Verena Frick | Essay | 09.09.2025
Demokratische Resilienz von unten
Warum Städte mehr sind als „Schulen der Demokratie“
Städte werden gern als „Schulen der Demokratie“ bezeichnet. In Einführungswerken in die Kommunalpolitik ist regelmäßig davon zu lesen, dass Städte für die gesamtstaatliche Demokratie gerade deswegen bedeutsam seien, weil Bürger:innen hier wichtige demokratische Fähigkeiten erlernten. Demokratische Praktiken wie die Mitwirkung an politischen Entscheidungsprozessen, das zivilisierte Austragen von Meinungsverschiedenheiten, die oft zähe Suche nach Kompromissen und eine vorurteilsfreie, an Problemlösung orientierte Zusammenarbeit könnten hier zunächst im Kleinen eingeübt werden, bevor sie dann auf der großen politischen Bühne zum Tragen kämen.[1]
Im Kontext der gegenwärtigen Suche nach Ressourcen demokratischer Resilienz in der Bürgerschaft müssten Städte als politische Handlungsräume demnach eine Schlüsselrolle einnehmen: Als „Schulen der Demokratie“ erscheinen sie gleichsam als politische Bildungs- und Sozialisationsanstalten sowohl für resiliente Staatsbürger:innen als auch für das aus der Bürgerschaft hervorgehende künftige politische Führungspersonal. Diese Darstellung hat durchaus eine gewisse Berechtigung, steht doch ein Ministeramt meist nicht am Anfang einer politischen Karriere, sondern folgt oft erst auf lange Phasen der Bewährung in Ortsverbänden, Städträten und Rathäusern. Zudem haben gerade Städte ihre Bürger:innen in den letzten Jahrzehnten durch vielfältige neue Beteiligungsformate wie Bürgerhaushalte, Reallabore oder partizipative Planungsverfahren stärker in die politische Stadtgestaltung eingebunden. Auch zivilgesellschaftliches Engagement ist zweifellos stark lokal verankert, etwa in Vereinen, Freiwilligen Feuerwehren oder städtischen Initiativen.
Und doch ist Skepsis angebracht gegenüber der Tendenz, die Bedeutung der Stadt für demokratische Resilienz allzu schnell auf einen quasischulischen Lernort zu reduzieren. Bei näherem Hinsehen beruht das nicht nur in der Politikwissenschaft populäre Bild der Stadt als „Schule der Demokratie“ nämlich auf fragwürdigen Prämissen: Zum einen stellt es Städte und stadtpolitisches Engagement in ein affirmativ-dienendes Verhältnis zu staatlicher Politik. In der Stadt sollen politische Kompetenzen erworben und demokratische Haltungen internalisiert werden, die primär aus der Perspektive des Staates relevant sind. Ein solches Top-down-Verständnis reduziert Städte damit letztlich auf die Rolle von Unterstützungsbeschaffern für staatliche Maßnahmen. Zum anderen aktualisiert die erzieherisch-pädagogische Semantik, die im Bild von der Stadt als Schule mitschwingt, ein Misstrauen gegenüber der Bürgerschaft, so als ob diese in geschützten Räumen erst zur Politik befähigt werden müsste. Städte erscheinen dann vor allem als Orte, an denen Bürger:innen – gewissermaßen ohne größeren Schaden anzurichten – demokratische Tugenden einüben können, da ihr Handlungsspielraum hier von Vornherein begrenzt ist.
Kurzum: Das Bild von der Stadt als „Schule der Demokratie“ operiert mit jener „subsumtionslogischen Theoriefigur“,[2] für die der Soziologe Helmuth Berking den Stadtdiskurs bereits vor einigen Jahren kritisiert hat: Die Stadt erscheint als untergeordnete und von den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen abhängige Ebene innerhalb eines hierarchischen Staatsaufbaus. Damit verbunden ist eine gleichsam ontologische Unterscheidung politischer Relevanz in wichtig (staatliche Politik) und weniger wichtig (städtische Politik). Es handelt sich dabei um ein im Grunde diminutives Verständnis von Stadt und Stadtpolitik, das die gegenwärtige Rolle von Städten als politischen Handlungsräumen unterschätzt und von einem unterkomplexen Verständnis ihrer Bedeutung für demokratische Resilienz ausgeht.
