Philipp Müller | Rezension |

Projekt Moderne, Außenstelle Anatolien

Rezension zu „Eigensinnige Musterschüler. Ländliche Entwicklung und internationales Expertenwissen in der Türkei (1947–1980)“ von Heinrich Hartmann

Heinrich Hartmann:
Eigensinnige Musterschüler. Ländliche Entwicklung und internationales Expertenwissen in der Türkei (1947–1980)
Deutschland
Frankfurt am Main / New York 2020: Campus
460 S., 49,00 EUR
ISBN 978-3-593-51190-0

Die Frauen und Männer, die zwischen den 1940er- und 1970er-Jahren an der Modernisierung der ländlichen Türkei mitwirkten, verstanden ihre Aufgabe als eine Mission: Die zahlreichen Maßnahmen zur Mechanisierung der Landwirtschaft, zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung oder zur Gewährleistung aufgeklärter Familienplanung waren in den Augen der Planer nicht weniger als ein wichtiger Beitrag zum universalen Projekt der Moderne selbst. In der Praxis gestaltete sich die Arbeit allerdings sehr viel schwieriger als gedacht. Viele Orte und Siedlungen waren nur bei trockenem Wetter auf Trampelpfaden zu Fuß oder per Maulesel zu erreichen, was regelmäßige Kontakte zur Außenwelt erschwerte. Doch nicht nur der räumliche Zugang war kompliziert. Häufig erwiesen sich die Bewohner nicht als glückliche Empfänger entwicklungspolitischer Wohltaten, sondern als zähe Gegner der Neuerungsprojekte und der ihnen zugrundeliegenden Ideale. Versuche der Datenerhebung scheiterten nicht selten am Unverständnis oder Unwillen der Befragten vor Ort. Die Dörfler begegneten den Teams von Ärzten, Interviewern und landwirtschaftlichen Beratern mit tiefem Misstrauen. Glaubt man den Analysen, die James C. Scott für vergleichbare Szenarien in Südostasien vorgelegt hat,[1] dann resultieren die Konfrontationen zwischen den beteiligten Gruppen nicht in erster Linie aus einem Gegensatz zwischen rückständiger Landbevölkerung und wissenschaftlich geschulten Planungsexperten, sondern aus einem politischen Konflikt um die Ausweitung staatlicher Macht. Folgt man dieser Deutung, dann handelte es sich bei dem Leben in den peripheren Regionen Ostanatoliens mitsamt seinen spezifischen Formen der Landwirtschaft und des familiären Zusammenlebens um das Resultat bewusster Entscheidungen unabhängiger sozialer Gruppen mit dem Ziel, sich staatlicher Kontrolle zu entziehen, wie sie mit den Modernisierungsvorhaben der Planer einherging.

Eine der Stärken von Heinrich Hartmanns detaillierter Rekonstruktion der nach dem Zweiten Weltkrieg intensivierten Versuche, die ländliche Türkei mithilfe wissenschaftlicher Expertise voranzubringen, besteht in der konzeptionellen Anlage des Buches. Wie Scott bleibt auch Hartmann nicht bei der bloßen Analyse von Planungsprojekten stehen, sondern reflektiert in seiner Untersuchung auch auf das Verhältnis zwischen Experten und lokaler Bevölkerung. Das anatolische Dorf, so eine der Thesen des Buches, war demnach kein von den Modernisierern lediglich vorgefundenes Objekt, sondern ein sozialer Ort, der aus der Interaktion von Expertenwissen, praktischen Planungsversuchen und sozialem Wandel entstand. Der im Titel hervorgehobene Eigensinn ist dabei durchaus doppeldeutig. Zum einen verweist er auf die Widerständigkeit der lokalen Bevölkerungsgruppen, die sich den Reformprogrammen der Experten und den Geltungsansprüchen ihrer Theorien entgegenstellten. Zum anderen – und darin unterscheidet sich sein Analyserahmen von demjenigen Scotts – zeigt Hartmann am Wandel der Entwicklungsprojekte, wie sich im Laufe der Zeit nicht nur auf Seiten der vermeintlich zu Modernisierenden Eigensinn regte, sondern auch auf Seiten der Modernisierer. Planungsexperten und Entwicklungshelfer unterschiedlicher Generationen, mit unterschiedlichen nationalen und internationalen Karrieremustern und heterogenen institutionellen Affiliationen trafen sich in ihrem Interesse an der Modernisierung des ländlichen Anatoliens und nutzten den Wandel der politischen und strategischen Relevanz der Türkei für die Realisierung ihrer jeweiligen Vorhaben. Statt also (wie Scott in seiner Studie) von einem Dualismus zwischen Staat und Zivilgesellschaft auszugehen, führt Hartmann seinen Leserinnen und Lesern die konflikthaften Auseinandersetzungen, gegensätzlichen Geltungsansprüche und wechselnden strategischen Allianzen zwischen wissenschaftlichen Experten, Angehörigen internationaler Organisationen, Staatsangestellten und lokalen Eliten vor Augen.[2] Das Buch verdeutlicht unaufdringlich und doch überaus klar, dass die Experten keine homogene Gruppe bildeten, die sich eindeutig Scotts Kategorie des Staates und seiner Herrschaftsansprüche gegenüber der Zivilbevölkerung zuordnen ließe. Vielmehr bewegten sie sich in einem Feld, dessen Akteure Hartmann aufgrund ihrer Mittlerfunktion als „Broker“ bezeichnet. Es sind denn auch die vielfältigen Beziehungen dieser intermediären, nach zwei Seiten hin vermittelnden Gruppe von Wissenschaftlern und Entwicklungshelfern, die im Zentrum seiner Untersuchung stehen: Zum einen die transnationalen Bezüge zwischen Modernisierungsexperten türkischer und internationaler Organisationen, zum anderen die Wechselbeziehungen der Experten mit der Bevölkerung vor Ort. Die Modernisierungsprojekte Anatoliens dienen Hartmann zur Rekonstruktion einer Form der „transnationalen Wissenszirkulation“, deren Verlauf mit dem sozialen Wandel in der ländlichen Türkei korrespondierte.

