Frank Nullmeier | Rezension | 03.08.2021
Steckengeblieben
Rezension zu „Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“ von Wolfgang Streeck
Wolfgang Streeck hat sechs Jahre nach dem eindrucksvollen und höchst erfolgreichen Werk Gekaufte Zeit ein neues Buch vorgelegt, das in Titel wie Untertitel eine Fortsetzung der empirischen Analyse gegenwärtiger Politik unter dem Druck kapitalistischer Verhältnisse zu leisten verspricht. Im Zentrum steht folgende Zeitdiagnose: Staatlichkeit sei zwischen dem Streben nach europäischer Superstaatlichkeit sowie Global Governance und der Suche nach einer demokratischen Einhegung des kapitalistischen Marktes steckengeblieben. Es gehe weder in die eine Richtung noch in die andere weiter. Dass der Globalismus nicht siege, liege auch an den rechts- oder linkspopulistischen Reaktionen auf Nationalstaatsebene. Ein globaler Neoliberalismus könne sich also nicht durchsetzen.
Streeck begnügt sich nicht mit diesem Befund, vielmehr interessiert ihn vorrangig die normative Frage, welche Richtung denn nunmehr einzuschlagen sei. Seine Antwort fällt eindeutig aus. Selbst kleine Schritte in die globale und europäische Richtung führten zu einer Entdemokratisierung und Expertokratisierung, womit den Marktkräften nur weiterer Spielraum geboten werde. Allein der Nationalstaat sei fähig, Demokratie zu gewährleisten und den globalen Kapitalismus zu zügeln. Konträr zu jenen Stimmen, die europäische Staatlichkeit wie globale Steuerungsformen befürworten, weil nur diese in der Lage sein dürften, einem global agierenden Marktsystem entgegenzuwirken, sieht Streeck im Nationalstaat die wirkungsvollste, zugleich demokratische und antikapitalistische Instanz. Seine EU-Kritik, die schon die Schlusspassagen von Gekaufte Zeit prägte, bildet jetzt den Dreh- und Angelpunkt des gesamten Vorhabens bis hin zum Entwurf einer politischen Vision, die der Autor als „zeitgemäß verfasste Kleinstaaterei“ bezeichnet.
In Einleitung, Quintessenz und fünf umfangreichen Kapiteln will Streeck zeigen, dass der Versuch einer Europäisierung und Internationalisierung von Demokratie ein Irrweg sei, zudem anthropologisch verfehlt, nicht funktionieren könne, den Kapitalismus nur weiter entfessele und überdies der politischen Enteignung der Bürger*innen strikt zuarbeite.
Streecks Buch ist brillant geschrieben, pointiert, jederzeit sprachmächtig und begriffsschöpferisch. Es bleibt aber gleich in mehrfacher Hinsicht in veralteten Argumentationsmustern stecken. Das gilt zunächst für den sozialwissenschaftlichen Stil: Permanent waltet „der“ Kapitalismus – ähnlich wie in den frühen 1970er-Jahren. Und allenthalben ist auch bekannt, wie es mit dem Neoliberalismus enden wird. Hatte der emeritierte Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in einigen kleineren Veröffentlichungen der letzten Jahre gerade einzelne Personen als Akteure europäischer und weltweiter Neoliberalisierung identifiziert, so avancieren in seinem neuen Buch Makrostrukturen zu Agenten der Weltentwicklung – und zugleich findet sich die Unberechenbarkeit politischer wie ökonomischer Entwicklungen beschworen. Damit eröffnen sich im Konkreten dann weite Argumentationsspielräume.
