Christine Magerski | Literaturessay |

Literatursoziologie vom Feinsten

Literaturessay zu „Parabasis. Literarische Wirklichkeit im Zeitalter der Repräsentation“ von Christian Kirchmeier

Christian Kirchmeier:
Parabasis. Literarische Wirklichkeit im Zeitalter der Repräsentation
Deutschland
Göttingen 2023: Konstanz University Press
404 S., 44,00 EUR
ISBN 978-3-8353-9161-1

Parabasis – war das nicht ein Moment der Alten Attischen Komödie? So ist es und Christian Kirchmeier holt dieses Moment mit seiner Studie Parabasis. Literarische Wirklichkeit im Zeitalter der Repräsentation aus den Tiefen der europäischen Kulturgeschichte hervor, extrapoliert historisch bewandert dessen kritisches Potenzial und platziert den Begriff mit gehörigem Schwung in der zeitgenössischen Kulturtheorie. Die Studie ist aus Kirchmeiers Habilitationsschrift hervorgegangen und korrigiert eingefahrene Deutungsmuster anhand jener eigentümlichen, von weiten Teilen der Kunsttheorie als unnatürlich und störend abqualifizierten Praxis, mittels derer die Handlung in ihrer Mitte unterbrochen wird, um das Publikum direkt zu adressieren und abseitigen Ansichten Ausdruck zu verleihen. Die konstitutiven Merkmale der Parabasis – Unterbrechen und Überschreiten sowie Disgression und Transgression – unterlaufen damit das mimetische Verfahren und fordern das Paradigma der Repräsentation offen heraus. Dies allerdings nicht erst, so macht die vierhundert Seiten starke Studie überzeugend deutlich, in der literarischen Moderne oder gar der gegenwärtigen „Präsenzkultur“, sondern bereits im Zuge der „Repräsentationskultur“.[1]

Die Unterscheidung zwischen Repräsentations- und Präsenzkultur entlehnt Kirchmeier von Hans Ulrich Gumbrecht, der Präsenz- und Repräsentationskultur als Pole kultureller Konzeption begreift. Folgt man Gumbrecht, so hat die westliche Kultur seit Descartes der Repräsentation den Vorrang vor der Präsenz eingeräumt, und dies trotz einer spätestens seit Foucault allgemein anerkannten Krise der Repräsentation. Im Kern bedeutet dies, dass der Sinn über die Materie und das Bezeichnete über das Bezeichnende gestellt wird. Die letzten Nischen des Körperlich-Konkreten seien die Bereiche des Sports und der Kunst. Kirchmeier setzt konzeptionell hier an, enthält sich aber einer Wertung. Wer sich angesichts des Gegenstandes also eine klare Parteinahme für einen nicht-mimetischen Zugang zur Wirklichkeit und die entsprechenden Techniken der Grenzüberschreitung erhofft, wird enttäuscht. Vielmehr erweist sich Kirchmeier, wie bereits in seiner historischen Typologie Moral und Literatur,[2] als versierter Kenner komplexer Verhältnisse und macht die Parabasis primär als „Analysekategorie“ (S. 26) der Kultur- und Sozialwissenschaften produktiv.

I.

Wie komplex die Verhältnisse sind, wird gleich zu Beginn des Buches deutlich, wenn sich Kirchmeier mit der erkenntnistheoretischen Dimension des Problems der Durchbrechung der ‚vierten Wand‘ befasst. Das Problem taucht mit der camera obscura auf, deren epistemologische Leistung darin besteht, dass man fortan „nicht länger über die Dinge an sich spekulieren musste, sondern sich darauf beschränken konnte, wie diese Dinge in einem Wahrnehmungsapparat erscheinen“ (S. 10). Gegen diesen Schein formierte sich Widerstand, der von Plato über Marx bis hin zu Teilen der Gegenwartsdramatik reichte. Es galt, die „ästhetische Ideologie“ (S. 11) zu bekämpfen, legt diese den Beobachter doch auf eine ganz bestimmte, von der Wirklichkeit abgegrenzte und von ihr scheinbar unberührte Position fest und stützt damit die Ordnung der Repräsentation. Kirchmeier begreift diese Ideologie mit Jonathan Crary als eine „Metaphysik der Innerlichkeit“ im Sinne einer Ablösung der Sphäre des Geistes von der des Körpers – eine Position, der wiederum die Parabase opponiert, indem sie die ‚vierte Wand‘ durchbrechen will. Als ästhetisches Verfahren wird die Parabasis damit zum zentralen Werkzeug zum Durchbrechen des Scheins, das die „Mechanismen der Repräsention stört und die Grenze zwischen dem inneren Raum der Repräsentation und dem äußeren Raum der Beobachtung überschreitet“ (S. 15). Wo sie zum Einsatz kommt, da dreht die Parabase die Blickrichtung um und das „Objekt der Repräsentation blickt plötzlich auf seinen Beobachter“ (ebd.). Der Gewinn ist ein radikal gewandelter Zugang zur Wirklichkeit, der Preis die Erschütterung des sich souverän glaubenden Beobachtersubjekts, das von der Wahrnehmung der Kunst als Kunst nicht zu trennen ist.

