Peter Wagner | Rezension | 21.10.2020
Über die Zukünftigkeit unserer Gegenwart
Rezension zu „Futurity Report“ von Eric C. H. de Bruyn und Sven Lüttiken (Hg.)
Die Zukunft entzieht sich dem menschlichen Zugriff, das wissen alle einigermaßen lebenserfahrenen Personen. Aber aus genau diesem Grund versuchen die Menschen beharrlich, sich die Zukunft zugänglich zu machen. Dies ist nicht neu, doch die Formen dessen wandeln sich. Das Orakel und die Weissagung gelten schon lange als überholt. Die hilfsweise bemühte Annahme, wir müssten nur die Vergangenheit eingehend studieren – historia magistra vitae –, um uns auf die Zukunft vorzubereiten, da beide aus dem gleichen Material gemacht seien, geriet ebenfalls zunehmend in Zweifel, nicht zuletzt durch jene, die als Experten für die Vergangenheit gelten, also den professionellen Historikern. Aber auch die seinerzeit radikalen Versuche in den 1960er-Jahren, Zukunftsstudien als eine wissenschaftliche Disziplin zu begründen, als könnten wir zu diesem Behufe Erfahrungswissen in gleicher Weise ansammeln wie über die Vergangenheit und die Gegenwart, haben an Überzeugungskraft verloren.
Welche Fragen können wir sinnvollerweise über etwas stellen, das wir weder kennen noch zu erforschen in der Lage sind? Da ist zunächst die philosophische Frage, inwieweit sich Schlüsse über das prinzipiell Unbekannte, die Zukunft, ziehen lassen aus dem, was wir kennen können, nämlich Vergangenheit und Gegenwart. Zum zweiten kann man historisch überlegen, ob und inwieweit sich unsere Weise, das Unbekannte der kommenden Zeit zu erwarten, verändert hat. Und schließlich stellt sich auch die politische Frage, ob es Weisen gibt, dieses Unbekannte, mit dem wir ja nicht nur als Fremdem konfrontiert werden, sondern zu dessen Entstehung wir maßgeblich beitragen, zu gestalten. Der vorliegende Futurity Report widmet sich vor allem der zweiten Frage. Er ist, in den Worten der Herausgeber Eric C. H. de Bruyn und Sven Lütticken, ein Buch „über die Geschichtlichkeit von Zukunft, Futurismus und Futurologie; [...] über die historischen Bedingungen, die eine Denkweise ermöglichen, formen oder auch blockieren, die über ihre eigene Gegenwart hinauszugelangen wünscht“ (S. 7).[1] Aber der „Untersuchungsbericht“ ist auch an der ersten und dritten Frage interessiert: Er exploriert die Erkenntnisgrenzen, die „blinden Flecke“, und fragt – in Zusammenarbeit von Geisteswissenschaftlern mit Schriftstellern, Filmemachern, bildenden Künstlern etc. – nach möglichen anderen Weisen von Zukünftigkeit (S. 14). Die Vielfältigkeit der Zugänge liegt, so mag man zu Recht annehmen, in der Offenheit der Fragestellung begründet.
Der geduldige Leser wird belohnt, denn zahlreiche der Beiträge enthalten originelle Beobachtungen und regen zum Denken an. Achille Mbembe verknüpft das heutige Verschwimmen der Grenze des Menschlichen – wenn „der Mensch von gestern aus Fleisch und Blut dem digitalen Fließmenschen weicht, dem alle Arten von synthetischen Organen und Prothesen infiltriert“ sind (S. 209) – mit der Ära der Sklaverei, in der Menschen als biophysikalische Ressource, als „menschliches Fossil“, zur Energieproduktion genutzt wurden. In ähnlicher Weise verlangt T. J. Demos von uns, die wir das Ende der Welt nahe wähnen, zu bedenken, dass „für viele andere [...] das Ende der Welt schon stattgefunden hat, sogar bereits vor langer Zeit“ (S. 252), nämlich durch Kolonialismus, Sklaverei und Völkermord. Ausgehend von Reflexionen über den arabischen Frühling kommt Haytham El-Wardamy zur anscheinend umgekehrten Schlussfolgerung: „Die Zukunft ist der Schatten der Katastrophe.“ (S. 241) Wir können demnach erwarten, dass die Frage der Zukunft stets genau dann gestellt wird, wenn eine Katastrophe gerade stattgefunden hat. Das Aufkommen des Futurismus nach dem Ersten Weltkrieg und der Zukunftsstudien nach Totalitarismus und Zweitem Weltkrieg scheint diese Einsicht zu bestätigen. Jene Zukunftsstudien bilden auch den Hintergrund für Kodwo Eshuns Beitrag, der eine faszinierende Neubetrachtung des umfassenden Werks von Cheik Anta Diop vorlegt und dabei Jenny Anderssons kürzliche Untersuchung jener Zukunftsstudien mit Adom Getachevs Analyse des antikolonialen Nationalismus in der gleichen Periode zusammenbringt.[2] In den 1960er- und 1970er-Jahren entwarf der Physiker, Historiker, Sprachwissenschaftler und Aktivist Diop durch die Kombination von kritischer Historiografie und Szenarien der Energieproduktion eine Vorstellung afrikanischer Entwicklung, von der zumindest einige Aspekte aktueller erscheinen denn je.
