Thomas Goll | Essay |

Politische Bildung im Lichte der Weimarer Erfahrung

Baustein einer wehrhaften Demokratie?

Die Republik von Weimar war zwar keine Demokratie ohne Demokraten, aber sie scheiterte doch angesichts der sich zuspitzenden Krisen Ende der 1920er- und zu Beginn der 1930er-Jahre nicht nur an der zerklüfteten politischen Kultur und der damit einhergehenden Kompromissunfähigkeit der politischen Parteien, sondern auch an mangelnder Widerstandsfähigkeit ihrer Bürgerschaft und vor allem ihrer Eliten gegenüber antidemokratischen Versuchungen.[1] Begünstigt wurde dieses Versagen durch fatale Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung, die deren Aushöhlung und damit die scheinbar legale Selbstzerstörung der Demokratie ermöglichten.[2]

In dem vorliegenden Beitrag gehe ich vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrung in sechs Thesen der Frage nach, inwiefern diese Zusammenhänge den politischen Akteuren der jungen Bundesrepublik von Anfang an bewusst waren und ob sie gerade deshalb die politische Bildung als Parteinahme für eine wehrhafte Demokratie verstanden und ausbauten. Dabei diskutiere ich auch, was das für die sich damals etablierende politische Bildung als Demokratiebildung und das gegenwärtige Verständnis derselben bedeutete beziehungsweise bedeutet.

These 1: Die Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik diente der politischen Bildung der Nachkriegszeit bei ihrem Auf- und Ausbau als Negativfolie, wie man es nicht machen sollte. Man hatte aus Weimar „gelernt“.

Wie gerade skizziert, bildete insbesondere die Deutung des fehlenden bürgerschaftlichen Rückhalts der Weimarer Demokratie einen Ankerpunkt des Nachdenkens über die Bestandsvoraussetzungen einer Demokratie in der jungen Bundesrepublik.[3] Dazu hätte es jedoch eines Konsenses darüber bedurft, was politische Bildung sein und leisten sollte. Jedoch war seinerzeit sogar der Versuch, das Verfassungsgebot (Art. 148 WRV), ein Pflichtfach Staatsbürgerkunde mit demokratischem Leben zu erfüllen, gescheitert.[4] Das Fach war schlicht und ergreifend „konzeptionell darauf gar nicht ausgerichtet“, der Demokratie eine Stütze zu sein.[5] Insgesamt kann man mit Joachim Detjen folgende Mängelliste der politischen Bildung in der Weimar Republik formulieren:

„Erstens: Es gelang nicht, die Staatsbürgerkunde als eigenständiges Schulfach zu etablieren.

Zweitens: Die Konzeption der Staatsbürgerkunde war didaktisch fehlkonstruiert. Sie zielte nicht auf den mündigen Demokraten, sondern auf den sich unterordnenden und opferbereiten Staatsbürger.

Viertens: Eine gefühlsbetonte Deutschkunde instrumentalisierte die für politische Bildung geeigneten Fächer für ihre Zwecke.

Fünftens: Die für eine demokratische politische Bildung geeigneten außerschulischen Institutionen waren zu schwach.“[6]

Nimmt man diese Mängelliste und misst an ihr die politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland, dann kann man die Situation der politischen Bildung heute insgesamt als erfolgreichen Lernprozess verstehen, auch wenn man nicht mit allem gleichermaßen zufrieden sein wird und kann:

In sämtlichen Bundesländern gibt es – bei aller Kritik an den Stundentafeln und am Fächerzuschnitt[7] – ab der Sekundarstufe I ein identifizierbares Unterrichtsfach als Ankerfach der politischen Bildung, sei es als eigenständiges Fach (Politik, Sozialkunde usw.), sei es im Fächerverbund (Wirtschaft-Politik, Gesellschaftslehre usw.). Politische Bildung findet sich zudem als integraler Bestandteil des Faches Sachunterricht in der Grundschule. Darüber hinaus besteht das erklärte Ziel der politischen Bildung in der Erziehung zur Mündigkeit,[8] auch wenn sich in der je unterschiedlichen Akzentuierung des Begriffs die Heterogenität der Disziplin widerspiegelt. Anders als in der Weimarer Republik ist die politische Bildung zudem nicht zu Gunsten der historischen Bildung marginalisiert, auch wenn das Fach Geschichte in den meisten Bundesländern einen größeren Anteil an den Stundentafeln hat.[9] Im Zentrum der politischen Bildung steht heute die Entwicklung der politischen Urteilsfähigkeit, wie unter anderem an ihren Kompetenzmodellen nachweisbar ist.[10] Daran ändert auch eine gegenwärtig auszumachende Wiederentdeckung der Emotionalität in der politischen Bildung nichts.[11] Schließlich verfügt die politische Bildung mittlerweile über einen beeindruckenden Institutionalisierungsgrad.[12] Das Ringen um das Demokratiefördergesetz[13] und dessen zumindest vorläufiges Scheitern zeigen jedoch, dass ihre ideelle und finanzielle Förderung keine Selbstläufer sind.

These 2: Schon Carlo Schmid entfaltete vor dem Hintergrund der Diktaturerfahrung und der Selbstaufgabe der Weimarer Republik im Parlamentarischen Rat die mit der wehrhaften Demokratie verbundenen Herausforderungen für die politische Bildung. Die heutige Situation der politischen Bildung im Ringen um ihre Präventionsaufgabe ist hier bereits angedeutet.

„Meine Damen und Herren! Es ist uns aufgegeben worden, ein Grundgesetz zu machen, das demokratisch ist […]. Was bedeutet das? Welche allgemeinen Inhalte muß danach das Grundgesetz haben […]? Was heißt denn eigentlich bei Verfassungen ,demokratisch‘? Gerade heute gefällt man sich darin, die Demokratie ,weiterzuentwickeln‘, indem man ,progressistische‘ Demokratien erfindet. […] Das Erste ist, daß das Gemeinwesen auf die allgemeine Gleichheit und Freiheit der Bürger gestellt und gegründet sein muß […]. […] Nun erhebt sich die Frage: Soll diese Gleichheit und Freiheit völlig uneingeschränkt und absolut sein, soll sie auch denen eingeräumt werden, deren Streben ausschließlich darauf ausgeht, nach der Ergreifung der Macht die Freiheit selbst auszurotten? Also: Soll man sich auch künftig so verhalten, wie man sich zur Zeit der Weimarer Republik zum Beispiel den Nationalsozialisten gegenüber verhalten hat? […] Ich für meinen Teil bin der Meinung, daß es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, daß sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. […] Ja, ich möchte weiter gehen. Ich möchte sagen: Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muß man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“[14]

Mit diesen seither vielzitierten Worten begründete Carlo Schmid im Rahmen der Beratungen des Parlamentarischen Rates das Prinzip der wehrhaften Demokratie und das damit verbundene Arsenal der rechtlichen Möglichkeiten zur Abwehr von Angriffen auf die Verfassungsordnung. Dieses umfasst unter anderem die folgenden Artikel des Grundgesetzes:

  • Art. 1 GG: Unantastbarkeit der Würde des Menschen und unmittelbare Rechtsgeltung der Grundrechte.
  • Art. 2 GG: Allgemeiner Freiheitsgrundsatz und seine Schranken.
  • Art. 5 GG: Freiheit von Lehre und Forschung bei gleichzeitiger Treue zur Verfassung.
  • Art. 9 GG: Verbot von Vereinigungen, die gegen die Verfassung kämpfen.
  • Art. 18 GG: Verwirkung bestimmter Grundrechte, wenn diese im Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht werden (z.B. Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit).
  • Art. 19 GG: Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte.
  • Art. 21 GG: Möglichkeit zum Verbot von Parteien, wenn nachgewiesen werden kann, dass es ihr Ziel ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen oder zu beeinträchtigen.
  • Art. 79 GG: Unterbindung von verfassungsdurchbrechenden Gesetzen und Ewigkeitsklausel (absoluter Schutz der Staatsstrukturprinzipien).[15]