Streecks Zugriff mutet merkwürdig unzeitgemäß an, weil man nie den Eindruck gewinnt, er sei irgendwie von der Frage nach der Ressourcenausbeutung, der drohenden Umwelt- oder Klimakatastrophe, der Überwindung der Entwicklungsunterschiede in der Welt oder den Kontroversen um Kolonialismus und Postkolonialismus berührt. Das Buch ist – trotz der Konzentration auf Probleme des internationalen Systems – ganz und gar eurozentrisch, was kein wohlfeiler Vorwurf sein soll, sondern nur der Hinweis darauf, dass Streecks Kritik der EU in diesem Buch die gesamte Sicht auf globales Regieren bestimmt. Und in Zukunft sollen sich die anderen Kontinente ebenso organisieren wie ein klein- und mittelstaatlich erneuertes Europa, um schließlich im Rahmen „regionaler Planung“ als Staatensysteme friedlich miteinander koexistieren zu können. Immer wieder, hierin Colin Crouch noch überbietend, wird an eine politische Konstellation appelliert, wie sie für die 1950er bis 1970-Jahre in Europa prägend war, eine keynesianisch gesteuerte Nationalökonomie, eingelagert in das Bretton Woods-System, das den Nationalstaaten politische Steuerung der nationalen Ökonomie gestattete, die Kompromisse zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zuließ, Arbeiterklasse, führende Unternehmen und Staat korporatistisch zusammenführte und das ganze über die parteipolitische Dominanz von Sozialdemokratie und Christdemokratie absicherte. Die Wiedereinsetzung einer derartigen Konstellation ist die Zielsetzung des Streeck‘schen Ansatzes. Der Autor charakterisiert ihn offen als Partikularismus und Nationalismus, wobei seine Lust an der begrifflichen Provokation dem Text durchaus anzumerken ist. Die historischen Voraussetzungen dieser „Goldenen Ära“ von Korporatismus und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa, das heißt Phänomene wie die koloniale beziehungsweise postkoloniale Beherrschung weiter Teile des Globalen Südens, einer Ressourcenausbeutung, die den Namen internationale Arbeitsteilung nicht verdient, eingefrorener Geschlechterverhältnisse und Ähnlichem werden jedoch nicht thematisiert.
Zudem ist seine Argumentation nicht auf dem Stand der Fachliteratur. Sicherlich ist die Schaffung einer ganz eigenen Tradition durch Bezugnahme auf manchmal auch weniger bekannte Aufsätze von Herbert Simon, Karl Polanyi, John Maynard Keynes oder Edward Gibbon ansprechend und überraschungsintensiv. Wenn allerdings von Imperium, Global Governance und Supranationalisierung gesprochen wird, ist doch zu fragen, warum einschlägige Arbeiten nicht rezipiert werden: Warum nicht Herfried Münklers Arbeiten zu Imperien oder Edgar Grandes und Ulrich Becks Charakterisierung der EU als Imperium, warum nicht die Schriften Michael Zürns und anderer zu Global Governance und zum Zentralisierungsgrad internationaler Ordnungen, warum nicht Nicole Deitelhoffs Überlegungen zur normativen Einbettung internationaler Ordnung? Bedauerlicherweise befasst sich weder die politisch-ökonomische noch die historisch-institutionalistische Analyse der internationalen Sphäre in Streecks Monografie mit den Beiträgen aus der dafür zuständigen wissenschaftlichen Disziplin der „Internationalen Beziehungen“. Also kommt es zu Fehlern. Es sind eben nicht die „zentralistischen“ Elemente von EU und internationalen Organisationen, die die Steuerungsdefizite eines globalen Kapitalismus bewirken, sondern die wesentlich horizontalen Strukturen von Global Governance. Weil es jenseits der EU an Formen des Mehrheitsentscheids unter den Staaten fehlt und ein Konsens zwischen allen Staaten verlangt ist, soll etwas global entschieden werden, reicht ein einflussreicher Free-Rider-Staat aus, um eine wirksame Politik auszuhebeln. Genau diese Horizontalität, die in den meisten Politikfeldern auf internationaler Ebene besteht, empfiehlt Streeck in den Passagen zur Zusammenarbeit der Kleinstaaten als den einzuschlagenden Weg. Die weltweite Klimapolitik leidet massiv daran, dass keine supranationalen Institutionen existieren, dass es keinen Mehrheitsentscheid, keine Schiedsverfahren oder keine internationalen Gerichte gibt, die verbindlich entscheiden könnten. Zu Recht beklagt Streeck die endlose Folge der Konferenzen mit geringer Effektivität, doch ist dieser Leerlauf just das Ergebnis jener Horizontalität, die er als Lösung vorschlägt.