Wider die Schulmetapher: Zur Neubestimmung der Stadt als politischer Handlungsraum
Tatsächlich zeichnet sich gegenwärtig eine Politisierung von Städten ab, die das Bild von der Stadt als abhängiger, untergeordneter Einheit neu justiert – und zwar in zweifacher Hinsicht:
- Städte treten vermehrt als politische Akteure in Erscheinung, die eigene Gestaltungsansprüche und Selbstverständnisse in Abgrenzung vom Staat formulieren. Sichtbarster Ausdruck dieser Absetzbewegungen ist die Vielzahl transnationaler Netzwerke, die besonders seit den 2000er-Jahren entstanden sind und innerhalb derer Städte weltweit ihr Handeln in unterschiedlichen Politikfeldern koordinieren.[3] Zu den prominentesten dieser Netzwerke zählen jene in den Bereichen Klimaschutz, Menschenrechte und Migration. Innerhalb von Zusammenschlüssen wie C40 Cities Climate Leadership Group oder Eurocities Solidarity Cities tauschen Städte Best-Practice-Lösungen aus und nehmen direkt auf internationale Organisationen Einfluss, ohne Umweg über den Staat. Viele Städte unterhalten heute Referate für internationale Kooperation und engagieren sich in der kommunalen Entwicklungszusammenarbeit. Auch internationale Organisationen und nationale Regierungen fördern gezielt solche Initiativen. In der Völkerrechtswissenschaft ist angesichts dieser Entwicklungen bereits von einer neuen Rolle der Städte als internationalen Akteuren die Rede.[4] Sowie Städte ein Selbstverständnis als politische Akteure ausprägen und neue Bezüge zwischen globaler Politik und lokalem Handeln herstellen, steigt auch die Chance einer veränderten Wahrnehmung ihrer politischen Gestaltungsspielräume. Das verdeutlicht der in der Migrations- und Integrationspolitik seit einigen Jahren europaweit registrierte „local turn“,[5] der die zunehmende Vielfalt städtischer Politik im Umgang mit Flucht, Migration und Integration belegt.
- Zugleich entwickeln sich Städte selbst zu umkämpften Räumen, an die politische Akteure in der Stadt Inklusions- und Teilhabeansprüche richten. So entstanden etwa ab 2008 im Kontext der globalen Finanzkrise und der sie begleitenden Proteste gegen die Austeritätspolitik vor allem in Südeuropa sogenannte „neue Munizipalismen“, die sich gezielt auf die Eroberung städtischer Ämter konzentrierten, um grundsätzliche, gemeinwohlorientierte Veränderungen der Stadtpolitik zu erreichen.[6] Das prominenteste Beispiel ist sicherlich Barcelona, das von 2015 bis 2023 von einer solchen munizipalistischen Wählerplattform regiert wurde und zum Vorbild für Aktivisten aus ganz Europa avancierte.[7] Daneben haben sich unter dem Banner der Forderung nach einem „Recht auf Stadt“ weltweit soziale Bewegungen gegründet, die sich für stadtpolitische Themen wie bezahlbaren Wohnraum, autofreie Innenstädte, Klimaschutz oder die Integration von Migrant:innen engagieren. Gemeinsam ist diesen zivilgesellschaftlichen Initiativen, dass sie an die Städte politische Ansprüche adressieren, ohne damit immer schon die Übertragung auf eine höhere politische Ebene zu intendieren.
Mit Nancy Fraser könnte man sagen, dass die veränderte Rolle von Städten auf ein grundlegendes politisches „misframing“[8] verweist, also auf eine Inkongruenz zwischen den gegenwärtigen Problemen und dem bestehenden rechtlichen und institutionellen Zuschnitt der Handlungsfelder politischer Gemeinschaften, innerhalb derer sie wirksam adressiert werden können. Dieses misframing problematisieren Städte als politische Akteure sowie politische Akteure in der Stadt in zweierlei Hinsicht: In diskursiver Hinsicht brechen sie die überkommene staatliche Rahmung bestimmter Politikfelder auf und behaupten eigenständige städtische Handlungsfähigkeit, wie etwa Barcelonas Bemühungen um technologische Souveränität verdeutlichen.[9] Mit Blick auf die entsprechenden Zuständigkeiten und Kompetenzen zeigen sie, dass die überkommene Aufgabenverteilung zwischen Stadt und Staat sich in wachsendem Maße als inadäquat erweist, um urbane Probleme wie Mietsteigerungen, Segregation oder Luftverschmutzung effektiv und nachhaltig zu bearbeiten.