Neben diesen Grundgesetzbestimmungen finden sich auch im Strafgesetzbuch Regelungen zum Schutz des Staates (hier in Auswahl):[16] Hochverrat (§ 81 StGB), Verfassungshochverrat (§ 92 StGB), Propagandadelikte (§ 86 StGB) usw. Besonders aktuell ist die Frage, welche Konsequenzen es zum Beispiel für Beamtinnen und Beamte in Brandenburg und darüber hinaus hätte, Mitglied der Alternative für Deutschland (AfD) zu sein, nachdem der Verfassungsschutz in Brandenburg die Partei als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ eingestuft hat.[17] Damit ist auch der sogenannte „Radikalenerlass“ wieder Gegenstand politischer Beratungen, denn nach dem Extremistenbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (1975) haben Beamtinnen und Beamte in Konsequenz des Art. 33 Abs. 4 GG dem Staat gegenüber eine besondere Loyalitätsverpflichtung, da sie in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Allerdings reicht nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (1993) die bloße Mitgliedschaft in einer extremistischen Vereinigung für eine Entlassung aus dem Dienstverhältnis nicht aus. Vielmehr müsse zum Beispiel bei Lehrkräften nachgewiesen werden, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler indoktrinieren oder sich konkret verfassungsfeindlich äußern.[18] Dienstrechtliche Möglichkeiten im Umgang mit Verfassungsfeinden sind also in Konsequenz der Weimarer Erfahrungen in der bestehenden Verfassungsordnung durchaus vorhanden. Allerdings gelten auch im Umgang mit Gegnern der Staatsordnung die Regeln des demokratischen Verfassungsstaats.

These 3: Die Ausdifferenzierung der politischen Bildung und der Streit um sie in der Phase vor dem Beutelsbacher Konsens zeigt eine deutliche Konfliktlinie zwischen den affirmativen fachdidaktischen Positionen mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Kern und den kritischen Positionen der „Weiterentwickler“.

Dass politische Bildung immer eine umkämpfte normative Grundlage hat, lässt sich besonders deutlich an ihrer Polarisierungsphase vor dem Beutelsbacher Konsens ablesen. Mit der Etablierung der Neuen Linken in den 1960er-Jahren waren auch Fragen an die politische Bildung verbunden, die Joachim Detjen wie folgt zusammenfasst:

„Erstens: Soll die politische Bildung die bestehende Ordnung stabilisieren oder zu ihrer Überwindung aufrufen? Soll sie also für die Erhaltung oder für eine grundlegende Veränderung der bestehenden Verhältnisse plädieren? Zweitens: Soll die politische Bildung die bestehende Ordnung als im Grunde illegitimen, weil aufhebbaren Herrschaftszusammenhang oder als legitimen Rahmen für die Bemühungen um das Gemeinwohl darstellen? Drittens: Soll die politische Bildung für eine auf staatliche Ordnung beschränkte Demokratie oder für eine Demokratisierung möglichst aller gesellschaftlichen Bereiche eintreten?“[19]

Wie unschwer zu erkennen, ist hier die von Carlo Schmid aufgeworfene Frage nach der inhaltlichen Füllung des Demokratiebegriffs angesprochen:[20] Die Debatte darum, für deren ausführliche Darstellung hier weder Zeit noch Raum ist, prägte die politisierte fachdidaktische Auseinandersetzung der frühen 1970er-Jahre, in der sich Verfechter einer Orientierung an der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und einer kritischen Demokratietheorie gegenüberstanden. Die politische Grundsatzfrage war die nach „Systemstabilisierung“ versus „Systemveränderung“.[21] Sie endete scheinbar mit einer Tagung 1976 mit dem Ergebnis eines Konsenses.

These 4: Der Beutelsbacher Konsens hat diese Konflikte nur oberflächlich entschärft, nicht aber grundlegend beseitigt. Sie traten seither immer wieder zutage und sind auch erneut virulent.