Gewinn und Verlust stets im Blick, zielt die Studie auf eine umfassende Beschreibung des „Zusammenspiels von mimetischer und parabatischer Ästhetik“ (S. 17) und damit auf die Erfassung der Schließungs- und Öffnungseffekte der Kunst gegenüber der Wirklichkeit. Dass der Schwerpunkt auf letzteren liegt, wird mit der „tragödientheoretische(n) Schlagseite ästhetischer Theorien“ (ebd.) begründet. „Bis heute“, so heißt es, „tendieren viele Theorien dazu, die politische Funktion der Kunst als Effekt der Mimesis zu denken – sei es affirmierend als Spiegel der Welt, als potentiell realistische Darstellung, als Experimentierfeld für ästhetisches Probehandeln usw. oder kritisch als Täuschung und Lüge, als Ideologie und falsches Bewusstsein“ (ebd.). Damit ist klar, dass hier mehr verhandelt wird als nur die ästhetische Funktion der Kunst. Kirchmeiers vom Wirklichkeitsbezug der Komödie her gedachte Theorie des „Dualismus von Tragödie und Komödie“ (S. 19) unterscheidet dann auch konsequent zwischen der Parabase als kommunikativem Ereignis und dem Parabatischen als „Zustand der Offenheit der Situation durch einen latenten Beobachter“ (S. 62).

Also ja, es geht systemtheoretisch zu, schließlich ist Kirchmeier bei Oliver Jahraus in die Schule gegangen. Der Rahmen der Systemtheorie wird aber weit überschritten, wenn Parabase und Mimesis als Pole des ästhetischen Spektrums markiert und der Begriff des Parabatischen gesellschaftstheoretisch geöffnet wird. Er beschreibt eine „ausdifferenzierte Gesellschaft“, in der es „keinen Ort (gibt), der losgelöst von Rollenerwartungen wäre“ (S. 57). Hier kommt – neben Luhmann, Bourdieu und Foucault – primär Goffmanns Rahmen-Analyse (1974/1977) zur Anwendung. Nach dieser gibt es grundsätzlich kein Außerhalb der Rollenidentitäten. Dies gilt auch für den vermeintlich authentischen Einspruch der Parabase, bezieht diese ihre Identität doch aus der Bereitstellung eines Bühnenrahmens, der einen Raum für Rollendarstellungen eröffnet, welcher sich dann wiederum von der Parabase zum Publikum hin öffnen lässt. Mit dieser Öffnung – und darin besteht laut Kirchmeier die soziale Funktion des Theaters – wird die Bühne zu einem Ort, an dem vor den Augen der Beobachter „Rollenerwartungen systematisch“ (S. 36) verhandelt werden können. Im Theater wird, so die Grundannahme, mithilfe der Parabase auf „dramatische und rhetorische Ordnungen überhaupt“ (S. 50) verwiesen und gleichzeitig sichtbar, dass Mimesis und Parabase komplementär, also „voneinander abhängige Phänomene“ (S. 67) sind.