Sowohl die zunehmende Reklamation eigener Gestaltungsansprüche durch Städte als auch die an sie gerichteten Forderungen von sozialen Bewegungen und Stadtbürger:innen verweisen auf eine notwendige Neubestimmung der räumlichen Bezüge politischen Handelns. Angezeigt scheint eine solche Neubestimmung nicht zuletzt im Kontext des umfassenden Formenwandels der liberal-repräsentativen Demokratie, den man mit Pierre Rosanvallon als „Dezentrierung der Demokratie“ [10] bezeichnen kann. Rosanvallon beschreibt diesen Wandel als einen Prozess, in dessen Verlauf der Wahlakt seine Zentralität für demokratische Praxis einbüßt und es stattdessen zu einer Vervielfältigung demokratischer Formen und Akteure sowie zu einem wachsenden Kreis von Adressaten demokratischer Ansprüche kommt. Diese Dezentrierung der Demokratie ist auch räumlich zu verstehen und verweist auf die Notwendigkeit der Anerkennung distinkter politischer Handlungsräume nicht nur jenseits, sondern auch diesseits des Staates. Es macht, mit anderen Worten, einen Unterschied, wo Politik stattfindet.
Die Stadt ist folglich mehr als eine staatlich-repräsentative Demokratie en miniature. Neben unterschiedlichen Idealvorstellungen von einer demokratischen Stadt[11] existieren auch vielfältige institutionalisierte Demokratieverständnisse, etwa stärker charismatische, konsensuale oder netzwerkartige Formen demokratischen Regierens.[12] Komplementär dazu verweisen die Studien von Daniel Bell und Avner de-Shalit darauf, dass Stadtbürger:innen oft eine distinkte stadtpolitische Identität und Verbundenheit ausprägen, die neben anderen politischen Identitäten wie der nationalen besteht.[13] Politisches Handeln in der Stadt besitzt für die Beteiligten entsprechend einen Eigenwert und sollte – anders als es das Bild von der „Schule der Demokratie“ nahelegt – nicht nur pauschal im strategischen Interesse der gesamtstaatlichen Demokratie beurteilt werden.
Die Stadt als räumliche Lebensform
Die mit der Metapher von der „Schule der Demokratie“ verbundenen Denkpfade führen also auf Abwege und sollten daher verlassen werden. Wie aber kann ein unbefangener Blick auf die spezifischen Ressourcen demokratischer Resilienz in Städten gelingen? Dazu ist es hilfreich, sich zunächst noch einmal des Resilienzbegriffs zu versichern: Resilienz bezeichnet allgemein die Widerstandsfähigkeit eines Systems oder einer Person im Umgang mit Störungen und negativen Einflüssen. Um dies zu bewerkstelligen, erfordert Resilienz eine Lern-, Adaptions- oder auch situativ gebotene Transformationsbereitschaft.[14] Es geht darum, das Handeln den Erfordernissen der jeweils konkreten Lage anzupassen, um Störungen und Bedrohungen abzuwenden und auf diese Weise die Integrität des Systems oder der Person zu wahren. Resilienz umfasst dabei eine relationale und praxeologische Komponente. Insbesondere auf der personalen Ebene ist sie keine einmal erlangte oder immer schon bestehende Eigenschaft, sondern hat wie alle „embedded and relational capacities of ordinary people“[15] eine unverlierbar sozial-emergente Dimension. Es bedarf also spezifischer Kontexte, innerhalb derer Individuen Resilienz erwerben können. Ein solcher Kontext ist der jeweilige Raum, in dem soziale Erfahrungen gemacht werden. Wenn wir also besser verstehen wollen, welche spezifischen Ressourcen demokratischer Resilienz Städte besitzen oder hervorbringen können, müssen wir die Eigenart der Stadt als sozialer Handlungs- und Erfahrungsraum genauer in den Blick nehmen.