Wenn der Beutelsbacher Konsens heute zu den „zentralen Referenzpunkten“ der politischen Bildung in Deutschland gehört,[22] der zum Beispiel regelmäßig in amtlichen Verlautbarungen (wie den Curricula der Bundesländer) zitiert wird, dann darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die seinerzeit erzielte Einigung trotz ihres Namens keinesfalls unumstritten ist (etwa mit Blick auf dessen Formulierungen). Das hängt einerseits mit dem Protokollcharakter des Textes zusammen, andererseits mit dessen fehlender förmlicher Verabschiedung. Er wurde von Hans-Georg Wehling, einem Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg, verfasst. Wehling formulierte die drei Grundsätze – Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot, Gebot der Förderung von Analyse- und Interessenvertretungskompetenz –, von denen er den Eindruck hatte, dass sie unter den auf der Tagung anwesenden Fachdidaktikern unstrittig seien, weil niemand ihnen widersprochen hatte. Eine Abstimmung über dieses Protokoll gab es jedoch seinerzeit nicht.[23] Daher ist es auch alles andere als eine rhetorische Frage, ob man den Beutelsbacher Konsens überhaupt braucht.[24] Vielmehr brechen sich die durch die Konsenssätze scheinbar stillgelegten Konflikte in der Diskussion wieder Bahn.

Für anhaltende Auseinandersetzungen sorgen dabei insbesondere die Fragen des Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) und zur Weiterentwicklung der Demokratie. So wirft zum Beispiel Widmaier denjenigen, die Projektmittel der Demokratieförderung an das Bekenntnis zur fdGO binden wollen, vor:

„Die diskursive gesellschaftliche Debatte über eine Weiterentwicklung der Demokratie wird durch eine definitorische Festlegung erheblich eingeschränkt, wenn die fdGO als Paradigma der Demokratieförderung gesetzt würde. Alternative (vor allem auch kritische) Auffassungen und Prioritäten in der Interpretation des Grundgesetzes würden zurückgesetzt und andere Möglichkeiten einer pluraleren Demokratieförderung scheinen, je nach Auslegung und förderpolitischer Anwendung des Gesetzes, nur noch eingeschränkt möglich.“[25]

Mit ähnlicher Akzentuierung weist auch Eis auf die Bedeutung institutionalisierter Herrschaftsstrukturen hin, zu denen er auch die fdGO zählt:

„Zentraler Gegenstand Politischer Bildung bleiben somit die Fragen: Inwiefern sind die vergesellschafteten Individuen passive Objekte von Herrschaft oder aktive Mitgestalterinnen und selbstverantwortliche Entscheider ihres eigenen (Zusammen-)Lebens? Und unter welchen Bedingungen sind sie fähig zur (kollektiven) Selbstbefreiung oder wo schlagen die Ideen von ‚Emanzipation‘ und ‚Mündigkeit‘ um in neue verinnerlichte Herrschaftstechniken der Selbstregierung? Politisches Lernen beginnt mit der Infragestellung der hegemonialen sozialen Praxen und der den Menschen zugewiesenen Positionen in ihnen. Bildung zur Mündigkeit als Kritiklernen und emanzipatorische Selbstbildung bleibt somit immer eine prekäre Grenzerfahrung.“[26]

These 5: Politische Bildung, die die fdGO in die Nähe einer Negativnorm rückt, stilisiert sich zur Demokratiehüterin.

Wenn Autorinnen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion schreiben, man brauche „(a)ufrechte Demokratinnen und Demokraten, statt bloße Verfassungsschützerinnen und Verfassungsschützer“,[27] dann rücken sie die fdGO mit derartigen Aussagen in die Nähe einer Negativnorm. Das ist im Sinne einer Selbstermächtigung nur folgerichtig, geht doch mit der Kritik an der Extremismustheorie eine Selbststilisierung der Kritiker:innen zu den wahren Demokratiehüter:innen einher:

„Die Auffassung von politischer Bildung als positivem Verfassungsschutz geht […] mit einem Demokratieverständnis einher, das Demokratie auf den Status quo reduziert und nach einem Top Down-Modell funktioniert, in dem der Staat demokratische Ansprüche setzt. Demokratie müsste aus Perspektive kritischer politischer Bildung demgegenüber als Prozess gedacht werden, der dem Anspruch folgt, demokratische Rechte und Freiheiten stetig zu verbessern und zu erweitern. […]

