Grit Straßenberger | Rezension |

Münchner Anarchorepublikanismus

Rezension zu „ad Gustav Landauer. Homme de lettres und Edelanarchist“ von Mathias Lindenau

Mathias Lindenau:
ad Gustav Landauer. Homme de lettres und Edelanarchist
Deutschland
Hamburg 2023: Europäische Verlagsanstalt
180 S., 18,00 EUR
ISBN 978-3-86393-156-8

In einem Brief an den Lyriker Emanuel von Bodmann schreibt Gustav Landauer (1870–1919) am 18.10.1912 über sich: „[D]aß ich etwas unüblich bin und in kein Schubfach hineinpasse, kommt daher, daß ich weder ein Agitator noch ein Dichter bin, sondern eine Synthese von beidem“ (S. 7). Mit dieser Selbstbeschreibung seines Protagonisten beginnt Mathias Lindenau sein Porträt des „Edelanarchisten“ Gustav Landauer. Das Leitmotiv dieser elegant geschriebenen Werk- und Lebensgeschichte lautet „Synthese“. Landauer war zeitlebens auf der Suche nach Synthesen: zwischen Sozialismus und Anarchismus, Revolution und Ordnung, Freiheit und Gemeingeist, Selbstbestimmung und Erziehung, Politik und Kultur. Noch sein letztes politisches Engagement als aktives Mitglied der Münchner Räterepublik, zu deren zentralen Akteuren er gehörte und in der er bis zu seiner Ermordung durch Freikorpssoldaten am 2. Mai 1919 als „Volksbeauftragter für Volksaufklärung“ wirkte (S. 20), zeigt den Versuch, politische Grundüberzeugungen in praktische Politik zu übersetzen: Der Pazifist sah in jeder Gewalt das Einfallstor für Despotie und Autorität, schloss aber militärische Mittel nicht aus, um die Revolution zu verteidigen; der Anarchist kämpfte für die Freiheit und unterstützte zugleich die „Pressezensur, um Falschmeldungen, Hetze und dergleichen von vornherein zu unterbinden“; und als „sich das Rektorat der Universität München weigerte, die öffentlichen Universitätsmitteilungen dem Revolutionären Hochschulrat zur Kontrolle vorzulegen“, schränkte der Aufklärer in seiner Funktion als Kultusminister die Hochschulautonomie massiv ein (S. 21).

Landauers Changieren zwischen konträren Ideologien und politischen Normen wurde in zahlreichen Bindestrich-Kennzeichnungen zu fassen gesucht. Er selbst bezeichnete sich als „Anarcho-Sozialist“ (S. 11); andere sahen in dem „utopischen Sozialisten“ einen „revolutionären Romantiker“ (Eugen Lynn), „konservativen Revolutionär“ (Michael Matzigkeit) oder „militanten Anarchisten“ (Michael Löwy) (S. 7). Auch die üblich gewordene Lesart eines „libertären Anarchismus“ schwankt zwischen individualistischen und kommunitaristischen Interpretationen (S. 32, 127). Mathias Lindenau fügt diesen Bindestrich-Zuordnungen eine weitere hinzu. Für ihn ist Landauer ein republikanischer Denker oder, genauer gesagt, ein „republikanischer Anarchist“. Mit dieser originären Deutung geht Lindenau deutlich auf Distanz zur bisherigen Landauer-Rezeption, die in ihm vieles, aber keinen Republikaner gesehen hat. Zugleich ist damit der systematische Anspruch verbunden, Landauers ungewöhnliche Verknüpfung konfligierender ideologischer Motive politiktheoretisch zu verklammern: Seine „Sozialismuskonzeption als republikanisch eingefärbten Anarchismus zu verstehen“ bietet eine Erklärung, „warum Landauers Synthese von individueller Freiheit und freiwilliger Gebundenheit als zentrales Thema seiner Überlegungen hervortritt“ (S. 32).