Zu diesem Zweck ist es aufschlussreich, die Stadt als eine räumliche Lebensform zu verstehen, die dem Zusammenleben der Menschen, ihren Handlungen und Orientierungen eine besondere städtische Prägung gibt. Lebensformen sind Rahel Jaeggi zufolge „komplex strukturierte Bündel (oder Ensembles) sozialer Praktiken, die darauf gerichtet sind, Probleme zu lösen, die ihrerseits historisch kontextualisiert und normativ verfasst sind“.[16] Man kann sie als Ordnungen menschlichen Zusammenlebens verstehen, die durch Praktiken bestätigt und reproduziert werden und Menschen in Interpretations- und Orientierungszusammenhänge einbinden. Die Stadt als räumliche Lebensform zu verstehen heißt also, den sozialen Interaktionen im städtischen Raum eine spezifische Qualität zuzuschreiben und in ihnen unmittelbare Antworten auf distinkte städtische Herausforderungen zu sehen. Welche Herausforderungen sind es, auf die die städtische Lebensform antwortet?
Im sozialtheoretischen Stadtdiskurs des 20. Jahrhunderts wird diese Frage in der Regel mit Verweis auf das Zusammenleben von Fremden beantwortet. So definiert etwa Richard Sennett Städte als Orte, „an denen Fremde einander regelmäßig begegnen“.[17] Und ganz ähnlich charakterisiert Iris Marion Young die Stadt als „the being together of strangers“.[18] Sennett, Young und viele andere stehen dabei in der Tradition der frühen soziologischen Beschreibungsversuche der modernen Großstadt als neuer Sozialform, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere Georg Simmel und die Vertreter der Chicago School vorgelegt haben. Die Chicagoer Stadtsoziologen um Robert Park suchten die räumliche Besonderheit der Stadt durch das Zusammenspiel der drei Faktoren Größe, Dichte und Heterogenität zu erfassen.[19] Sie waren der Überzeugung, dass das enge Zusammenleben vieler unterschiedlicher Menschen an einem Ort eine neue Qualität sozialer Interaktionen entstehen lässt. Schließlich verlangt das Stadtleben den Einzelnen einiges ab: So sehen sie sich einerseits mit unterschiedlichsten Menschen und Lebensstilen konfrontiert, denen sie aufgrund der räumlichen Dichte der Stadt schwer ausweichen können. Andererseits werden sich die Bewohner:innen im Alltagsvollzug ihrer Interdependenz bewusst, was dazu führt, dass auch viele politische Mobilisierungs- und kollektive Handlungsprozesse in der Stadt ihren Ausgangspunkt nehmen.
Georg Simmel hat beschrieben, wie als Reaktion auf das Zusammenleben unter den Bedingungen verdichteter Heterogenität ein neuer Typus des Stadtmenschen entsteht. Diesen Stadtmenschen charakterisiert er durch die drei Eigenschaften Intellektualität (also eine sachlich-rationale Einstellung gegenüber äußeren Ereignissen), Blasiertheit (eine Art oberflächliche Arroganz) und Reserviertheit (eine innere Haltung der Gleichgültigkeit und Abwendung von äußeren Ereignissen).[20] Für Simmel handelt es sich hierbei um Schutzmechanismen gegen die Zumutungen der Stadt: Wenn kein räumlicher Rückzug und keine äußere, physische Distanz mehr möglich sind, dann treten eine innere Distanz und gleichgültige Toleranz an ihre Stelle, wodurch die Stadt zu einem Ort des Zusammenlebens von Fremden wird.
Die frühen Pionierarbeiten der Stadttheorie verweisen auf eine charakteristische Ambivalenz des städtischen Zusammenlebens: Demnach handelt es sich bei der Gleichgültigkeit, mit der sich die Menschen im städtischen öffentlichen Raum begegnen, zugleich um die Bedingung der Möglichkeit der freien Entfaltung unterschiedlicher Lebensstile. Die moderne Stadt ist somit immer Entfremdungs- und Emanzipationszusammenhang zugleich.[21] Die Tatsache, dass sie sich in der Stadt permanent mit Andersartigem und Fremdem konfrontiert sehen, trainiert die Stadtmenschen im Umgang mit Dissonanz und lässt sie diese besser aushalten. Sennett hat diese Praxis auf den Begriff der „Zivilität“ gebracht. Demnach lehrt die städtische Lebensform die „Fähigkeit, mit hartnäckigen Unterschieden umzugehen“ und fördert damit eine für „komplexe Gesellschaften unerlässliche Kooperationsfähigkeit“.[22] Nicht zuletzt diese mit der städtischen Lebensform verbundene Fähigkeit verhindert, dass das städtische Zusammenleben zu einer Art täglichem Bürgerkrieg mutiert.