Dies gesetzt, verhandelt die Studie wie nebenbei die alte, von Lukàcs im Anschluss an Simmel zentrierte Differenz zwischen offenen und geschlossenen Formen neu.[3] Das Ergebnis sei bündig vorweggenommen: „Das Drama ist nie episch gewesen und nicht postdramatisch geworden.“ (S. 25) Die ihrerseits dramatische These vom Verfall der Gattung kontert Kirchmeier gut einhundert Jahre nach Lukács‘ Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas (1912) mit einer text- und kommunikationstheoretisch basierten Geschichte der Parabasis und argumentiert, dass auch die anti-mimetischen, also offenen Formen den Rahmen des Dramas nicht sprengen. Nichts – so die Pointe – ist posttheatralisch, weil keine der beiden Formen ihre Textualität verleugnen kann. Wenn es bei Kirchmeier heißt, dass er der Einseitigkeit der Verfallserzählungen ein neues Narrativ für die Geschichte des modernen Dramas zur Seite stellen möchte, weil es der Literaturwissenschaft bisher nicht gelungen sei, „die Gattung des Dramas so zu erfassen, dass die historischen Wandlungen des vergangenen Jahrhunderts als gattungsinterne Entwicklungen beschrieben werden können“ (S. 25), so grenzt er sich mit dem Fokus auf die Komödie gezielt von der wirkmächtigen Großerzählung vom Verfall des Dramas als Indiz des Niedergang einer tragfähigen gesellschaftlichen Ordnung ab. Darüber hinaus attestiert Kirchmeier eine theaterinterne Kontinuität von Schließungs- und Öffnungsprozessen, mit der er auch gleich jenes „Phantasma eines parabatischen Theaters der Moderne“ (S. 69) in seine Schranken weist, wie es als Hoffnung auf eine theatrale, jede Trennung zwischen Darstellern und Zuschauern überwindende Gemeinschaft im Rousseau‘schen Fest oder dem Bachtin‘schen Karneval mitschwingt.

II.

Wie sieht diese Geschichte konkret aus? Ihre Zusammenfassung findet sich am Ende des Buches und soll hier zitiert werden:

„Das parabatische Drama hat sich im Zeitalter der Repräsentation nicht zur Synthese aus Tragödie und Komödie entwickelt, in der die Geschichte der Kunst an ihr Ende gekommen wäre. Der Gegensatz von Parabasis und Mimesis gelangt in ihr nicht an den Punkt einer dialektischen Aufhebung, er läuft nicht auf ein historisches Telos zu. Vielmehr arrangieren sich beide Ästhetiken in der Geschichte des Theaters immer wieder neu, passen sich veränderten sozialen Kontexten an und verändern damit diese sozialen Kontexte, soweit es ihnen gelingt, diese durch ihr Zusammenspiel zu irritieren.“ (S. 353)

Hinter dieser Einsicht steht eine Geschichte, die von der Attischen Komödie bis zur „Schwelle der Repräsentationskrise“ (S. 28) reicht und systematisch belegt, dass innerhalb des im Spannungsfeld von Autonomie und Gesellschaft operierenden „multimediale[n] Zeichensystem[s]“ (S. 30) des Theaters „immer schon auf direkte, nicht-mimetische Weise auf Wirklichkeit“ (S. 34) Bezug genommen wurde. Die Parabasis kam also „schon auf dem Höhepunkt einer repräsentationalistischen Ästhetik“ (ebd.) zum Einsatz.

Um dies kenntlich zu machen, widmet sich die Studie nach einem relativ kurz gehaltenen Kapitel zur Theorie der Parabasis in übersichtlich geordneten Kapiteln fünf parabatischen „Einbrüchen“ (S. 35) in den Bereichen des Publikums, der Figurenkonstellation (die Lustige Figur), der Gemeinschaft, der Störung und der Poetik.