Dieses Etikett ist durchaus gut gewählt. Der Republikanismus ist eine politische Theorietradition besonderer Art. Unter den großen politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts – Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus – kommt er nicht vor. Wenn man ihn darin verorten wollte, so wäre er am ehesten im Übergangsbereich von Sozialismus und Liberalismus zu suchen. Berührungspunkte gibt es freilich auch mit dem Konservatismus, etwa im Hinblick auf das angenommene Bedürfnis des Menschen nach Stabilität und seine institutionell gestützte Angewiesenheit auf intakte Sozialbeziehungen. Aber auch mit radikaldemokratischen Ansätzen teilt der Republikanismus zentrale Überzeugungen, wie die vom grundsätzlich kontingenten und konflikthaften Charakter des Politischen. Mit Blick auf diese disparaten ideologischen Verschwisterungen haftet dem Republikanismus selbst etwas Anarchisches an: Er wird zwar von konkurrierenden Theorietraditionen ideenpolitisch instrumentalisiert, besitzt in der eigenwilligen Verknüpfung eines emphatischen politischen Freiheitsverständnisses mit einer starken, die Individuen (ver)bindenden Tugendkonzeption aber zugleich einen widerständigen Kern, der sich weltanschaulichen Vereinnahmungen entzieht. Für politische Denker, die sich in das enge Korsett ideologischer Formationen nicht einfügen wollen, eröffnet der Republikanismus somit einen politiktheoretischen Zufluchtsraum. Aus Sicht von Mathias Lindenau hat der politische „Außenseiter“ und theoriepolitische Grenzgänger Gustav Landauer hier ein Zuhause gefunden.

Lindenau geht seine republikanische Deutung von Landauers Anarchismus in vier Schritten an: Im einleitenden Kapitel werden Leben und Wirken von Landauer knapp beschrieben, die Rezeption seines Werkes aufgezeigt und die Konzeption des Buches vorgestellt. Bereits hier markiert Lindenau zentrale Punkte, die seine republikanische Lesart stützen: Landauers „lebenslange Leidenschaft für Theater, Musik und vor allem Literatur“ (S. 8) und seine Überzeugung, „durch das Theater einen erzieherischen Wandel beim Proletariat initiieren zu können“, fanden demnach „ihren Ausdruck in seiner Vorstellung vom Sozialismus als Kulturbewegung, die vom Individuum ihren Ausgang nimmt“ (S. 17). Zum republikanischen Profil gehört Lindenau zufolge aber auch Landauers frühe Abkehr von der SPD, deren „starre, hierarchische Parteistruktur“ (S. 10) er als „autoritäre Herrschaft im linken Gewand“ (S. 12) empfand. Der enttäuschte Sozialdemokrat und radikale Parteienkritiker Landauer suchte nach einem alternativen „Ordnungsmodell“, das für die „anarchistische Gesellschaft“ taugt (S. 32 f.), und Lindenau zufolge mündete diese Suche in einer „republikanisch verstandene[n] Demokratiekonzeption, welche die Rätedemokratie mit dem Genossenschaftswesen verbindet“ (S. 34).