Ressourcen demokratischer Resilienz in der Stadt
Folgt man der von Simmel, Sennett und Co. vorgeschlagenen Deutung, dann antwortet die städtische Lebensform auf das Problem, wie die dem unentrinnbaren Nebeneinander unterschiedlicher Menschen auf engstem Raum inhärente Konfliktivität möglichst weitgehend und dauerhaft zivilisiert und ein friedliches und tolerantes Zusammenleben auf Basis von verdichteter Heterogenität ermöglicht werden kann. Wo sich diese Lebensform erfolgreich entfaltet, da zeigen sich spezifische demokratierelevante Erfahrungen, die in Städten gemacht werden können, und die als Ressourcen demokratischer Resilienz angesichts der Polykrise der Gegenwart für die Stadt und darüber hinaus relevant sind:
Städte eröffnen ein Zusammenleben in posttraditionalen Gemeinschaften. Aufgrund der kontinuierlichen Verdichtung von Fremdheit können Stadtbewohner:innen sich von vornherein nicht auf eine gemeinsame Kultur verlassen, sondern müssen ihr Zusammenleben in alltäglichen praktischen Aushandlungsprozessen ausgestalten. Das hat vor allem etwas mit dem Wesen der Stadt als offener politischer Einheit zu tun.[23] Zwar besitzen Städte in administrativer Hinsicht zweifellos Grenzen, in rechtlicher und politischer Hinsicht haben diese jedoch die für Grenzen konstitutive Eigenschaft der Selektivität verloren. In diesem Sinne hat Avner de-Shalit die Stadt einmal mit einem Sieb verglichen: „People come and go, enter and leave, reside and move away.“[24] Städte haben anders als Staaten nicht das Recht, darüber zu entscheiden, wer Mitglied in ihnen wird. Es ist diese Indifferenz gegenüber potenziellen Mitgliedern, die die räumliche Verdichtung von Heterogenität, wie sie für moderne Städte charakteristisch ist, bedingt. Städte bringen auf diese Weise Gegensätzliches in den Modus des Nahen und verdichten soziale Differenzierungen an einem Ort.[25] Sie stehen immer vor der Herausforderung, gesellschaftspolitische Inklusion auf der Basis von Heterogenität und sozialer Differenz zu organisieren, was ihnen in modernen Einwanderungsgesellschaften eine herausgehobene Bedeutung verleiht. Diese sind in besonderem Maße auf solche praxeologischen Gemeinschaftsbildungsprozesse angewiesen, da sie auf substanziellere Gemeinschaftsvorstellungen angesichts zunehmender gesellschaftlicher Heterogenität nicht bauen können, sondern diese vielmehr erst immer wieder neu prozessual aushandeln müssen.
Zugleich ermöglichen Städte Erfahrungen im Umgang mit Transformationsdynamiken. Städte sind allein aufgrund des raumstrukturellen Merkmals offener Grenzen von ständigen Veränderungsprozessen gekennzeichnet. Nicht umsonst wird die moderne Großstadt bereits in ihren frühen sozialtheoretischen Beschreibungen als Laboratorium sozialen Wandels bezeichnet.[26] Die Stadt war in den Augen der Theoretiker der Chicago School auch deswegen ein Laboratorium, weil sich hier die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse der Moderne nicht nur verdichteten, sondern auch etwas genuin Neues hervorbrachten. In ethnografischen Studien über gesellschaftliche Randgruppen zeigten die Mitglieder der Chicago School, dass besonders Krisensituationen Anpassung und Experimente herausfordern und den Individuen praktische Intelligenz und kreative Problemlösungen abnötigen können.[27] Die Stadt wird zu einem Laboratorium sozialen Wandels, weil Erfahrungsdifferenzen und Erfahrungsbrüche der Stadtbewohner:innen konstitutiv für die städtische Lebensform sind und ihre kooperative Verarbeitung Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht. Diese grundlegende Einsicht in eine durch die städtische Lebensform vermittelte Transformationskompetenz hallt auch heute nach, wann immer die Stadt als Laboratorium oder „sozialer Experimentierraum“[28] bezeichnet und auf die „transformative Kraft der Städte“[29] rekurriert wird. Insbesondere die sozial-ökologische Transformation erfordert eine solche individuelle wie kollektive Transformationskompetenz, damit Veränderungen nicht primär als lebensweltliche Verluste erfahren, sondern vorhandene Gestaltungsoptionen als solche erkannt und genutzt werden.