Begreift man Demokratie als fortlaufenden Prozess der Demokratisierung, müsste dieser logischerweise die gesamte Gesellschaft umfassen. Demnach ist diese etwa hinsichtlich eines partiell festgestellten Mangels an demokratischem Bewusstsein – beispielsweise antisemitische und rassistische Einstellungen – auch als Ganze in den Blick zu nehmen. Die Extremismustheorie behauptet hingegen, es gäbe eine Mitte der Gesellschaft, die völlig unbedenklich im Einklang mit allen demokratischen Ansprüchen sei, während sich alle Probleme an linken und rechten Rändern verorten ließen, die es folglich in gleicher Weise zu bekämpfen gälte. Dass die einen mit ihrer menschenverachtenden Ideologie auf die vollständige Abschaffung der Demokratie zielen und die anderen versuchen, im Kern demokratische Ansprüche auszuweiten, spielt in dieser Logik keine Rolle.“[28]

Man sieht, im Wesentlichen hat man es mit einer Argumentation zu tun, die schon Carlo Schmid kritisch eingeordnet hat und die den Konflikt vor dem Beutelsbacher Konsens wieder auf die Tagesordnung setzt. Dabei ist sie durchaus nicht ahistorisch:

„Die starke Betonung der freiheitlich demokratischen Grundordnung und von deren Schutz als Grundlage politischer Bildungsarbeit drohen zu einem verkürzten und statischen Verständnis von Demokratie und Politik als staatlicher Ordnung zu führen. Die Dynamik der Veränderung eben dieser Ordnung in den letzten 70 Jahren und ihre Möglichkeit zum Wandel für die Zukunft wird unzureichend artikuliert.“ [29]

Zu diskutieren wäre, ob in der seitens der Kritiker:innen behaupteten mangelnden Artikulation der grundsätzlichen Offenheit der bundesdeutschen Demokratie nicht ihrerseits eine erhebliche Verkürzung liegt. Das gilt auch für die Frage, ob nicht die Definition der fdGO und der Gebrauch des Extremismusparadigmas sich mittlerweile aus ihrer historischen Verortung in den 1950er-Jahren emanzipiert haben. Wenn im öffentlichen Diskurs allenthalben die gesellschaftliche Modernisierung postuliert wird, außer in diesem Kontext, dann ist das zumindest begründungsnotwendig. Man hat es aber auf jeden Fall mit einer (Re-)Politisierung der politischen Bildung zu tun.

These 6: Eine politische Bildung, die sich selbst nicht auch als Extremismusprävention begreift, hat nicht verstanden, dass sie sich selbst gefährdet.

Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist und bleibt – trotz des Fehlens einer Legaldefinition und einer „bedauerlichen Unschärfe“[30] – die Geschäftsgrundlage der politischen Bildung. In Fortschreibung früherer Entscheide betont das Bundesverfassungsgericht

„in seiner zweiten NPD-Verbotsentscheidung vom 17.01.2017, dass die fdGO nur diejenigen zentralen Grundprinzipien umfasse, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich seien (BVerfGE 144, 20–367, Rn. 538). Dabei sei die menschliche Würde (Art. 1 GG) ‚Ausgangspunkt‘ und das Demokratieprinzip ‚konstitutiver Bestandteil‘ (Rn. 542). Begriffsbestimmend sei weiterhin das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere das staatliche Gewaltmonopol in Verbindung mit der Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt sowie die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte (Rn. 547).“[31]