Die beiden in der Einleitung angelegten republikanischen Interpretationspfade schreitet Lindenau in den nächsten zwei Kapiteln, die auch das Kernstück des Büchleins bilden, ausführlich ab. Unter dem Titel „Sozialismus als Kulturbewegung“ werden Landauers politische Anthropologie, die von ihm ausgestellte Avantgardefunktion der Kulturschaffenden und seine Überlegungen zur Macht der Sprache für gesellschaftliche Veränderungen vorgestellt. Für Lindenau spiegelt sich in Landauers Grundannahme, dass es einer „politischen Kultur“ bedarf, die über starke Partizipationsanreize „eine sozio-moralische Fundierung ihrer Bürgerinnen und Bürger bewerkstelligt“ (S. 36), „die republikanische Überzeugung [wider], dass der Mensch über das Vermögen zur Tugendhaftigkeit verfügt, die allerdings durch eine geeignete Erziehung und (Selbst-)Bildung entfaltet werden muss“ (S. 37). Lindenau erkennt hier Aristoteles’ Auffassung des Menschen als ein gemeinschaftsbildendes zoon politikon und sprach- wie vernunftbegabtes zoon logon echon wieder, das zu gutem Handeln in einem gerecht eingerichteten Staat befähigt ist. Zur Vorstellung vom Menschen als egoistischem Nutzenmaximierer, wie sie Thomas Hobbes im Leviathan entworfen und der libertäre Strang des Liberalismus in seinen atomistischen Freiheitskonzeptionen weiter ausgeführt hat, bleibt Landauer demnach ebenso klar auf Distanz wie gegenüber der sozialistischen Konzeption des „neuen Menschen“. Folgt man Lindenau, dann geht es Landauer um die „Wechselwirkung zwischen der Individualität des Menschen und seiner Existenz als Gemeinschaftswesen. Denn ‚wahre Gemeinschaft kann es nur in der Freiheit geben; und Freiheit der Person wiederum ist nicht möglich‘, wenn ‚Gemeinschaft und Gemeinschaftseinrichtungen‘ fehlen“ (S. 40).

Wie Lindenau zeigt, verbindet Landauer mit der von ihm propagierten Idee vom Sozialismus als „Kulturbewegung“ auch eine Reihe von praktischen Vorschlägen, etwa die „Reduzierung der Arbeitszeit“ (S. 42). Die dadurch gewonnene Mußezeit soll jedoch nicht für bloße Erholung oder sinnloses Konsumieren verbraucht werden, sondern in die kulturelle (Selbst-)Bildung investiert werden. Das Theater avanciert hier zur republikanischen „Bildungsanstalt des Volkes“ par excellence (S. 52). In der Pointierung von Lindenau wird das Theater „zu einer Art Vorhof des Politischen, weil es Zusammengehörigkeitsgefühl stiftet und die Menschen dort die Identität als Gemeinschaft erfahren können“ (S. 49). Durch die Inszenierung werde ein „bleibender Eindruck beim Publikum […] hinterlassen“, eine „ästhetische Empfindung im Publikum“ geweckt (S. 51) und, wie es Landauer selbst ausdrückt, „die verkrusteten Schollen der Herzen und Hirne“ (S. 52) derart gelockert, dass die politische Reflexions- und Urteilsfähigkeit der Menschen nachhaltig befördert wird. Trotz gegenteiliger Beteuerungen von Landauer, die „Kunstschaffenden“ nicht „als Helfer- oder Rettergestalten zu überhöhen“ (S. 57), sieht er sie in einer politischen Führungsrolle. Lindenau zitiert hier aus Landauers „Ansprache an die Dichter“: „Der Dichter ist der Führer im Chor, er ist aber auch […] der herrlich Isolierte, der sich gegen die Menge behauptet. Er ist der ewige Empörer.“ (S. 54)

Im anschließenden, „Republikanischer Anarchismus“ überschriebenen Kapitel wird das Thema fortgeführt. Lindenau kann überzeugend zeigen, dass Landauer in seiner Verknüpfung von „Utopie und fortwährender Revolution“ mit einer kommunitaristischen Staatskritik die „Kunstschaffenden“ nicht als autoritäre Elite vorstellt, die über einen normativen Masterplan das politische Handeln herrschaftlich reglementiert, sondern als „beispielgebende Avantgarde“, die das „Mögliche und Machbare“ im „Noch-Nicht-Bestehenden“ sichtbar macht und darüber einen politischen Handlungsraum für Neues eröffnet (S. 88). Lindenau erkennt hier eine konzeptionelle „Ähnlichkeit zu Hannah Arendts Begriff der Natalität, der menschlichen Fähigkeit, einen Anfang zu setzen und zu handeln“ (S. 88 f.). Die Bezüge zu Arendts freiheitlichem Republikanismus bleiben indes etwas lose. Das liegt neben sachlichen Differenzen zuvorderst an dem politiktheoretischen Systematisierungsgefälle, das in der Kürze von Lindenaus knapper Darstellung kaum überbrückt werden kann. Arendt entwickelt ihre starke Auffassung des ideell-konstitutiven Beitrages von Dichtung, Literatur und politischer Theorie zu politischer Praxis innerhalb einer performativen Konzeption des Politischen, die ein dramaturgisches Öffentlichkeitsmodell und einen narrativen Politikbegriff mit einem methodisch durchaus ambitionierten Konzept „exemplarischer Gültigkeit“ (Kant) verbindet. Dieses analytische Niveau erreicht Landauer in seinen politischen und politiktheoretischen Syntheseversuchen nicht.