Umgekehrt verlangt Streecks antikapitalistische Favorisierung der „Kleinstaaterei“ ein unbedingtes Lob für die Nationalstaaten als Horte demokratisch-antineoliberaler Entwicklung. Nun ist es zweifelsohne zutreffend, dass die EU-Bürokratie expertokratische Züge trägt. Jedoch sind es vor allem die Nationalstaaten, innerhalb derer sich in den letzten Jahren Entwicklungen zur Autokratie und Entdemokratisierung vollzogen haben, brillant dargelegt etwa in Levitzkys und Ziblatts vielgerühmten Buch Why Democracies Die. Demgegenüber unterstellt Streeck, dass derartige nationale Konjunkturen nur auf die EU-Entdemokratisierung reagieren. Genuin innerstaatliche Tendenzen zur Autokratie werden von ihm nicht als Bestimmungsfaktor der gegenwärtigen Situation anerkannt. Dass neben dem Links- auch der Rechtspopulismus als Gegenkraft zur EU generell demokratisch geadelt wird, sei nur angemerkt.
Im Unterschied zu früheren Beiträgen Streecks präsentiert sein jüngstes Buch nicht nur eine anthropologische Begründung für den Vorrang des Kleinen und Dezentralen, sondern zusätzlich auch den Entwurf einer Alternative, eines anderen Modells – vielleicht keine Utopie, aber immerhin eine Perspektive politischer Kämpfe. Streeck behauptet, es gäbe einen „konstitutiven Partikularismus oder Pluralismus menschlicher Vergesellschaftung“ (S. 180). Dass Menschen in zeitlich wie räumlich je besonderen Traditionen und institutionellen Ordnungen leben, wird von niemandem ernsthaft bestritten. Dass die „lokalen Ensembles zu distinkten Gesamtgesellschaften“ verdichtet werden, „die sich unter modernen Bedingungen mehr oder weniger passgenau als (National-)Staaten verfassen“ (S. 181), ist freilich eine metahistorisch steile These, die sich mit den Beiträgen der Nationalismus- und Nationalstaatsforschung ebenso wenig verträgt wie mit den Befunden moderner Sozialtheorie. Ohne weitere theoretische Auseinandersetzung setzt Streeck das Dogma eines universellen Staatspartikularismus. Auch beim Modell der dezentralen Zusammenarbeit von Klein- und Mittelstaaten, das Streeck dem Globalismus entgegensetzt, wird nicht klar, wie die globale Ökonomie überhaupt nationalstaatlich gesteuert werden kann, bedeutet doch schon ein einfacher Online-Buchkauf, sich in die Hände global operierender Plattformmonopolisten zu begeben. Nicht minder ungeklärt bleibt die sich angesichts von Streecks Plädoyer aufzwingende Frage, warum eine horizontale Koordination von EU-unabhängigen Nationalstaaten eigentlich besser funktionieren sollte als die Horizontalität des Europäischen Rates.
Das Buch zielt auf die Zuspitzung einer Alternative. Wir sollen vor die Wahl zwischen Globalismus und Demokratie gestellt werden: Wer für Demokratie eintritt, könne das ehrlicherweise nur als Gegner*in von Globalisierung, Global Governance, Europäischer Union oder irgendwelchen Vorstellungen von Weltföderation oder Weltdemokratie. Die Belege dafür, dass hier eine argumentativ tatsächlich zwingende Alternative vorliegt und allein der Nationalstaat den richtigen, nämlich die Demokratie erfolgreich verteidigenden Weg weisen kann, fallen freilich eher dürftig aus – zumal Gegenargumente oder auch nur der Stand der Überlegungen in den „Internationalen Beziehungen“ ignoriert werden. Lesen wir dieses Buch daher vorrangig als politischen Beitrag!
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Demokratie Europa Globalisierung / Weltgesellschaft Politische Ökonomie
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