Bezüglich des Publikums kommt es durch die Parabasis zu einer Störung der Illusion. Diese Störung aber, so wird in einem erhellenden Vergleich der antiken Parabase mit der Parabase im Zeitalter der Repräsentation gezeigt, wurde nicht von Anfang an als negatives Phänomen wahrgenommen. Zur Abwertung kommt es erst mit dem Verschwinden der politischen Funktion des Theaters in der römischen Palliata. An die Stelle des Politischen tritt nun das Ethische und mit ihm die Forderung, individuelle Selbsttäuschung zu vermeiden. Ganz anders stellen sich die Verhältnisse in der französischen Debatte von der Klassik bis hin zu Diderot dar. Hier wird die Illusion zum eigentlichen Wirkungsziel des Theaters erhoben und die Parabase als dramatische Technik abgelehnt – eine Position, gegen die dann die Romantik zu Felde zog. Zu diesem Wandel der Valorisierung passt der Umgang mit der Lustigen Figur, welche Kirchmeier zufolge als „Ausdruck der Verweigerung von Rollenzumutungen der modernen Gesellschaft“ (S. 36) erst in der jüngeren kulturwissenschaftlichen Forschung eine dezidiert positive Deutung erfährt. Der Bereich der Gemeinschaft wird mit der vom parabatischen Drama der Romantik geprägten neuen Form des politischen Imaginären in die Argumentation eingezogen. Hier greift die Studie die aktuelle Forschungsdebatte um die Frage auf, wie politisch die Romantik war.[4] Der Schwerpunkt liegt dabei auf Friedrich Schlegels Konzeption einer Fundierung des Politischen, die der konkreten Politik vorgelagert ist.

Überhaupt kommt der Frühromantik und hier wiederum Schlegels Theorie der Ironie ein hoher Stellenwert innerhalb der Argumentation zu. Mittels Ironie als einer Art erkenntnisfördernder Störung wird behutsam von der Geschichte des Dramas und seines Publikums auf den das Politische berührenden poetologischen Diskurs umgestellt. Kirchmeier würdigt die romantische Ironie ausführlich und betont, dass diese neben und mit der Unterbrechung qua Witz auch einen „Wahrheitseffekt“ (S. 37) erzeuge: Mehr als eine Technik der Selbstreflexion sei die romantische Form der Ironie immer auch ein „Mittel zur punktuellen und paradoxen Erkenntnis der Wahrheit“; einer Wahrheit, die „im Akt der Transgression ein Reales zu berühren versucht, um letztlich das Scheitern dieses Versuchs erfahrbar zu machen“ (S. 270). Von daher, so die politische These, sei eine „ironische Ideologie undenkbar“ (S. 305). Gegen Carl Schmitt wird hier also auf das „kritische Potential der Ironie“ (S. 271) insistiert und unterstrichen, dass die Frühromantik „genuin politisch ist, weil sie „in der Praxis der Mit-Teilung ein neues Fundament für eine post-fundamentalistische Ordnung des Politischen zu erreichen versucht und dafür eine neue Form eines politischen Imaginären benötigt“ (S. 229). Die Alte Attische Komödie werde für Schlegel nicht nur zum „Muster des griechischen Dramas“, sondern die ihr inhärente Parabase auch zum „exemplarischen Ausdruck der ästhetisch-politischen Freiheit“ (S. 235). So gesehen ist es die Romantik, welche mithilfe der Parabasis die „politische Wirkung des Dramas auf das Publikum im Medium des Dramas selbst“ (S. 238) ausstellt und dabei die „Verletzung der Welt in Kauf“ (S. 285) nimmt. Kirchmeier zuspitzend ließe sich sagen, dass die Romantik durch Ironie und Komödie überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit des Politischen erfahrbar macht, indem sie öffentlich präsentiert, was Schmitt ausblendet: Die kommunikative Basis jedweder Ordnung - einschließlich der politischen. Die so verletzte, weil auf ihre Essenz verwiesene, soziale und politische Welt kann die Romantik nicht kitten, ermöglicht qua ästhetischer Verletzung aber eine freiheitliche, von Fundamentalismen befreite Imagination des Politischen.

