Stephan Lessenich | Nachruf | 09.10.2025
Am Puls der Zeiten
Zum Tod von Claus Offe
[1] „Die in diesem Band zusammengestellten Aufsätze können auf den heutigen Leser schlechterdings nicht anders als befremdlich wirken“:[2] So urteilte Claus Offe vor nunmehr zwanzig Jahren über eine Reihe seiner politisch-soziologischen Beiträge, die zur Zeit ihrer Veröffentlichung in den späten 1960er- und frühen 70er-Jahren auf viele ihrer Leser:innen nicht anders denn faszinierend wirkten. Selbst für mit der zweifelhaften Gnade späterer Geburt gesegnete Sozialwissenschaftler:innen waren Offes damalige Überlegungen zu einer Theorie des „Spätkapitalismus“ noch im Nachhinein bahnbrechend und augenöffnend – den Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen.
Die Mischung aus Bescheidenheit und Selbstdistanzierung, mit der Claus Offe einige Jahrzehnte später auf sein wissenschaftliches Frühwerk zurückblickte, mag einerseits bezeichnend sein für eine intellektuelle Persönlichkeit, die (selbst kein wirklicher Zögling der sogenannten „Frankfurter Schule“) an akademischer Schulbildung ebenso wenig Interesse hatte wie an einer Unterwerfung unter die Logik drittmittelbefeuerter Verbundforschung in der unternehmerischen Universität. Sie dürfte aber auch repräsentativ sein für eine verbreitete Entfremdung der damaligen Protagonist:innen selbst wie der heutigen Gesellschaftswissenschaften insgesamt vom vermeintlichen oder tatsächlichen Geist der übertheoretisierten und fundamentalpolitisierten Zeit der studierendenbewegten Bonner Republik.
Es ist wohl keine historische Übertreibung zu behaupten, dass Claus Offe die bundesdeutsche Wissenschaftsbühne am 8. April 1968 mit einem Paukenschlag betrat. Nach Theodor W. Adornos Auftaktvortrag zum Frankfurter Soziologentag, den der scheidende DGS-Vorsitzende dem Generalthema der Veranstaltung („Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“) widmete, trat in spontaner Lückenbüßerfunktion eine fünfköpfige Riege von Mitgliedern des Frankfurter akademischen Mittelbaus mit einem Referat zum Thema „Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung“ auf. Zu dieser Gruppe, die in der folgenden Debatte und in Personalunion mit Adorno den heiligen Zorn des neugewählten Vorsitzenden Ralf Dahrendorf auf sich zog, gehörte der damals 28-jährige Claus Offe. Auch wenn dieser ex post den „maßlos ambitionierten“ Titel des Gruppenreferats – „unter dem tat man es damals einfach nicht!“ – ironisierte und dessen Inhalt 2021 auf „einige Thesen zur Politischen Soziologie und Politischen Ökonomie der bundesdeutschen Politik und Wirtschaftsgeschichte“ reduzierte,[3] so wird aus den Transkripten und Berichten zur damaligen Diskussion deutlich, dass die nicht professoralen „Frankfurt Five“ den Kongress nicht allein wegen des formalen Bruchs mit der bis dahin gepflegten Standeskonvention der fachgesellschaftlichen Honoratiorentreffen zum Tanzen brachten.
Offe, gebürtiger Berliner und nach Studienbeginn an der Universität zu Köln Soziologiestudent an der Freien Universität Berlin, wechselte nach seinem Diplomabschluss 1965 als Assistent von Jürgen Habermas nach Frankfurt am Main, den er 1971 – nach einem anderthalbjährigen, nachhaltig prägenden Aufenthalt an den US-amerikanischen Eliteuniversitäten Berkeley und Harvard – an das neu gegründete Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation nach Starnberg begleitete. Von dort aus nahm seine professorale Karriere ihren Lauf, die ihn – wer B sagt, muss auch weiterhin B sagen – über Bielefeld und Bremen im Jahr 1995 zurück nach Berlin führte, wo er seitdem lebte.
Rückblickend lassen sich die akademischen Stationen Claus Offes recht klar einerseits mit den von ihm verfolgten, stets der Analyse der gesellschaftshistorischen Strukturdynamiken verpflichteten thematischen Interessen, andererseits mit wechselnden theorieparadigmatischen Orientierungen in Verbindung bringen, die er selbst einmal als Ausdruck eines „frohgemute[n] Eklektizismus“[4] bezeichnet hat. Für die Zeit in Frankfurt und Starnberg kann Offe als unorthodox-spätmarxistischer Theoretiker des demokratisch-kapitalistischen (in der Bundesrepublik zudem: postfaschistischen) Interventionsstaats gelten, als Sozioanalytiker seiner strukturellen Widersprüche und inhärenten Krisenhaftigkeit. Es dürfte nicht zuletzt die originäre theoretische Innovation eines systemtheoretisch inspirierten Neomarxismus gewesen sein, gepaart mit der wissenschaftlichen Faszination für die selbstadaptiven Potenziale der „spätkapitalistischen“ Gesellschaftsformation, die Claus Offe 1975 den Ruf an die Universität Bielefeld einbrachte, wo er gleichsam Tür an Tür mit dem seit 1968 (sic!) dort wirkenden Niklas Luhmann an der (nicht nur zeitlich gesehen) ersten soziologischen Fakultät im deutschsprachigen Raum wirkte. Dort widmete sich Offe vornehmlich einer politischen Soziologie des Arbeitsmarkts und des Wohlfahrtsstaats; dies zunehmend aus einer kritisch-institutionalistischen Perspektive – was ihm wiederum 1988 den Weg an die Universität Bremen und das dort soeben eingerichtete „Zentrum für Sozialpolitik“ bahnte. Kaum dort angekommen, erschütterte die Implosion des Staatssozialismus die Welt, was Claus Offe dazu veranlasste, seine Forschungsinteressen auf die laufenden gesellschaftlichen Transformationen im postsozialistischen Osten Europas zu richten und deren Charakter mithilfe eines breiten sozialwissenschaftlichen Instrumentariums zu ergründen – freilich unter weitgehender Abstraktion von seinen frühen spätkapitalismustheoretischen Erkenntnissen. Ohne die akademische Biografie Offes im Nachhinein übermäßig zu glätten und zu begradigen, wird sich doch sagen lassen, dass diese thematische Reorientierung ihn gewissermaßen dazu prädestinierte, seine universitäre Karriere ab Mitte der 1990er Jahre in Berlin, Hauptstadt des „wiedervereinten“ Deutschlands und Reallabor der neuen und neuesten deutschen Gesellschaftsgeschichte, fortzusetzen. Von 1995 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 zunächst am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität, sodann bis 2012 an der damaligen Hertie School of Governance wurden ihm die wechselhaften, zunehmend krisenförmigen Zustände der Europäischen Union und der spätmodernen Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform zu den wohl wichtigsten wissenschaftlich-politischen Anliegen.