Im Kontext der Verarbeitung von Wandel und Brüchen bringen Städte schließlich neue Praktiken des Gemeinsamen hervor, die angesichts zunehmender gesellschaftlicher Spaltungs- und Desintegrationstendenzen umso dringlicher erscheinen. Es ist kein Zufall, dass gerade unter den räumlichen Bedingungen verdichteter Heterogenität Prozesse kooperativen Handelns entstehen. In der Demokratietheorie wie auch in der sozialen Bewegungsforschung erfährt ein politisches Handeln, das sich mehr an gemeinschaftlichem Miteinander und situativ-konkret gelebten Alternativen als an strategischer Interessendurchsetzung orientiert, seit einiger Zeit vermehrte Aufmerksamkeit.[30] Ohne dass der städtische Kontext dabei eigens reflektiert wird, sind viele der herangezogenen Beispiele, wie etwa die Platzbesetzungen oder der Erfolg munizipalistischer Bewegungen, in städtischen Kontexten verortet. Aber es wäre verkürzt, die Stadt allein als Ausgangspunkt von Protestbewegungen oder alternativen Gemeinschaftsprojekten zu betrachten. Vielmehr werden neuartige Praktiken des Gemeinsamen in vielen Städten gerade durch die enge Zusammenarbeit von institutionalisierter Stadtpolitik, organisierter Zivilgesellschaft und engagierten Bürger:innen ermöglicht. Das gilt insbesondere für die inzwischen zahlreichen urbanen demokratischen Innovationen: Selbsterklärte „Co-Cities“ wie Neapel oder Seoul haben sich etwa auf eine städtische Allmende-Politik verpflichtet und fördern städtische Gemeingüter.[31] Ein anderes Beispiel sind Community Land Trusts (CLTs), die derzeit von vielen europäischen Städten erprobt werden.[32] Dabei handelt es sich um gemeinnützige Stiftungen oder Treuhandgesellschaften, die Boden zum Nutzen der Gemeinschaft erwerben und erschließen. Sie entziehen den Boden auf diese Weise dauerhaft dem Markt, um erschwinglichen Wohnraum und andere Gemeinschaftsgüter wie Nachbarschaftszentren, Gewerbeflächen für lokale Anbieter oder Gemeinschaftsgärten zu fördern. Auf diese Weise kontern Städte ihre allzu einseitige politökonomische Vereinnahmung als „growth machines“.[33]
Diese städtischen Erfahrungen sind besonders relevant in spätmodernen Gesellschaften, die von Migration, gesellschaftlicher Desintegration und sozial-ökologischen Krisen geprägt sind. Empirische Studien verweisen darauf, dass eine aktive Beteiligung in zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Zusammenarbeit mit lokalen Politiker:innen und die Einbindung in lokale Gemeinschaften mit geringerer Unterstützung des autoritären Populismus korrespondiert.[34] Angesichts der großen Bedeutung, die soziale Erfahrungen und Interaktionen für die Ausbildung individueller und kollektiver Resilienz besitzen, sollten die Sozialwissenschaften die Frage nach der demokratisch-normativen Bedeutung bestimmter Lebensformen und ihrer praxeologischen Gelingensbedingungen stärker als bislang auf die Agenda setzen. Anders als es das Bild der Stadt als „Schule der Demokratie“ nahelegt, bedeutet das nicht, die Bedeutung der Stadt immer schon von der gesamtstaatlichen Demokratie her zu denken, sondern sie vielmehr als distinkten demokratischen Handlungs- und Erfahrungsraum zu verstehen. John Dewey hat bereits im Angesicht der Krise in den 1930er-Jahren betont, dass es ein Fehlschluss wäre, sich allein auf das institutionelle Funktionieren der Demokratie zu konzentrieren und dabei zu übersehen, dass Demokratie immer auch in pluralen Lebensformen verankert sein muss: „that it signifies the possession and continual use of certain attitudes, forming personal character and determining desire and purpose in all the relations of life“.[35]
In Zeiten der Polykrise ist diese Mahnung aktueller denn je. Denn Lebensformen sind nicht selbstverständlich, sie können scheitern, wenn ihre Voraussetzungen erodieren oder sie die sozialen Herausforderungen, auf die sie antworten, nicht mehr wirksam adressieren. An Gefährdungen der städtischen Lebensform herrscht kein Mangel, man denke nur an die in vielen Städten manifeste Wohnungskrise sowie, damit verbunden, die zunehmende sozialräumliche Segregation, Kommerzialisierung und Homogenisierung des öffentlichen Raums. Angesichts dessen existieren heute in Städten subtile sozioökonomische Grenzen, die faktische Ausschlüsse bewirken und die Offenheit der Stadt untergraben. Die Verteidigung und Stabilisierung der städtischen Lebensform gegen diese Entwicklungen ist entsprechend eine Aufgabe, die nicht nur die Stadtpolitik, sondern die gesamte Gesellschaft betrifft. Die wehrhafte Demokratie ist entsprechend gut beraten, sich nicht nur auf die Abwehr ihrer Feinde zu konzentrieren, sondern sich auch auf die Voraussetzungen demokratischer Resilienz zu besinnen und diese zu erhalten. Es wäre ein Trugschluss, die Stärke einer Demokratie an den zur Verfügung stehenden institutionell-rechtlichen Kompetenzen zu ihrer Verteidigung abzulesen. Wichtiger ist die Bereitschaft ihrer Bürger:innen, Demokratie auch im Alltag zu leben und ihren Feinden keinen Raum zu lassen.
