Dagmar Comtesse | Interview |

„Luhmanns Systemtheorie stelle ich mir als riesige Lavalampe vor“

Welche ist Ihre Lieblingstheorie?

Keine Frage: Foucaults Diskursanalyse. Mit dieser Theorie können Sie Vergangenes wie Gegenwärtiges, Materielles wie Geistiges, Institutionen wie Praktiken, Subjektives, Objektives und Relationales erklären. Eine eierlegende Wollmilchsau in der Welt der Theorien. Abgesehen von dem höchsten explanatorischen Wert, hat sie außerdem die, zugegeben beschränkte, emanzipatorische Kraft, Diskursregeln auf Abstand zu halten und teilweise zu umgehen, Sprecher*innenpositionen zu hinterfragen, und überwältigende Diskursformationen zumindest auf reflexive Distanz zu bringen.

Welchen einer Theorie entstammenden Begriff wenden Sie oft, aber vielleicht nicht immer ganz richtig an?

Pfadabhängigkeit. Kommt aus den Wirtschaftswissenschaften und bezeichnet dort die ökonomische Entwicklung als kontingentes Zusammenwirken von Marktformationen, politischen und unternehmerischen Entscheidungen, technologischen Erfindungen und etlichen anderen Faktoren. In diesem Kontext bezeichnet der Begriff die Effekte ‚positiver Rückkoppelungen‘, die einen begonnenen Pfad verstärken. Ich nutze den Begriff, um eine schnelle Verdeutlichung der Unterscheidung von Zufall und Kontingenz zu evozieren. Schwere materielle Pfadabhängigkeit, das ist Kontingenz. Nicht luftiger Zufall. Aber in der ökonomischen Bedeutung steckt auch die teleologische Entwicklung der Profitmaximierung, während Kontingenz kein Telos in sich trägt.

Welchen Begriff würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?

Foucaults Diskursbegriff. Mit diesem einen Begriff nehme ich zugleich unendliche viele konkrete gegenwärtige und vergangene Diskurse mit ins Gepäck, Regeln und ihre Umgehung, vergangene, gegenwärtige und zukünftige Sprecher*innenpositionen. Keine Frage, der Begriff ist geschwätzig und damit unterhaltsam in der Einsamkeit. Er bietet aber auch unendliche Herausforderungen, wie beispielsweise eine möglichst überzeugende Verbindung von Materie und Wort zu denken. Außerdem kann der Einsamkeit mit Hilfe der Diskursregeln die spezifische Freude sanktionsloser Überschreitung von Sprechverboten abgerungen werden.

Welches Theoriebuch haben Sie sich hochambitioniert gekauft und dann doch nie (zu Ende) gelesen?

Ich glaube, alle Akademiker*innen haben nur in ihrer Studentenzeit Bücher wirklich von Anfang bis Ende gelesen.

Mit welcher Theorie würden Sie versuchen, ein Date zu beeindrucken?

Das Problem mit wissenden Frauen ist nach wie vor, dass sie enorm abschreckend wirken. Während die patriarchale Begehrensstruktur der männlichen Sprecherposition endloses Theoriegeplänkel gestattet – oder abverlangt – müsste ich, soll das Date in erster Linie der erfolgreichen Triebbefriedigung dienen und somit so wenig wie möglich abschreckend wirken, folglich eine möglichst einfach zu widerlegende Theorie anbringen. Hier fallen mir zwei Beispiele ein: Die Wirbeltheorie von René Descartes zur Erklärung der Bewegung der Himmelskörper und die Theorie von Martin Schröder, warum Frauen zufrieden sind, wenn sie ohne Lohn für Männer den Dreck wegräumen dürfen.

Von welcher Gesellschaftstheorie kann man am meisten für das Leben lernen?

Da wir nach wie vor in kapitalistischen Gesellschaften leben, ist die Analyse der Produktionsverhältnisse, Kapitalmechanismen und Klasseninteressen ebenfalls nach wie vor von größter Bedeutung und bietet die klarste Ausrichtung der Analyse für Ihre wichtigsten Lebensentscheidungen: Welche Formen von Kapital stehen mir für welche Formen des Lebens zur Verfügung? Vorausgesetzt den ersten Teil der Frage beantworten Sie mit „gar keine“ oder „wenige“, können Sie sich gleich die nächste Frage stellen: Welche Arbeitsverhältnisse bin ich bereit einzugehen, um eine bestimmte Lebensform zu leben? Natürlich braucht man dafür nicht alle drei Bände des „Kapital“ zu lesen, es reicht mit Denkweise und Begriffen vertraut zu sein. Ich finde es beispielsweise immer wieder in höchstem Maß erstaunlich, wie selbstverständlich Studierende eine Arbeitgeber*innenperspektive einnehmen und uneingeschränkt Arbeitsimperativ und Eigentumsverhältnisse verteidigen. Ein wenig Marx-Kenntnisse würden hier schon ausreichen, ein glücklicheres Leben zu führen. Die Fragen, für wen, was, wofür und wie man arbeitet, nutzen jedenfalls mehr als achtsame Tage im Yoga-Kurs. Effektiv im Alltag ist aber auch der Arbeitskampf als Instrument der Lebensgestaltung. Es gibt kein effizienteres Mittel, die unfaire Arbeitsteilung im eigenen Oikos zu beenden als durch die Ausrufung des Generalstreiks – vor allem wenn sich in Ihrer Person Belegschaft und Gewerkschaft vereinen sollten.

Wer hat das schönste Theoriedesign?

Niklas Luhmanns Systemtheorie stelle ich mir als riesige Lavalampe vor, in der die einzelnen autopoietischen Kommunikationssysteme wie die jeweils in einer anderen Farbe gehaltenen Flüssigkeitsblasen aneinanderstoßen und somit Formveränderungen bewirken, aber als eigene Blase immer bestehen bleiben. Alles wird bewegt durch die Wärme der – letztlich vitalistischen – Annahme der Autopoiesis. Nett anzuschauen, plausibel für das Verhalten der einzelnen Systeme/Flüssigkeitsblasen, aber wenn man den Stecker zieht (nicht an die Autopoiesis glaubt), verliert die Theorie/Lavalampe allen Zauber.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten nicht die Theorie der sozialen Welt, sondern die Welt der Theorie anpassen. Für welche würden Sie sich entscheiden?

Da muss man wohl nicht lange überlegen: Der historische Materialismus, aber bitte erst ab dem Moment der Etablierung der klassenlosen Gesellschaft. Dann sehe ich Kollektive in gleichwertigen Produktionsverhältnissen wenige Stunden am Tag arbeiten, um den Rest der Zeit mit dem zu verbringen, was der Neue Materialismus bereithält: Vielfältige Relationen unter Menschen und Tieren in Bewusstsein über ihre metabolische Verbundenheit mit diesem Planeten.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Methoden / Forschung Politische Ökonomie Wissenschaft

Dagmar Comtesse

Dagmar Comtesse ist politische Philosophin und vertritt zur Zeit eine Professur für Fachdidaktik der Philosophie an der Universität Duisburg-Essen.

Alle Artikel

Empfehlungen

Friedrich Lenger

Nutzen und Grenzen einer Ideengeschichte der Politischen Ökonomie

Rezension zu „Capitalism. The Story Behind the Word“ von Michael Sonenscher

Artikel lesen

Matheus Hagedorny

Unklarheit als Tugend

Rezension zu „Nicht wie ein Liberaler denken“ von Raymond Geuss

Artikel lesen

Newsletter