Die Hauptabschnitte des Buches konzentrieren sich auf die Zeit des Kalten Krieges und damit auf die Hochphase einer globalen Planungskultur. Die Forschungsliteratur zu diesem Thema ist in den letzten Jahren stark angewachsen, so dass die Bibliografie der Untersuchung bereits jetzt um wichtige neue Titel erweitert werden könnte. Jüngere Publikationen haben hervorgehoben, wie stark seinerzeit in den unterschiedlichen politischen Systemen der Glaube ausgeprägt war, Gesellschaften durch wissenschaftliche Expertise und politische Steuerung dem Ziel eines angeblich universalen Typs einer modernen Gesellschaft zuführen zu können. Die Planer bildeten transnationale Netzwerke, die nicht nur die westliche Welt umspannten, sondern auch neue Verbindungen zwischen Ost und West, zwischen ehemaligen Kolonien und imperialen Metropolen sowie zwischen industriell und agrarisch geprägten Ländern schufen.[3]

Der Türkei kam in diesem Umfeld eine besondere Rolle zu: Hier trafen Modernisierungspläne auf ein agrarisch geprägtes Land, das man nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Vorzeichen des Marshallplans als potenzielle Kornkammer des industrialisierten europäischen Nordens vorsah. Eine vergleichbare Funktion wurde bekanntlich unter anderem auch den unter französischer Kolonialverwaltung stehenden Gebieten Nordafrikas zugedacht. Die Türkei war jedoch keine ehemalige Kolonie, sondern verfügte bereits über eigenständige Erfahrungen bei Projekten zur Modernisierung des ländlichen Raums, die unter der Präsidentschaft Kemal Atatürks in den 1920er- und 1930er-Jahren vorangetrieben worden waren.

Indem die türkische Regierung nach 1945 für die US-Administration zu einem wichtigen Partner in der Sicherheitspolitik des Nahen Ostens avancierte, erhielt die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität eine neue, aus ökonomischen und politischen Motiven gespeiste Dringlichkeit. Breite internationale Unterstützung in der Mechanisierung der Agrarwirtschaft sollte gleichermaßen für die Integration der Türkei in den europäischen Wirtschaftsraum wie auch für die Stabilisierung eines wichtigen NATO-Mitglieds sorgen. Dabei sahen US-amerikanische Berater in den anatolischen Bauern rationale, zur Geschäftstüchtigkeit erziehbare Individuen, deren Bedürfnisse und Chancen durch statistisch belastbare Datenerhebungen vor Ort in Erfahrung gebracht werden konnten. Für die Probleme, die sich im Zuge der Umsetzung der angestrebten Vorhaben einstellten, waren viele Faktoren verantwortlich. Dazu zählten neben der schnell expandierenden Landwirtschaft im übrigen Europa nicht zuletzt auch die Gegensätze zwischen internationalen Sozialwissenschaftlern, die auf die Unterstützung der unter Kemal Atatürk eingerichteten Dorfinstitute[4] hofften, und türkischen Behörden, die eben diese Institutionen in den 1950er-Jahren prinzipiell infrage stellten.

Mit dem Auslaufen des Marshallplans und einer Verlagerung der geostrategischen Interessen der USA wurde in den frühen 1960er-Jahren die Organisation for Economic Coordination and Development (OECD) zur treibenden Kraft bei den Bemühungen um eine koordinierte Modernisierungspolitik in der Türkei. Infolge dieses Wechsels betrachtete man die Türkei im Westen fortan weniger als strategischen Partner und stärker als wirtschaftlich abhängiges Empfängerland internationaler Hilfe. Zeitgleich kehrte sich die seit dem Staatsstreich von1960 amtierende türkische Militärregierung von der bisherigen Priorisierung der landwirtschaftlichen Produktivität ab und betonte stattdessen die Notwendigkeit einer Hebung des allgemeinen Lebensstandards. Staatliche Entwicklungsprogramme erhielten neue institutionelle Gestalt durch eine zentrale Planungsbehörde, die Gründung eines Dorfministeriums und die Ausarbeitung von Fünfjahresplänen.

