Clemens Boehncke | Interview |

„Das ‚stahlharte Gehäuse‘ ist mittlerweile aus Plastik“

Welche ist Ihre Lieblingstheorie?

„Denkbar, daß die gegenwärtige Gesellschaft sich einer kohärenten Theorie entwindet“ – Diesen Satz Adornos habe ich als Entlastung von allzu verbissenen Denkanstrengungen empfunden und lese seither eigentlich nur noch Krimis.

Welches Theoriebuch haben Sie sich hochambitioniert gekauft und dann doch nie (zu Ende) gelesen?

Als törichter Student habe ich mir einmal Habermas‘ „Rekonstruktion des historischen Materialismus“ in der Erwartung zugelegt, es handle sich um einen zweckdienlichen Einführungsband – weit gefehlt. Ich nahm mir vor, mich nicht erneut an der Nase herumführen zu lassen und kaufte zur Sicherheit für einige Jahre keine weiteren Bücher von Habermas.

Durch eine Reise mit der Zeitmaschine treffen Sie eine:n frühe:n Vertreter:in der Soziologie Ihrer Wahl. Was berichten Sie ihr oder ihm aus der soziologischen Zukunft?

Ich treffe Max Weber, der gerade friedlich „Heil Dir im Siegerkranz“ vor sich hin summt. Ich berichte ihm, dass das Sprachbild des ‚stahlharten Gehäuses‘ nicht mehr zieht, denn das Gehäuse ist mittlerweile aus Plastik; ob er mit Blick auf die gegenwärtigen Produktionsverhältnisse auch etwas im Zusammenhang mit Kunststoff assoziieren könne? Mit Rücksicht auf seine Nerven verschweige ich, dass mittlerweile auch Sozialdemokraten Lehrstühle bekleiden.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten nicht die Theorie der sozialen Welt, sondern die Welt der Theorie anpassen. Für welche würden Sie sich entscheiden?

Die Weltwerdung des Strukturfunktionalismus mitsamt entsprechender Metropolis-Ästhetik stelle ich mir ganz schön schrullig vor.

Welchen Begriff haben Sie bis heute nicht verstanden?

Im Alltag bereitet mir die korrekte Deklination des Ausdrucks „Habitus“ anhaltend Schwierigkeiten. 

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Kritische Theorie Sozialer Wandel Zeit / Zukunft

Clemens Boehncke

Clemens Boehncke M. A. ist Wissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Forschungsinteressen liegen im Bereich der Historischen Soziologie und Rechtswissenschaftsgeschichte

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Peter Wagner

Auf der Suche nach dem verlorenen Fortschritt

Rezension zu „Fortschritt und Regression“ von Rahel Jaeggi

Artikel lesen

Nikolas Kill

Die neue Bescheidenheit der Kritischen Theorie

Bericht vom Workshop „Change². The Disruption of Social Structures“ am 20. und 21. Februar 2023 an der Humboldt-Universität zu Berlin

Artikel lesen

Newsletter