Nils Zurawski | Rezension | 18.02.2020
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Rezension zu „Permanent Record. Meine Geschichte“ von Edward Snowden
Wenn man nicht in einem solchen Milieu groß geworden ist, muss man sich Fort Meade und seine Umgebung, ja vielleicht sogar den ganzen Beltway, als eine riesige Firmenstadt vorstellen. Seine Monokultur hat viele Gemeinsamkeiten mit Orten wie dem Silicon Valley, nur ist das Produkt des Beltway nicht Technologie, sondern die Regierung selbst. (S. 53)
Diese Bemerkung von Edward Snowden ist aus mehreren Gründen zentral für seine Lebensgeschichte. Zum einen wird deutlich, wie selbstverständlich es für ihn war, im Milieu von Militärs, Staats- und Regierungsangestellten sowie der Geheimdienste NSA und CIA aufzuwachsen. Zum anderen handelt es sich um eine fast soziologische Feststellung: Dass nämlich Regierung nicht nur „da“ ist, unfassbar, anonym, gleichwohl präsent, sondern dass sie „produziert“ wird. Im Beltway – womit geografisch der Großraum von Washington D.C. bezeichnet wird, metaphorisch die Regierung der USA im weitesten Sinne – bekommt der Leviathan ein modernes Gesicht und wird in seiner Mechanik vorstellbar, irgendwo zwischen einem kafkaesken Labyrinth amerikanischer Suburbs und stereotyp langen Fluren der Bürokratie. Es ist eine schöne Beobachtung, die auch erklärt, warum es für Edward Snowden nahe lag, sein Arbeitsleben in dieser Monokultur zu beginnen.
„Permanent Record“ ist allerdings weder eine soziologische Reflexion über Macht, den Staat, Geheimnisse und Geheimdienste, noch ein Buch, das genuin neue Gedanken zu Überwachung enthielte – dazu ist allein durch die von Snowden bereitgestellten Dokumente und Informationen seit 2013 schon zu vieles allgemein bekannt. In dieser Autobiografie steht gattungstypisch der Lebensweg des Menschen Edward Snowden im Vordergrund, der nach nur 29 Jahren eine beispiellos drastische Veränderung erfuhr. Deren Nachwirken und persönliche Konsequenzen werden wahrscheinlich noch einmal genauso lang, wenn nicht länger, anhalten. Mit politischem Asyl im russischen Exil festgesetzt, ist sein Bewegungsspielraum klein, allerdings momentan offenbar sicher genug, um Stellungnahmen in aktuellen Debatten zu gestatten. Und insofern ist dieses Buch wohl auch ein Versuch, die Deutungshoheit über seine eigene Geschichte zu erlangen und der Welt von sich zu berichten.
Das gelingt ihm gut, wie ich finde. Snowden erzählt von seiner Kindheit, dem Aufwachsen in der Regierungscommunity, seiner Jugend als Computer-Nerd bis hin zu den ersten Engagements für die Regierung. 1983 geboren, fiel seine Jugend mit dem Aufstieg des Internet in den 1990er-Jahren zusammen. Immer wieder beklagt er den Verlust der ursprünglich freien und anarchischen Onlinekultur dieses Jahrzehnts, die sich ihm zufolge spätestens 2000 zu einer durchkommerzialisierten und durchkontrollierten Umgebung gewandelt habe. Durch diese Beobachtung verknüpft er seine eigenen Erfahrungen mit denen vieler anderer seiner Generationsgenossen, die schon vor dem Erwachsenwerden mit anzusehen hatten, wie man ihnen einen utopischen Raum sukzessive enteignete.[1]
Das Buch umfasst drei Abschnitte, deren erster mit der Jugend endet. Hierzu würde ich auch die Militärzeit zählen. Snowden war 22 und hatte keinen Lebensplan. Doch er verfügte über Zugang zur höchsten Sicherheitsstufe, die man in den USA auch ohne eine Anstellung beantragen kann, gerade um in den oder für die entsprechenden Behörden arbeiten zu können. Im zweiten Abschnitt erzählt er von seiner Ausbildung und seiner Arbeit in und für die NSA, die CIA und diverse dieser zuarbeitende Vertragsfirmen. Auch die technologischen Entwicklungen, an denen er in seinem beruflichen Alltag beteiligt war, finden Erwähnung. Wir folgen Snowden auf seinen Stationen rund um die Welt und lernen Einiges über Aufbau und interne Logiken der Geheimdienste aus der Sicht eines Computerspezialisten, der neuen Elite im Feld der Spionage.