Das Grundgesetz ist also durchaus offen für Veränderungen, wie sich unter anderem an den bisherigen Fällen (zum Beispiel der Festschreibung des Widerstandsrechts in Art. 20 GG im Zuge der Notstandsgesetzgebung) zeigen lässt. Gleiches gilt für den Sozialstaat und die Rechtsordnung, abzulesen beispielsweise an der erweiterten gesetzlichen Verankerung von Freiheitsrechten (zuletzt etwa im Namensrecht). Die fdGO steht derartigen Reformen nicht im Weg, im Gegenteil. In ihrem Rahmen sind vielmehr alle Voraussetzungen für eine Weiterentwicklung der Demokratie gegeben. Eine andere Auffassung ist möglich, geht aber selbst an der Entwicklung von Politik, Gesellschaft und politischer Bildung der letzten 70 Jahre vorbei. Es ist nicht ersichtlich, dass die vom Bundesverfassungsgericht definierten Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu einer Statik bundesdeutscher Verfasstheit geführt hätten. Vielmehr sichert die fdGO diejenige Struktur, die demokratische Dynamik und rechtsstaatliche Verfahren in Gestalt des demokratischen Verfassungsstaats miteinander verbindet.

Daraus kann ein doppelter Auftrag für die politische Bildung abgeleitet werden: Zum einen soll sie in der Schule und außerhalb derselben die Bürgerinnen und Bürger im Sinne einer Bildung für den demokratischen Verfassungsstaat ansprechen, zum anderen soll sie gegenüber den politischen Eliten ein für die Werteordnung des Grundgesetzes parteinehmendes konstruktiv-kritisches Widerlager sein. Wenn dies mit Verweis auf die rechtlich gebotene parteipolitische Neutralität von Lehrkräften, auf das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses oder gar das Mündigkeitsziel der politischen Bildung zurückgewiesen wird,[32] dann verfehlt das sowohl den dezidiert demokratischen Auftrag der politischen Bildung, wie er etwa in den Schulgesetzen der Bundesländer formuliert ist, als auch die Lehren aus der Geschichte.

Es wurde und wird von politischen Bildnerinnen und Bildnern weder eine absolute Neutralität im Sinne eines sich selbst ad absurdum führenden Wertrelativismus verlangt, noch die einseitige Parteinahme für eine der im Rahmen der fdGO möglichen Auffassungen einer Weiterentwicklung des demokratischen Verfassungsstaats. Aus der Geschichte des Scheiterns der Demokratie von Weimar konnte – und kann – man sowohl lernen, was es bedeutet, wenn ein Staat seine politische Ordnung aus falsch verstandener Liberalität aushöhlen und durchbrechen lässt, als auch, was die Kompromissunfähigkeit politischer Eliten zur Folge hat: Eine weltanschauliche Neutralität, die ihre eigene Existenzgrundlage negiert, spielt indirekt dem politischen Extremismus in die Hände. Daher hat eine politische Bildung, die sich selbst nicht auch als Extremismusprävention begreift, sondern sich in Widerspruch zu den Grundsätzen der fdGO positioniert, nicht verstanden, dass sie sich selbst gefährdet.

