Nicole Holzhauser | Interview | 09.04.2025
„Letztlich kann man zu (fast) jeder Theorie tanzen“
Welche ist Ihre Lieblingstheorie?
Meine Lieblingstheorie? Ist eigentlich keine wirkliche Theorie. Roland Barthes’ Punctum – eine kleine, fast unscheinbare Idee, die es schafft, den Kern von Bedeutung in einem einzigen, flüchtigen Moment einzufangen. Das Punctum beschreibt jenes Detail in einem Bild oder einer Szene, das uns tief berührt und uns einen einzigartigen Zugang zur Wirklichkeit eröffnet. Was mich daran fasziniert, ist, dass es hier nicht um große Systeme oder Theorien geht, sondern um das scheinbar Nebensächliche, das sich nicht planen oder kontrollieren lässt und dennoch eine starke emotionale Resonanz hervorruft.
Im Alltag schärft das Punctum meinen Blick für das Ungeplante und Unverstellte – Momente, die oft beiläufig passieren und sich dennoch tief in das Gedächtnis eingraben. Es erinnert mich daran, dass in den kleinen, unscheinbaren Dingen manchmal mehr Wahrheit steckt als in den großen, perfekt inszenierten Szenen. Für mich ist das Punctum eine Art poetische Soziologie des Augenblicks.
Welchen Begriff würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?
Ganz klar einen „Werkzeugkasten“. Mal sehen, wie weit der mich beim Hüttenbau, Feuermachen oder Regenwasser auffangen bringt. Sicher hilft er mir aber bei der sozialen Konstruktion einer Landebahn für die Flugzeuge, die mich ganz bestimmt irgendwann mit allem Lebensnotwendigen versorgen beziehungsweise abholen werden, wenn ich keine Lust mehr auf Survival of the fittest-Training in „Splendid Isolation“ habe. Toi, toi, toi!
Und so lange ich auf das nächstbeste rettende Flugzeug warte, denke ich über den Begriff „Begriff“ nach. Das wird definitiv nicht langweilig.
Mit welcher Theorie würden Sie versuchen, ein Date zu beeindrucken?
Seriös geantwortet wäre hier sicherlich Norbert Elias‘ Über den Prozess der Zivilisation sowohl theoretisch als auch praktisch eine passende, ja geradezu kultivierte Wahl. Erfolgreich war ich allerdings mit Michel Foucaults Diskurstheorie und Pierre Bourdieus Habituskonzept – auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht eher keine empfehlenswerte Strategie zu sein scheint, seinem Gegenüber ganz unverblümt aufzutischen, dass alle sozialen Beziehungen durch Macht und Kontrolle charakterisiert sind und die feinen Unterschiede auch im kleinen Unterschied folgenreich zum Tragen kommen… Aber wenn es passt, dann passt es, und letztlich kann man zu (fast) jeder Theorie tanzen.
Durch eine Reise mit der Zeitmaschine treffen Sie eine:n frühe:n Vertreter:in der Soziologie Ihrer Wahl. Was berichten Sie ihr oder ihm aus der soziologischen Zukunft?
Ich würde ins Jahr 1952 zurückreisen, um Theodor Geiger irgendwo auf seiner Vortragsreise durch die USA oder während seiner Gastprofessur in Kanada zu treffen und zu warnen, auf keinen Fall an Bord dieses verfluchten Schiffes zu gehen, auf dem er dann während der Überfahrt nach Europa unter ungeklärten Umständen mit nur 61 Jahren ums Leben gekommen ist. Zwar hat der Schiffsarzt auf Geigers Totenschein einen unauffälligen „Herzinfarkt“ als Todesursache vermerkt, aber es ist völlig unklar, wohin sein gesamtes Honorar für die Vortragsreise und die Gastprofessur verschwunden ist, das er für die zukünftige Ausbildung seiner Kinder in bar in seiner Kabine bei sich gehabt haben soll und von dem bei Ankunft des Schiffes jede Spur fehlte. Wenn er nach meinem Besuch also nicht an Bord gegangen sein sollte, wird er entweder trotzdem – nur woanders – in jenem Juni 1952 an einem Herzinfarkt gestorben sein, oder – sollte es sich doch um einen realen Krimi gehandelt haben – noch einige Jahre gewonnen haben, um sein soziologisches Werk fortzusetzen, das ich so sehr schätze und das auch ohne Zeitmaschine bedeutsam bleibt.
Wer hat das schönste Theoriedesign?
Für mich persönlich ist das Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus. Ansonsten empfehle ich zum Nachdenken über diese Frage Helme Heines Das schönste Ei der Welt.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kultur Macht Philosophie Wissenschaft
Teil von Dossier
Theorie, wozu und wie?
Vorheriger Artikel aus Dossier:
„Eine Theorieidentität schützt vor Fragen, die von anderen Theorieidentitäten gestellt werden“
Nächster Artikel aus Dossier:
„Das ‚stahlharte Gehäuse‘ ist mittlerweile aus Plastik“
Empfehlungen
Das große Krabbeln
Rezension zu „Wilde Soziologie. Soziale Insekten und die Phantasmen moderner Vergesellschaftung“ von Eva Johach