Das Schlusswort zum historischen Teil – und mithin die gewichtigste Stimme innerhalb der ästhetischen Diskussion – aber hat nicht Schlegel, sondern Hegel, an dem sich bekanntlich auch Lukács abarbeitete. Hegel, hier schließt sich Kirchmeier dem ungarischen Kulturphilosophen an, habe die Bedeutung der Parabasis für seine Epoche am deutlichsten erkannt, nur weise seine Theorie dennoch einen blinden Fleck auf. Unter der Annahme, dass mit der Parabase die Kunst als Erkenntnismittel eines Absoluten an ihr Ende kommt, habe Hegel übersehen, dass das parabatische Drama bereits in seiner Gegenwart die Krise der Repräsentation ästhetisch verhandelt und sich geweigert habe, „die Bühne überhaupt als Ort der Repräsentation gelten zu lassen“ (S. 38). Dem ließe sich mit Hegel entgegenhalten, dass die Eule der Minerva eben bei Nacht fliegt. Was sich unmittelbar vor seinen Augen abspielte und noch abspielen sollte – die Theaterreformen der Avantgarde, der sich andeutende Verlust des Referenten und damit auch der Grundlage der Repräsentationskultur in der klassischen Moderne, das epische Theater eines Brecht und schließlich ein linguistic turn, der ganz auf geschlossene Signifikantenketten setzt – konnte noch nicht in Gänze antizipiert werden. Kirchmeiers Erkenntnis, dass sich „allen Ausschlussbemühungen zum Trotz – qua Parabasis eine Transgression zwischen Kunst und Wirklichkeit als nicht-mimetischer Zugriff auf das Reale ereignen konnte und ereignet hat“ (S. 34), konnte die Hegel‘sche Ästhetik so gesehen schlicht aus historischen Gründen nicht denken.

Kirchmeier aber geht es nicht in erster Linie um eine Kritik, sondern um eine grundsätzliche, in die Gegenwart ausgreifende Diskussion des Konzepts der Parabasis als eines Instruments, mit dem sich untersuchen lässt, „wie die Kunst auf nicht-mimetische Weise einen Wirklichkeitsbezug herstellen kann“ (S. 355). Hegel ist in der schlüssigen Argumentation gewissermaßen die letzte, von der Geschichte des Dramas und seiner Ästhetik hinein in unsere Gegenwart führende Drehtür. Zentral sind dabei die Hegel‘schen Einlassungen zum Spiel mit der Maske, von Kirchmeier gelesen als „Ereignis der Parabase“ (S. 322). Mit dem Maskenspiel endet eine Epoche, in der das Theaterpublikum mit einer ihm wesentlich fremden, weil absoluten sittlichen Macht (Götter oder absolutistische Herrscher) konfrontiert wurde. Was die Betrachter nun sehen, ist ein ironisch mit eigener Stimme zu seinesgleichen sprechendes Subjekt. Angesichts dessen kann sich das Publikum „vollkommen zu Hause“, ja „sauwohl“ fühlen, sieht es doch „sich selbst spielen“.[5] Das sich aus dieser Wende ergebende „Prinzip der ‚subjektiven Heiterkeit‘“ aber ist, so Kirchmeier in Anlehnung an Christoph Menke, erkauft mit einer „Tragödie im Sittlichen“.[6] In der durch den Rahmen des Theaters gesicherten Heiterkeit „entdeckt der Bürger seine unumschränkte Herrschaft über das Gemeinwesen“ (ebd.). Folgenschwer ist diese Entdeckung insofern, als die Heiterkeit selbst „in hohem Maße politisch“ (ebd.) ist, wird das Ich doch nun scheinbar zum neuen Herrscher über das Allgemeine.

III.

Heute, an seinem vorläufigen Ende, so könnte man zugespitzt sagen, führt das Spiel mit der Maske und die von ihm losgetretene Tragödie im Sittlichen zu einer „Krise des Allgemeinen“ (Andreas Reckwitz). Soweit geht die Studie nicht und kann sie auch nicht gehen, will sie vermeiden, selbst eine tragische ‚Schlagseite‘ zu bekommen. Zwar wird die von der Parabase eröffnete „Möglichkeit einer ästhetizistischen Lebensführung, wie sie in der Nachfolge der Romantik erprobt wird“, ebenso angesprochen wie eine ästhetisierte Gesellschaft, in der ein „permanentes Spiel mit der Maske stattfindet“ (S. 322), doch sieht Kirchmeier darin kein Problem. Der Grund für diese Gelassenheit liegt in einem Hegel konträr stehenden Verhältnis zur Maske und damit zum Schein selbst. Kirchmeier glaubt nicht an ein sich hinter den Masken verbergendes, „mit sich selbst identisches Individuum“. Hegel greift zu kurz, wenn er die Parabase allein als Ende des Zeitalters der Repräsentation des Göttlichen auf der Bühne versteht und nicht auch als Ende der „Repräsentation des mit sich selbst identischen Subjekts“ (S. 325). Die Prämissen von Hegels Ästhetik, so heißt es bestimmt, „machen es unmöglich, einen radikal nicht-repräsentationalistischen Wirklichkeitsbezug der Kunst zu denken, mit dem die Kunst auch das Subjekt hinter sich lässt“ (S. 338). Was der Phänomenologe des Geistes also aufgrund falscher Voraussetzungen (und nicht aufgrund ihrer zeitlichen Verortung) übersieht, ist die Verabschiedung der „Idee des authentischen, mit sich selbst identischen Ich“ und damit des „Menschen als historisches Apriori des Repräsentationszeitalters“ (S. 339).