Wiederholt thematisiert Snowden seine Zweifel, sein Gerechtigkeitsempfinden und die wachsende Skepsis, die er schon früh seiner Arbeit gegenüber entwickelte. Die lauter werdenden Bedenken betrafen nicht zuletzt die Tragweite der von ihm mitentwickelten und angewandten Überwachungssysteme. Snowden ist dabei ganz ohne Zweifel ein amerikanischer Patriot – kein subversiver Hacker, kein Kind der Gegenkultur. Seine persönliche Erzählung offenbart, was geschieht, wenn ein solcher Patriot von seinem Land bodenlos enttäuscht wird und damit zu ringen hat, den Ungerechtigkeiten, die ihn empören, zu begegnen. Edward Snowden wollte sein Land nicht verraten, sondern vielmehr jene Überzeugungen und Werte verteidigen, die ein US-Bürger seiner Ansicht nach zu verkörpern hat. Insofern tritt er uns eher als ein Weltverbesserer entgegen, der die Stimme seines Gewissen nicht länger verleugnen konnte und folglich zum Whistleblowing genötigt wurde. Dass ihn sein Akt von zivilem Ungehorsam für die US-Regierung zu einem Staatsfeind macht, verweist nicht auf eine besondere ihm eigene kriminelle Energie, sondern auf die gesetzlichen Arrangements, denen er als Mitarbeiter des Geheimdienstes unterworfen war.
Bekanntlich hat die US-Regierung gegen die Publikation des Buches mit der Begründung geklagt, es müsse verhindert werden, dass jemand, der Dienstgeheimnisse widerrechtlich publik mache, davon materiell profitiere. Liest man Snowdens Buch aufmerksam, wird demgegenüber deutlich, dass Geschäfte mit Staatsgeheimnissen schon lange lukrativ sind. Snowden beleuchtet die Binnenstruktur einer Geheimdienstindustrie, in der man nicht länger „seinem Land dient, sondern für es arbeitet“ (S. 144), mit beeindruckenden Belegen. Nicht zufällig ist eines der entsprechenden Kapitel „Homo Contractus“ überschrieben. Wenn ein hoheitlich geführter Geheimdienst ganze Bereiche innerhalb seines weiten Tätigkeitsfelds an private Dienstleister auslagert, haben wir es mit einer Variante von Söldnertum zu tun. Die Interessen dieser Firmen sind nicht zwingend am Gemeinwohl und dem hehren Ziel nationaler respektive globaler Sicherheit ausgerichtet, sondern daran, sich die erbrachten Dienstleistungen renditeträchtig honorieren zu lassen – und im Übrigen dafür Sorge zu tragen, weiterhin im Geschäft zu bleiben. Sicherheitsaufgaben und Profitkalküle sind in Wahrheit schwer miteinander zu versöhnen, zumal dann, wenn mit dem Schutz derjenigen Bürgerinnen und Bürger Geld verdient werden soll, die unter der Perspektive der für Prävention zuständigen Sicherheitsorgane weniger schutzwürdige Subjekte als vielmehr Träger beunruhigender Sicherheitsrisiken darstellen. Wie die staatlichen Apparate faktisch vorgehen und vorgegangen sind, hat uns Snowden ja nicht zuletzt dadurch gelehrt, dass er die betriebene Massenüberwachung unbescholtener StaatsbürgerInnen offengelegt hat – darunter bekanntlich auch die bundesrepublikanische Kanzlerin.
Von Snowdens Wandlung vom Spion zum enttäuschten Patrioten und letztlich zum Whistleblower berichtet der dritte Teil des Buches. Ausschlaggebend für seinen Sinneswandel, so offenbart Snowden hier, war seine Beschäftigung auf Hawaii. Dort begann er, Daten systematisch zu sammeln und Überlegungen anzustellen, wie er die seiner Meinung nach höchst bedeutsamen Informationen an die Öffentlichkeit bringen könne. Snowden erspart seiner Leserschaft dabei keineswegs die Darstellung der technischen Hindernisse und Komplikationen, berichtet aber auch eindrücklich von seinem Abtauchen, der Flucht, all den notwendigen Vorbereitungen, der Kontaktaufnahme mit Greenwald und Poitras bis hin zu seinem Asyl in Moskau.