Sowohl die internationalen als auch die nationalen Initiativen nahmen dabei die anatolischen Dörfer weiterhin im Lichte universaler Modernisierungskonzepte in den Blick, waren sich dabei aber in der Sache häufig uneins. Hier wird besonders deutlich, wie der Rekurs auf Erfahrungen mit internationalen Planungen und Projekten in Indien oder im Emsland für die verschiedenen Seiten zu einer immer wichtigeren Legitimationsgrundlage zur Rechtfertigung der eigenen Vorhaben wurde, die in diesem Zusammenhang präsentieren Schlussfolgerungen jedoch ganz unterschiedlich ausfielen. Auch die nunmehr allerorts einsetzende Orientierung an verhaltenspsychologischen Ansätzen der Entwicklungsarbeit schuf keine einheitlich agierende „epistemic community“ (Peter Haas) der Experten. So privilegierte eine Gruppe von Planern, die insbesondere vom türkischen Ministerium gestützt wurden, den Aufbau von Modellregionen zur Erprobung entwicklungspolitischer Maßnahmen, während eine andere Gruppe lokale Eigeninitiativen in dörflichen Gemeinschaften favorisierte. Die zentralen Konfliktlinien verliefen dabei nicht nur zwischen türkischen und internationalen Experten. Einerseits erhielten Organisationen wie die Ford Foundation und der New Yorker Population Council Rückhalt durch Sozialwissenschaftler der Hacettepe Universität in Ankara, andererseits gingen auch die verschiedenen Institutionen der türkischen Regierung keineswegs immer miteinander konform. Dabei machten sich die unterschiedlichen Expertenfraktionen vielfach gegenseitig dafür verantwortlich, dass ihre Planungsbemühungen durch das Misstrauen und die fehlende Kooperationsbereitschaft der Landbevölkerung untergraben würden.

Hartmanns Buch bietet ebenso reichhaltige wie vielfältige Einsichten, die über den speziellen Fall der Modernisierung des ländlichen Anatoliens weit hinausreichen. Gerade deshalb wäre es hilfreich gewesen, zentrale Begriffe und Thesen der Argumentation stärker in den Vordergrund zu rücken. Fachleute werden die Genauigkeit von Hartmanns Ausführungen zu schätzen wissen, und angesichts der weitgehenden Vernachlässigung der Region in der deutschsprachigen zeithistorischen Forschung ist ein detaillierter chronologischer Überblick über das Thema, wie ihn das vorliegende Buch bietet, nur zu begrüßen. Leserinnen und Lesern ohne explizit regionalhistorische Interessen hätte man jedoch mit einer deutlicheren Markierung zentraler Beobachtungen in den einzelnen Kapiteln die Handhabung erleichtern können. Unabhängig davon regt Hartmanns kenntnisreiche Studie zu weiteren Überlegungen an – etwa zur Rolle transnationaler Expertise, wenn diese vordringlich als Appellationsinstanz in einem Feld heterogener Akteure fungiert, statt Verbindungen sozialer Gruppen jenseits des Staates zu stiften. In der Untersuchung erscheint die Türkei als ein vielschichtiger, von heterogenen Entwicklungen geprägter Testfall, dessen eingehende Betrachtung dazu dienen kann, eine Vielzahl bekannter Fragen zum Thema neu zu stellen. Auch aus diesem Grund ist Hartmanns Buch eine möglichst breite Rezeption zu wünschen.

  1. Siehe James C. Scott, The Art of Not Being Governed: An Anarchist History of Upland Southeast Asia, New Haven, CT 2009.
  2. Vgl. zur Kritik an Scotts dualistischer Konzeption u.a. Mario Krämer, Die Mühlen der Zivilisation 3. Die „Grauzonen“ staatlicher Herrschaft, in: Soziopolis (03.07.2019).
  3. Vgl. etwa Michel Christian / Sandrine Kott / Ondřej Matějka, (Hg.), Planning in Cold War Europe: Competition, Cooperation, Circulations (1950s-1970s), Cambridge, MA 2018; Agustin E. Ferraro / Miguel A. Centeno (Hg.), State and Nation Making in Latin America and Spain. The Rise and Fall of the Developmental State, Cambridge, MA 2018; Stephen Macekura / Erez Manela (Hg.), The Development Century: A Global History, Cambridge 2018.
  4. Die Dorfinstitute entstanden im Zuge der kemalistischen Modernisierungspolitik und sollten der Reform des ländlichen Bildungswesens dienen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Bildung / Erziehung Demokratie Europa Geschichte Macht Politik Staat / Nation Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen

Philipp Müller

Dr. phil. Phillip Müller ist Wissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seine Interessenschwerpunkte sind die Geschichte der Politischen Ökonomie in Europa, die Geschichte politischer und ökonomischer Ideen sowie die Geschichtstheorie und die Geschichte der Geschichtswissenschaft.

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