Derart mit Hegel an den „Grenzen eines repräsentationalistischen Denkens“ (ebd.) angekommen, begründet sich ein Ansatz, der über den Philosophen theoretisch hinaus will und ihm methodologisch doch die Treue hält. Denn es ist die Hegel‘sche „Arbeit des Begriffs“, auf die sich auch Kirchmeier verlässt, um die Geschichte der Parabasis Revue passieren zu lassen und von diesem Punkt aus neue Wege zu gehen:

„Das zugrundliegende begriffslogische Problem besteht darin, dass die Parabase als Technik der Unterbrechung und Überschreitung auf einen Komplementärbegriff angewiesen ist. Dieser Komplementärbegriff muss klären, was durch die Parabase unterbrochen wird (die Illusion? die Handlung?) und welche Grenze die Parabase überschreitet. Der Vorschlag, der im Folgenden auszuführen ist, besteht darin, Goffmanns Konzept des Rahmens als einen solchen Begriff zu verwenden. Sollte dieses Vorhaben gelingen, besäße der Begriff der Parabase eine analytische Tragweite, die ihn sowohl für die soziologische als auch für die ästhetische Theorie qualifizieren könnte.“ (S. 52)

Wenn die Rezensentin das Vorhaben durchaus für gelungen hält, so weil Kirchmeier die philosophische, auf die Tragödie abstellende Ästhetik mit der Komödie mittels eines relationalen Denkens in ihre Grenzen verweist, das der Eigenlogik sozialer Prozesse und dem „Phänomen doppelter Wirkungskräfte“ (S. 55) gerecht wird. Die von Simmel zentrierte Paradoxie lässt sich nicht auflösen, weil sozio-ästhetisches Handeln in Rahmen erfolgt, die einerseits einen individuellen Handlungsspielraum und „Freiheitsgrade“ (S. 55) eröffnen und andererseits als sozial vorgebene Begrenzung fungieren. Mit seinem Gesamtbild zeigt Kirchmeier, was sich innerhalb dieser Rahmen öffentlich ereignet und was es vor jeder Aushandlung der Funktion der Kunst zunächst einmal analytisch zu begreifen gilt: Da ist zunächst die Unausweichlichkeit der Transformation sogar noch der Illusionsstörung zu einem selbstnegierenden Konzept, müsste sich doch (durchaus paradox) selbst die Störung der Illusion, einmal zum ästhetischen Prinzip der Irritation verfestigt, zwangsläufig selbst wiederum einer Illusionsstörung aussetzen. Hinzu kommen die Notwendigkeit der Disziplinierung auch noch der Lustigen Figur, die Ironie hinter der romantischen Aufdeckung der zwei Körper des Königs und ihrer romantischen Steigerung zum politischen Imaginären. Eine derart das Ende der Repräsentation in der Kunst vorführende Studie führt uns mit der Vorstellung eines „totalen parabatischen Theaters“ nicht nur vor die „Grenze theatraler Logik“ (S. 30), sondern vor die Grenze der dualen Logik von Nachahmung und Abweichung überhaupt und gibt reichlich Stoff zum Denken.

IV.