Die nüchterne Darstellung stellt alles in den Schatten, was uns Agententhriller für gewöhnlich offerieren. Wir können nachvollziehen, wie aus einem skeptischen ein desillusionierter Patriot wurde, der sich schließlich berufen sah, die Welt durch eine spektakuläre Intervention wieder ins Lot zu bringen. Dass er diesen Schritt ungeheuer teuer bezahlt hat, nämlich mit einer sehr weitgehenden Aufgabe seiner persönlichen Freiheit, gehört ebenfalls zu der Lektion, die uns das Buch erteilt. Über den Prozess, der zum Geheimnisverrat im Sommer 2013 führte, berichtet er dabei wenig Neues. Dafür bietet er aufschlussreiche und ungewöhnliche Einblicke in das Innenleben von Organisationen, die sich doch dadurch definieren, derartige Einblicke unbedingt verhindern zu müssen. Snowden offenbart, wie ein technisch hochgerüsteter Geheimdienst im 21. Jahrhundert operiert, was er tut, was er kann, was er bewerkstelligt. Wir lernen, wie diese Macht vorgeht, wie sie im Groben funktioniert. Der Radius der Überwachungsmöglichkeiten ist ebenso beängstigend wie die Alltäglichkeit der Routinen, mit denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der verschiedenen Dienste zu Werke gehen.
Besonders hervorzuheben sind schließlich die Auszüge aus den Tagebüchern von Snowdens Partnerin Lindsay Mills, die eindrücklich dokumentieren, was einem Menschen widerfährt, der ohne alle Schuld ins Fadenkreuz von Geheimdiensten und Polizei gerät. Bis in die bedrückenden Einzelheiten beleuchten sie die Erfahrung, verdeckt observiert oder auch offen beschattet – kurz: andauernd verfolgt zu werden. Man erfährt zudem, welchen immensen Aufwand der Staat treibt, um einen als verheerend eingestuften Schaden zu begrenzen, den Geheimnisverrat möglichst massiv zu sanktionieren und etwaige Nachahmer abzuschrecken – einmal abgesehen von der leitenden Absicht aller beteiligten Behörden, des Täters habhaft zu werden. Selbst wenn in diesen Textpassagen die erdrückende Macht einer herausgeforderten Staatsräson förmlich spürbar wird, macht Snowdens Geschichte letztlich Mut dazu, Haltung zu zeigen und zivilen Ungehorsam zu praktizieren, wenn die Verhältnisse danach verlangen.
Snowdens Enthüllungen fielen in eine Zeit, in der die Omnipräsenz von Überwachung und die Kapitalisierung des Internet bereits gesellschaftspolitisch brisante Themen waren, die vergleichsweise breit diskutiert wurden. Dass sich an den damit aufgerufenen Praktiken und technologischen Entwicklungen seitdem wenig geändert hat, dürfte einerseits unstrittig sein. Andererseits ist ebensowenig zu bestreiten, dass Snowdens ziviler Ungehorsam gleichwohl erfolgreich war. Jedenfalls wird kein Staat etwaige Forderungen, seine Sicherheitsapparate müssten ihrerseits kontrolliert werden, noch mit der Behauptung abwehren können, es gäbe keinen Anlass für derartige Besorgnisse.
Fußnoten
- Die „Enttäuschung“ ist vielen frühen Nutzern und Nerds gemeinsam, die eine Aufbruchstimmung hin zu einer anderen, offeneren, utopischeren Gesellschaft geteilt hatten, sich nun aber mit mehr anstatt weniger Kontrolle konfrontiert sahen, die seither durch Unternehmen und Staaten in nahezu vertrauter Eintracht ausgeübt wird. Ich gehöre ebenfalls zu jenen Enttäuschten, deren Frustration sich doppelt verstehen lässt: Zum einen wurde das Internet sukzessive kommerzialisiert, was wenig verwunderlich ist. Bereits in den 1990er-Jahren war erkennbar, dass sich viele Player vor allem für die Kapitalisierungspotenziale des Netzes interessierten. Zum anderen waren die Regierungen in Sorge, dass ihnen der Zugriff auf Informationen entgleiten könnte. Das Ergebnis gut 25 Jahre später ist, dass Google, Amazon & Co. eine Art Monopolkapitalismus realisiert haben, der auf der Kontrolle der Nutzerinnen und Konsumenten beruht. Staatliche Akteure wie die NSA müssen nur noch abgreifen, was ohnehin vorhanden ist: Nutzerdaten und Personenprofile in Mengen, die sie sich wohl nie hätten träumen lassen. Zuboffs Begriff des „Überwachungskapitalismus“ trifft diese Kombination sehr genau, auch wenn ihre Analyse eine Welt ohne Kapitalismus nicht denken kann, sondern für sie ein „guter Kapitalismus“ immer noch besteht (vgl. Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt am Main 2018).
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Andreas Häckermann, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Staat / Nation Sicherheit Macht Internationale Politik
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