Die republikanische Stoßrichtung von Landauers herrschafts- und bürokratiekritischer Staatsauffassung kann Lindenau demgegenüber präzise aufzeigen. In klarer Abgrenzung zu „Max Webers Formel vom Staat als einem legitimen Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“ (S. 102) stellt Landauer den Staat als ein politisches Bündnis von Freien und Gleichen vor, das ganz wesentlich von dem „verbindenden Geist zwischen den Menschen“ (S. 114) getragen wird. Im „Gemeingeist“ sieht Lindenau das sozio-moralische Fundament von Landauers utopischem Entwurf der „zukünftigen Gesellschaft“ als „eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften; ein Bund von Bünden von Bünden; ein Gemeinwesen von Gemeinschaften von Gemeinden; eine Republik von Republiken von Republiken“ (S. 117). Und obgleich man geneigt ist, diese Utopie einer herrschaftsfreien Ordnung der Freiheit etwas näher an dem zivilgesellschaftlich-pluralistischen Ansatz des Kommunitaristen Michael Walzer zu sehen als an Hannah Arendts freiheitlichem Republikanismus, so hat Lindenaus entschiedenes Plädoyer, den anarchistischen Denker der Theorietradition des Republikanismus zuzuschlagen, doch einen unzweifelhaft positiven Effekt. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die im Eifer des ideenpolitischen Konflikts in Vergessenheit geratenen republikanischen Schnittpunkte zwischen einem pluralistischen Kommunitarismus und einem konfliktaffinen Liberalismus.

Im abschließenden Kapitel „Zur Aktualität Landauers“ macht Mathias Lindenau noch einmal sein zentrales Anliegen stark: Das Werk des gegen herrschaftliche Verkürzungen des Politischen rebellierenden Anarchisten Gustav Landauer gehört zu den bisher weitgehend unentdeckten Schätzen im Archiv der politischen Ideengeschichte. Diesen Schatz zu heben, ist aus Lindenaus Sicht nicht nur ein politiktheoretisch attraktives Unternehmen, um das anarchische Potenzial des Republikanismus gegenüber allzu harmonischen Rezeptionen auszustellen, sondern habe auch einen krisendiagnostisch-therapeutischen Mehrwert. Zwar biete Landauer keine „Patentrezepte im Umgang mit soziopolitischen Herausforderungen“ und habe daher all jenen „die nach eindeutigen Lösungsvorschlägen“ für politische Dilemmata suchen, „wenig zu sagen“ (S. 143); aber sein „republikanisch eingefärbter Anarchismus“ (S. 17), der sozialistische mit liberal-demokratischen Ansätzen verbindet, eröffne eine alternative Perspektive auf die Möglichkeit „einer Mitbestimmungsdemokratie und lebendigen Zivilgesellschaft“ (S. 146). „Gerade in Zeiten kollektiver Depression“ fordere Gustav Landauer dazu auf, „nicht einfach bei einer resignativ-pessimistischen Rekonstruktion der Gegenwart stehenzubleiben“ (S. 148), sondern gemeinsam das Wagnis einzugehen, über die politische Verfasstheit der modernen Gesellschaft neu nachzudenken.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Bildung / Erziehung Demokratie Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie Kultur Lebensformen Politische Theorie und Ideengeschichte Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen

Grit Straßenberger

Grit Straßenberger ist Professorin für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn.

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