Das theoretisch, konzeptionell und kategorial immer an- und oft geradezu aufregende Werk Claus Offes liegt zum kleineren Teil in monografischer Form, zum weitaus größeren jedoch in Gestalt zahlreicher (fast könnte man sagen: zahlloser) Zeitschriftenartikel und Buchkapitel vor, deren systematische Erschließung und Würdigung noch aussteht.[5] Eine unvollständige Werkausgabe stellen die zwischen 2018 und 2020 im Campus Verlag erschienenen sechs Bände dar, deren stark an Mainstream-Soziologie gemahnenden Titel (à la „Institutionen, Normen, Bürgertugenden“) allerdings den ungemein originellen und erhellenden Charakter von Offes Schriften eher verdunkeln als aufleuchten lassen. Denn normalwissenschaftlich und politisch harmlos kommen die allerwenigsten seiner – älteren wie jüngeren – Texte daher, ähnlich wie auch Claus Offes Auftreten als öffentlicher Soziologe nie anpasserisch und geschmeidig war: Von seiner federführenden Mitwirkung an der legendären, 1961 veröffentlichten Denkschrift des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) „Hochschule in der Demokratie“ über seine in der gesellschaftspolitischen Konstellation des „Deutschen Herbstes“ riskante öffentliche Positionierung zum Nachruf eines „Göttinger Mescalero“ auf den 1977 von der RAF ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback, die ihm eine veritable mediale Hetzkampagne einbrachte, bis hin zu seiner professionspolitisch für Aufruhr sorgenden Kritik an dem Namensgeber und dessen NS-Verstrickungen anlässlich der Verleihung des Theodor-Eschenburg-Preises durch die Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft im Jahr 2012.
„Wir haben damals intellektuell über unsere Verhältnisse gelebt“, pflegte Claus Offe rückblickend über sich und seinesgleichen – neomarxistische Jungintellektuelle der sozialliberalen Ära der Bundesrepublik – zu sagen. Könnte das heute noch jemand im Feld der akademischen Sozialwissenschaften, ob alt oder jung, von sich behaupten: Die wissenschaftlich-politische Welt wäre eine bessere. Am 1. Oktober ist Claus Offe mit 85 Jahren verstorben.
Fußnoten
- Dieser Text erschien zum 85. Geburtstag Claus Offes in der Zeitschrift SOZIOLOGIE (Heft 2, 54. Jg., 2025, S. 242–245). Wir danken der Redaktion der SOZIOLOGIE für die freundliche Erlaubnis, ihn hier in leicht veränderter Form wieder veröffentlichen zu dürfen.
- Claus Offe, „Vorwort“, in: ders., Strukturprobleme des kapitalistischen Staates: Aufsätze zur politischen Soziologie, veränd. Neuausg., hrsg. von. Jens Borchert / Stephan Lessenich, Frankfurt am Main / New York 2006, S. 7–10.
- Claus Offe, „Akademische Soziologie und politischer Protest. Der Frankfurter Soziologentag 1968“, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Transnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010, Wiesbaden 2012, S. 977–984, hier S. 981.
- David Strecker, „‚Die plötzliche Implosion eines obsoleten Gesellschaftssystems ist ja eine Eventualität, die auch auf der anderen Seite des ehemaligen Eisernen Vorhangs keineswegs auszuschließen ist‘. Claus Offe im Gespräch mit David Strecker“, in: Zeitschrift für Politische Theorie 4 (2013), 2, S. 253–284, hier S. 256. – Nur am Rande: Was für eine Aussage, aus der globalpolitischen Konstellation des Jahres 2025 gesehen!
- Mit Blick auf Offes Entwurf einer Theorie des „Spätkapitalismus“ habe ich mich gemeinsam mit Jens Borchert um eine strukturierte und strukturierende Aufarbeitung bemüht, vgl. Jens Borchert / Stephan Lessenich, Claus Offe and the Critical Theory of the Capitalist State, New York / London 2016.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.
Kategorien: Arbeit / Industrie Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Kritische Theorie Soziale Ungleichheit Wissenschaft
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