten.

Kapital und Ressentiment vibriert vor intellektueller Geschäftigkeit, bricht mit disziplinären Grenzziehungen und adressiert wichtige Fragen zur Verflochtenheit von Politik und Ökonomie. Nur an mancher Stelle möchte ich als Leserin statt seinen großen intellektuellen Sprüngen zu folgen, Joseph Vogl zurufen: „Warten Sie, schauen Sie genauer hin!“

  1. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus, übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, hrsg. von Günther Rösch, Berlin 1992.
  2. Philipp Staab, Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Berlin 2019.
  3. Aaron Sahr, Keystroke-Kapitalismus. Ungleichheit auf Knopfdruck, Hamburg 2017.
  4. Nick Srnicek, Platform Capitalism, Cambridge 2017.
  5. Evgeny Morozov, To Save Everything, Click Here. Technology, Solutionism and the Urge to Fix Problems that Don’t Exist, London 2014; Oliver Nachtwey / Timo Seidl, Die Ethik der Solution und der Geist des digitalen Kapitalismus [23.3.2021], IFS Working Paper 11 (2017).
  6. Reijer Hendrikse / David Bassens / Michiel van Meeteren, The Appleization of Finance. Charting Incumbent Finance’s Embrace of FinTech, in: Finance and Society 4 (2018), 2, S. 159–180.
  7. Brett Christophers, Value Models. Finance, Risk, and Political Economy, in: Finance and Society 1 (2015), 2, S. 1–22, hier S. 7.
  8. Benjamin Braun / Daniela Gabor, Central Banking, Shadow Banking, and Infrastructural Power [23.3.2021], in: Philip Mader / Daniel Mertens / Natascha van der Zwan (Hg.), The Routledge International Handbook of Financialization, Abingdon / New York 2020, S. 241–252.
  9. Katharina Pistor, The Code of Capital. How the Law Creates Wealth and Inequality, Princeton, NJ 2019.
  10. Kai Koddenbrock, Geld, Weltmarkt und monetäre Dependenz. Was uns die westafrikanische Franc-CFA-Zone über kapitalistisches Geld sagt, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 49 (2019), 1, S. 137–156; Kai Koddenbrock / Ingrid Kvangraven / Ndongo Samba Sylla, Beyond Financialisation: The Need for a Longue Durée Understanding of Finance in Imperialism [23.3.2021], OSF Preprints 2020.
  11. Siehe beispielsweise Nancy Fraser / Rahel Jaeggi, Capitalism. A Conversation in Critical Theory, Cambridge 2018.
  12. Gurminder K. Bhambra, Colonial Global Economy. Towards a Theoretical Reorientation of Political Economy [23.3.2021], in: Review of International Political Economy (2020), 1–16.
  13. Ebd., S. 11.
  14. Ebd., S. 13.
  15. Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt am Main 2020, S. 32.
  16. Siehe hierzu auch Eva von Redecker, Ownership’s Shadow. Neoauthoritarianism as Defense of Phantom Possession [23.3.2021], in: Critical Times. Interventions in Global Critical Theory 3 (2020), 1, S. 33–67.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Affekte / Emotionen Geld / Finanzen Kolonialismus / Postkolonialismus Politische Ökonomie Wirtschaft

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Franziska Cooiman

Franziska Cooiman arbeitet zur politischen Ökonomie des Wagniskapitals am Weizenbaum Institut in Berlin und an der Roskilde Universität in Dänemark.

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