Fußnoten
- Siehe u.a. Jörg Bogumil / Lars Holtkamp, Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine praxisorientierte Einführung, vollst. überarb., aktual. und erw. Neuausgabe, Bonn 2023, S. 14; Everhard Holtmann / Christian Rademacher / Marion Reiser, Kommunalpolitik. Eine Einführung, Wiesbaden 2017, S. 12.
- Helmuth Berking, „Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen“ – Skizzen zur Erforschung der Stadt und der Städte, in: ders. / Martina Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt am Main / New York 2008, S. 15–32, hier S. 16.
- Barbara Oomen, Decoupling and Teaming up: The Rise and Proliferation of Transnational Municipal Networks in the Field of Migration, in: International Migration Review 54 (2020), 3, S. 913–939.
- Helmut Philipp Aust / Janne E. Nijman, The Emerging Roles of Cities in International Law – Introductory Remarks on Practice, Scholarship and the Handbook, in: dies. / Miha Marcenko (Hg.), Research Handbook on International Law and Cities, Cheltenham 2021, S. 1–15, hier S. 8.
- Marilena Geugjes / Michael Haus / Leonie Jantzer / Svenja Keitzel / Sybille Münch / Georgios Terizakis, Polizei, Politik, Polis. Geflüchtete und Sicherheit in der Stadt, Frankfurt am Main / New York 2024, S. 17 ff.
- Elisabetta Mocca, The Municipal Gaze on the EU: European Municipalism as Ideology, in: Journal of Political Ideologies 28 (2023), 2, S. 143–161; Laura Roth / Bertie Russell / Matthew Thompson, Politicising Proximity: Radical Municipalism as a Strategy in Crisis, in: Urban Studies 60 (2023), 11, S. 2009–2035.
- Adrian Bua / Sonia Bussu, Between Governance-driven Democratisation and Democracy-driven Governance: Explaining Changes in Participatory Governance in the Case of Barcelona, in: European Journal of Political Research 60 (2021), 3, S. 716–737; Markus Kip / Silke van Dyk, Double Democratization and the Politics of Property in Municipalist Barcelona, in: Journal of Political Sociology 2 (2024), 1, S. 48–79.
- Nancy Fraser, Scales of Justice. Reimagining Political Space in a Globalizing World, Cambrigde u. a. 2008, S. 19.
- Hug March / Ramon Ribera-Fumaz, Barcelona: From Corporate Smart City to Technological Sovereignty, in: Andrew Karvonen / Federico Cugurullo / Federico Caprotti (Hg.), Inside Smart Cities. Place, Politics and Urban Innovation, London 2018, S. 229–242.
- Pierre Rosanvallon, Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, übers. von Thomas Laugstien, Hamburg 2010, S. 271.
- Verena Frick, Understanding the Democratic Promise of the City, in: Philosophy and Social Criticism 50 (2024), 10, S. 1591–1611.
- Marlon Barbehön / Michael Haus, Stadt statt Staat? Das politische Subjekt der Stadt und die Stadt als politisches Subjekt, in: Michel Dormal / Jürgen Förster / Edgar Hirschmann / Emanuel Richter / Hans-Jörg Sigwart (Hg.), Personen und Subjekte des Politischen, Baden-Baden 2024, S. 319–342, hier S. 333.