Gar keine Einwände also? Nein, nur Nachgedanken bezüglich des „Projekts“, welches Kirchmeier auf eine „nicht-mimetische ästhetische Theorie“ (S. 355) zielend anstoßen möchte. Meine Überlegungen setzen bei dem an, was außerhalb der Studie liegt, gleichwohl aber zu ihrem Verständnis mitgedacht werden muss: die Neuerfindung des parabatischen Dramas durch Brecht, Pirandello oder auch Wilder und die These, dass das „Drama des 20. Jahrhunderts (…) ein parabatisches werden (wird)“ (S. 354). Das wirft Fragen auf, von denen zwei abschließend zumindest angerissen werden sollen. Da wäre zum ersten die Frage, ob angesichts des Siegezugs des Parabatischen die erhoffte Theorie nicht ein ‚follow up‘ der inzwischen routinierten nicht-mimetischen ästhetischen Praxis wäre und damit letztlich notwendig doch eine ‚Schlagseite‘ hätte. Wenn die Komödie zur eigentlichen Gattung der Moderne geworden ist, hätten wir es zumindest in der ästhetischen Praxis dann nicht längst mit dem neuen Ungleichgewicht einer „Ordnung der Parabasis“ (S. 309) zu tun?

Die Sozialtheorie des 21. Jahrhunderts legt dies nahe. Zu denken wäre hier etwa an die prominent von Boltanski und Chiapello formulierte These, dass die von der romantischen Künstlerkritik entfesselte Dynamik des Transgressiven zu einer grundlegenden, auf der endlosen Suche nach Authentizität basierenden Transformation des Kapitalismus geführt habe. So verstanden, erwiese sich die Verabschiedung der Idee des authentischen, mit sich selbst identischen Ich als ein ‚Abschied auf Zeit‘. Ausgerechnet die Momente des Unterbrechens/Überschreitens und der Disgression/Transgression werden in dieser Lesart zum Ideengeber eines beinahe parabatisch anmutenden Kapitalismus und gerinnen zu einer „Kultur der Ungewissheit“, welche ihrerseits Gegenstand der Empörung wird.[7] Bedenkenswert scheint dies insofern, als es die Versprechungen der romantischen Künstlerkritik auf Autonomie, Selbstverwirklichung und Authentizität sind, die sich der neue Kapitalismus einverleibt und zu der zeitgenössischen Ideologie erhebt. Hat die „romantische Ironie als Medium objektiver Kritik“ (S. 267) also versagt? Und berührt die Tatsache, dass dem ästhetischen Kapitalismus mit der Aufhebung des Antagonismus von Kritik und Affirmation des Bestehenden das scheinbar Unmögliche gelingt, nicht auch das Spannungsverhältnis von Parabasis und Mimesis?

Die zweite, damit zusammenhängende Frage wäre, was die Neuerfindung des parabatischen Dramas für das Politische bedeutet. Bleibt man bei der Gesellschaftstheorie der Gegenwart und folgt Reckwitz, so führt der auf die Romantik zurückgehende Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung letztlich zum „Ende der Illusionen“ und einer Bilanz der Verluste.[8] Dass die Kunst nicht mehr die Wirklichkeit abbildet, sondern die Wirklichkeit verändern will („umgekehrte Mimesis“), evoziert ja überhaupt erst jene „sukzessiven Emanzipationsversprechen“ der Kunst, welche letztlich enttäuscht werden.[9] Mehr noch: Die Krise des Allgemeinen umfasst eine Krise des Liberalismus und rückt eine Tragödiendämmerung zumindest in den Bereich des Möglichen. Was tun angesichts dessen mit der „politische Kardinalfrage für das parabatische Drama“ (S. 208), ob die Parabase tatsächlich eine Aktivierung des Zuschauers zu bewirken vermag? Wurde die Welt vom aggressiv auftretenden „transgressive(n) Ereignis der Parabase“ (S. 285) wirklich verändert? Und was wird mit dem von Kirchmeier an der Seite der Romantik zentrierte „Fundierungsproblem“ (S. 225), wenn die politische Macht ihr Haupt erhebt?