  1. Vgl. zu den unterschiedlichen Lesarten des Scheiterns der Weimarer Republik Nadine Rossol / Benjamin Ziemann, Einleitung, in: dies. (Hg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, S. 9–37, hier S. 11–27.
  2. Zur Erörterung der Frage, welchen Anteil die Verfassungsbestimmungen am Scheitern der Weimarer Republik hatten, vgl. Christian Waldhoff, Folgen – Lehren – Rezeptionen: Zum Nachleben des Verfassungswerks von Weimar, in: Horst Dreier / Christian Waldhoff (Hg.), Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018, S. 289–315.
  3. Vgl. zu den Diskussionen, was politische Bildung in Hinsicht auf Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen der Lernenden zu leisten habe, insbesondere den Überblick über die Beiträge von Arnold Bergstraesser, Theodor Eschenburg und Ernst Fraenkel in Joachim Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland, 2., akt. und erw. Auflage, München 2013, S. 130–136.
  4. Ebd., S. 9.
  5. Ebd., S. 81.
  6. Ebd., S. 83.
  7. Vgl. u.a. Mahir Gökbudak / Reinhold Hedtke / Udo Hagedorn, 5. Ranking Politische Bildung. Politische Bildung im Bundesländervergleich (= Didaktik der Sozialwissenschaften, Working Papers 13), Bielefeld 2022.
  8. Vgl. Thomas Goll, Mündige Bürger/-innen als Ziel der Politikdidaktik, in: Georg Weißeno / Béatrice Ziegler, (Hg.), Handbuch Geschichts- und Politikdidaktik, Wiesbaden 2021, S. 109–122.
  9. Vgl. Mahir Gökbudak / Reinhold Hedtke, Ranking Politische Bildung 2018. Politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I im Bundesländervergleich (= Didaktik der Sozialwissenschaften, Working Papers 9), Bielefeld 2019, S. 11.
  10. Vgl. Wolfgang Sander, Kompetenzorientierung als Forschungs- und Konfliktfeld der Didaktik der politischen Bildung, in: ders. / Kerstin Pohl (Hg.), Handbuch politische Bildung, 5., vollst. überarb. Aufl., Frankfurt am Main 2022, S. 122–132.
  11. So z.B. bei Hendrik Schröder, Emotionen und politisches Urteilen. Eine politikdidaktische Untersuchung, Wiesbaden 2020.
  12. Exemplarisch dafür Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen (Hg.), Demokratiebericht zur Lage der politischen Bildung in Nordrhein-Westfalen – Politische und demokratische Lebenswelten der nordrhein-westfälischen Bevölkerung, Düsseldorf 2021.
  13. Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ), Gesetz zur Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung (Demokratiefördergesetz), 16.02.2023.
  14. Deutscher Bundestag und Bundesarchiv (Hg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle. Bd. 9: Plenum, bearbeitet von Wolfram Werner, München 1996, S. 36.
  15. Vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 23.05.1949.
  16. Vgl. Friedrich von Freier, Art. Staatsschutzdelikte (Version 08.06.2022, 09:10 Uhr), in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, 8. Aufl.
  17. Verfassungsschutz Brandenburg, Einstufungsvermerk Landesverband AfD Brandenburg.
  18. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Sachstand: Der sogenannte „Radikalenerlass“ in der deutschen und europäischen Rechtsprechung, WD 3 – 3000 – 125/17, 07.07.2017.
  19. Detjen, Politische Bildung, S. 176.
  20. Deutscher Bundestag und Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, S. 36.
  21. Detjen, Politische Bildung, S. 170.
  22. Monika Oberle, Art. Beutelsbacher Konsens, in: Sabine Achour / Matthias Busch / Peter Massing / Christian Meyer-Heidemann (Hg.), Wörterbuch Politikunterricht, Frankfurt am Main 2020, S. 30–32, hier S. 30.
  23. Detjen, Politische Bildung, S. 188 f.
  24. Vgl. dazu die Beiträge in Benedikt Widmaier / Peter Zorn (Hg.), Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, Bonn 2016.
  25. Benedikt Widmaier, Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ – ein Leitbegriff für die politische Bildung?, in: POLIS 24 (2020), 4, S. 14–17, hier S. 15.
  26. Andreas Eis, Mythos Mündigkeit? Partizipation und politisches Handeln: Selbst(des)illusionierung als Aufgabe emanzipatorischer Politischer Bildung?, in: Sara Alfia Greco / Dirk Lange (Hg.), Emanzipation. Zum Konzept der Mündigkeit in der Politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2017, S. 22–32, hier S. 32.
  27. Katharina Rhein, Politische Bildung als positiver Verfassungsschutz? – Über ein deprimierendes Demokratieverständnis, in: POLIS 24 (2020), 4, S. 18–19.
  28. Ebd., S. 19.
  29. Susanne Achour / Thomas Gill, Extremismusprävention als politische Bildung?, in: POLIS 24 (2020), 4, S. 11–13, hier S. 13.
  30. Pierre Thielbörger, Art. Freiheitliche demokratische Grundordnung, in: Uwe Andersen / Wichard Woyke (Hg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 8., akt. Aufl., Heidelberg 2021.
  31. Ebd.
  32. Vgl. dazu u.a. Rhein, Politische Bildung als positiver Verfassungsschutz?.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

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Thomas Goll

Univ.-Prof. Dr. Thomas Goll, TU Dortmund, IDIF, Lehrstuhl für integrative Fachdidaktik, Sachunterricht und Sozialwissenschaften und Sprecher des Initiativzentrums für politische Bildung und Demokratie (IZBD) an der TU Dortmund.

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