- Daniel A. Bell / Avener de-Shalit, The Spirit of Cities: Why the Identity of a City Matters in a Global Age, Princeton, NJ 2011.
- Tobias Schottdorf, Stressverhältnisse. Eine Analyse demokratischer Theorie und Praxis im flexiblen Kapitalismus, Frankfurt am Main / New York 2022, S. 168 f.
- David Chandler, Beyond Neoliberalism: Resilience, the New Art of Governing Complexity, in: Resilience. International Policies, Practices and Discourses 2 (2014), 1, S. 47–63, hier S. 60.
- Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2013, S. 58.
- Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität [1977], übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 1983, S. 33.
- Iris Marion Young, Justice and the Politics of Difference, Princeton, NJ 1990, S. 256.
- Robert E. Park, The City: Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the Urban Environment [1915], in: ders. / Ernst W. Burgess (Hg.), The City, with a new foreword by Robert J. Sampson, Chicago, IL / London 2019, S. 1–46.
- Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben [1903], in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908 I, hrsg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1995, S. 116–131.
- Rolf Lindner, Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt am Main / New York 2004, S. 121 f.
- Richard Sennett, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, übers. von Michael Bischoff, München/Berlin 2012, S. 22.
- Siehe dazu Verena Frick, Staat, Stadt und die Grenzen politischer Mitgliedschaft, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart NF 70 (2022), S. 655–668, hier S. 659.
- Avner de-Shalit, Cities and Immigration. Political and Moral Dilemmas in the New Era of Migration, Oxford 2018, S. 47.
- Armin Nassehi, Dichte Räume. Städte als Synchronisations- und Inklusionsmaschinen, in: Martina Löw (Hg.), Differenzierung des Städtischen, Opladen 2002, S. 211–232.
- So schon Park, The City, S. 46. Siehe dazu auch Alexandra Schauer, Mensch ohne Welt, Berlin 2023, S. 559.
- Dazu exemplarisch Nels Anderson, The Hobo. The Sociology of the Homeless Man [1923], London u.a. 1967.
- Uwe Schneidewind / Hanna Scheck, Die Stadt als „Reallabor“ für Systeminnovationen, in: Jana Rückert-John (Hg.), Soziale Innovation und Nachhaltigkeit, Wiesbaden 2013, S. 229–248, hier S. 242.
- So der Untertitel des 2016 veröffentlichten Hauptgutachtens des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltfragen (WBGU). Vgl. WBGU, Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte, Berlin 2016.
- Christian Volk, Enacting a Parallel World: Political Protest against the Transnational Constellation, in: Journal of International Political Theory 15 (2019), 1, S. 100–118, hier S. 114.
- Sheila R. Foster / Christian Iaione, Co-Cities. Innovative Transitions towards Just and Self-Sustaining Communities, Cambridge, MA 2022.
- Siehe dazu das European Community Land Trust Network.
- Richard Schragger, Is a Progressive City Possible? Reviving Urban Liberalism for the Twenty-First Century, in: Harvard Law and Policy Review 7 (2013), S. 231–252, hier S. 246.
- Mark Chou / Benjamin Moffitt / Rachel Busbridge, The Localist Turn in Populism Studies, in: Swiss Political Science Review 28 (2022), 1, S. 129–141.
- John Dewey, Creative Democracy – The Task before Us [1938], in: ders., The Later Works, 1925–1953, Bd. 14: 1939–1941. Essays, Reviews, and Miscellany, hrsg. von Jo Ann Boydston, Carbondale, IL 2008, S. 224–230, hier S. 226.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Bildung / Erziehung Demokratie Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaft Gesellschaftstheorie Gruppen / Organisationen / Netzwerke Interaktion Lebensformen Politik Politische Theorie und Ideengeschichte Staat / Nation Stadt / Raum Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen
Teil von Dossier
Wehrhafte Demokratie
Vorheriger Artikel aus Dossier:
Politische Bildung im Lichte der Weimarer Erfahrung
Nächster Artikel aus Dossier:
Pflicht, Freiheit und Gleichheit
Empfehlungen
Münchner Anarchorepublikanismus
Rezension zu „ad Gustav Landauer. Homme de lettres und Edelanarchist“ von Mathias Lindenau
Existenzfragen der Demokratie
Rezension zu „Über Freiheit“ von Timothy Snyder
Politische Bildung im Lichte der Weimarer Erfahrung
Baustein einer wehrhaften Demokratie?