An der Kraft der Kunst mag angesichts der Konjunktur fundamentalistischer Politik gezweifelt werden. Kirchmeier ging von einem von der Komödie in Gang gesetzten Prozess aus, in dessen Verlauf sich „aus der Komödientradition ein politisches Programm des Theaters entwickelt, dessen Folgen für Ästhetik und Politik der Gegenwart bislang kaum abzusehen sind“ (S. 255). Heute, nur kurze Zeit später, sehen wir schon mehr. Und was wir sehen, sollte in Kirchmeiers Projekt eingebunden werden. Spätestens mit dem neuerlichen Machtantritt Trumps dürfte die weit über den Rahmen des Theaters hinaus verfestigte Ordnung der Parabasis ihrerseits herausgefordert werden und die Frage nach der Fundierung allein mit der Letztbegründung der konkreten politischen Macht beantwortet werden. Das Theater mag auch weiterhin das „Modell“ dafür vorgeben, „wie sich Macht formiert“ (S. 228). Die Macht aber formiert sich noch immer außerhalb des Theaters und verweist gegenwärtig aggressiv auch auf ein Außerhalb der „Gesellschaft als imaginäre Institution“.[10] Dass Kirchmeier das vorläufige Ende der politischen Illusionen beim Abfassen seiner Studie noch nicht sehen konnte und trotzdem die parabatischen Ästhetiken der Gegenwart davor warnte, der Kategorie des Authentischen zu viel Raum zu geben, zeugt von einer in der Wissenschaft eher raren Hellsicht. Seine Erinnerung daran, dass die Parabase „im Medium der Kunst nur das unterbrechen (kann), was sie als Ausschnitt der Wirklichkeit mimetisch darstellt“ (S. 362), ist im besten Sinne zeitgenössisch. Ohne Mimesis kann es keine kritische Kunst geben.

Wie diese angesichts einer politischen Wirklichkeit aussehen könnte, welche – geradezu tragikomisch – das Parabatische just im „Zeitalter direkter Ansprache“ (S. 362) konfrontiert und die Verhältnisse noch komplexer macht, kann heute noch nicht gänzlich geklärt werden. Vielleicht genügt dazu der Blick auf das „neue Schauspiel der Politik“ und die „Inszenierung des Authentischen“[11] nicht mehr, schickt sich die vermeintlich lustige, dem Maskenspiel durchaus zugeneigte Figur auf der politischen Bühne doch dazu an, das eingespielte Metatheater gründlich zu unterbrechen. Von daher sollte das Projekt, dem an dieser Stelle viel Erfolg gewünscht sei, die von der Soziologie aufgeworfene Frage nach dem „Wozu Theater?“[12] ohne jedwede Wirklichkeitsscheu neu verhandeln. Dass es das kann, garantiert eine literatursoziologische Studie vom Feinsten, die Kultur- und Sozialwissenschaften an beides gemahnt: an die Relevanz einer nicht-naiven Kunst und an die Tücken einer ‚verkehrter Welt‘, in der allein der Beobachter erster Ordnung „noch festen Boden unter den Füßen“ (S. 246) hat.

  1. Siehe hierzu Hans Ulrich Gumbrecht, Präsenz, hrsg. v. Jürgen Klein, Berlin 2012, S. 216–218.
  2. Christian Kirchmeier, Moral und Literatur. Eine historische Typologie, München 2013.
  3. Siehe hierzu ausführlich Christine Magerski, Von der formalen Soziologie zur formalen Literatursoziologie: Georg Lukács. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 46 (2021), 2, S. 546–566.
  4. Siehe hierzu aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Christian Kirchmeyer (Hg.), Das Politische des romantischen Dramas. Paderborn 2018 sowie aus politikwissenschaftlicher Perspektive Walter Pauly / Klaus Ries (Hg.), Staat, Nation und Europa in der politischen Romantik, Baden-Baden 2015.
  5. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: HTW 3, S. 544 u. ders., Ästhetik III, in: HTW 15, S. 553. Hier zitiert nach Kirchmeier 2023, S. 322.
  6. Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt am Main 1996.
  7. Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 82.
  8. Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019 sowie Ders., Verlust. Ein Grundproblem der Moderne, Berlin 2024.
  9. Christine Magerski / David Roberts, Umgekehrte Mimesis. Bausteine eine Geschichte der Künstlichkeit, Weilerswist 2023, S. 99.
  10. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution: Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984.
  11. Christian Kirchmeier, Das neue Schauspiel der Politik. Über die Inszenierung des Authentischen, in: Forschung & Lehre 29.7 (2022), S. 534-536.
  12. Dirk Baecker, Wozu Theater? (Recherchen), Berlin 2013.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Epistemologien Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kultur Kunst / Ästhetik Öffentlichkeit

Christine Magerski

Prof. Dr. Christine Magerski lehrt Neuere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Zagreb. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Literatursoziologie, die Literatur- und Gesellschaftstheorie sowie die Literatur-, Kultur- und Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts.

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