Diedrich Diederichsen widmet sich der Idee des Traums als Vorwegnahme einer erwünschten Zukunft. Er weist die Vorstellungen zurück, dass Träume in irgendeiner Weise fremdgesteuert sind oder umgekehrt die Wahrheit über die eigenen Wünsche oder Ängste enthalten. Stattdessen sieht er den Traum als den „Schauplatz dialogischen Denkens“, als „reinste Form unserer Sehnsucht, dass uns etwas geschehen möge, dass uns etwas gesagt werden möge, aber nicht durch uns, und dann letztlich doch durch uns“ (S. 63). Es ist also nicht der Traum von etwas, der eine Zukunft entwirft, sondern das Träumen als Auseinandersetzung mit uns selbst: „Die Form des Traumes, weniger sein Inhalt, ist revolutionär.“ (S. 62)
Sieht Diederichsen also das Träumen als eine Form von Kunst, Kultur und Kommunikation, die unter anderem Zukunft be- und verhandelt, so widmen sich zahlreiche der folgenden Beiträge bestimmten künstlerischen Ausdrücken von Zukünftigkeit. Dazu gehören ganze Genres wie Science Fiction oder Richtungen wie Afrofuturismus, aber auch einzelne Beispiele, die wieder in Erinnerung gerufen werden (zumindest für den vielleicht weniger kundigen Leser, der sie nicht präsent hatte): Sven Lüttiken diskutiert mit Silvia Maglioni und Graeme Thomson deren Versuch, das Science-Fiction-Drehbuch Un amour d'UIQ, das Félix Guattari schrieb, aber nie realisierte, in der Gegenwart zu aktualisieren, ohne dabei nur auszuführen, was einer anderen Situation entsprang. Doreen Mende wiederum ruft die gemeinsamen Arbeiten des Filmemachers Joachim Hellwig und des Drehbuchautors Claus Ritter zur „künstlerischen Gestaltung sozialistischer Zukunftsvorstellungen im Film“ – so ein Auszug aus dem langen Titel von Hellwigs und Ritters Doktorarbeit an der Karl Marx-Universität Leipzig aus dem Jahre 1975 – in Erinnerung, die unter der Bezeichnung defa futurum seit den späten 1960er-Jahren in der DDR entstanden. Schade nur, dass sich die Autorin der Auffassung anschließt, die westliche Linke habe die sozialistische Realität nie differenziert betrachtet (S. 175) – eine Einschätzung, die selbst ein Produkt der von Mende zu Recht beklagten Auslöschung von Vergangenheit nach dem Ende des Kalten Krieges ist.
Neben frischen Ideen und wichtigen Bezugnahmen auf vergangene Auseinandersetzungen mit Zukunft enthält der Band viele vertraute Verweise und Perspektiven, was weder überraschen noch übermäßig kritisch gesehen werden sollte. Aber ein Thema will ich ansprechen: Eine Reihe von Beiträgen mobilisiert eine Standardkritik des Kapitalismus, manchmal lediglich als Rahmen, der vielleicht auch nicht nötig wäre, manchmal aber auch als Leitgedanke, etwa wenn der Kapitalismus zur treibenden Kraft bei der Eliminierung oder zumindest Einebnung alternativer Zukünfte erklärt wird. Mein Einwand dagegen ist nicht, dass die Behauptung als solche falsch sei. Das Problem ist, dass dieses Denkmodell mittlerweile zu eingeübt ist, wodurch sich die Aufmerksamkeit und Empfindlichkeit für Beobachtungen und Erfahrungen, die sich einer derartigen Kritik nicht umstandslos einpassen, verringern. Es mag nützlich gewesen sein, den Begriff „Kapitalozän“ zu prägen, um die Analyse der Ursachen des Erdepochenwandels kritisch zu halten. Aber, einmal geprägt, lässt uns dessen Wiederholung irrigerweise annehmen, wir hätten bereits alles verstanden. So kritisiert etwa China Miéville zu Recht die Absurdität des Geo-engineering (S. 42). Aber mit dem Profitmotiv im Kapitalismus erklärt man besser die Beharrlichkeit der Öl- und Gasextraktion sowie der Automobilindustrie anstatt das Geo-engineering darauf zurückzuführen, das mehr mit Allmachtswahn und Überschätzung der menschlichen Kontrollfähigkeit zu tun hat. Die absurde Annahme, man könne Atommüll realistischerweise für Jahrtausende sicher lagern, war ein ähnlicher Ausdruck von Hybris, der mit Profitstreben allein nicht erklärt werden kann.
Eine Reihe von Beiträgen widmet sich dem, was ich oben als dritte Frage bezeichnet habe: den Versuchen, „die Zukunft weniger ungewiss zu machen“, so Sven Lüttiken (S. 125), oder der Frage, „wie die Schaffung von Zukunftshorizonten die Gegenwart zu formen neigt“, wie es Pedro Neves Marques formuliert (S. 192). Dies sind aufschlussreiche Betrachtungen, aber ihre Anlage macht auch ein problematisches Charakteristikum des Bandes deutlich, nämlich die Vernachlässigung bereits bestehender sozial- und geschichtswissenschaftlicher Einsichten. Die beiden oben erwähnten, hervorragenden Bücher von Jenny Andersson und Adom Getachev sind zentral für die Thematik des Bandes, aber sie werden nur in einem einzigen Beitrag, ebenjenem von Kodwo Eshun, angeführt. Das Problem, wie Ungewissheit durch soziale Prozesse, in denen Zukunftsvorstellungen geschaffen werden, verringert werden kann, steht im Mittelpunkt von Jens Beckerts Imaginierte Zukünfte, das – wenn ich nichts übersehen habe – überhaupt nicht erwähnt wird.[3] Pedro Neves Marques schreibt Michael Fortun den Begriff „vergangene Zukunft“ zu (S. 192) und nimmt weder Notiz von Reinhart Kosellecks bahnbrechenden begriffsgeschichtlichen Arbeiten zur Zeitlichkeit, unter anderem veröffentlicht unter dem Titel Vergangene Zukunft, noch von der Zeitschrift Futur antérieur, die für einige Jahre von Paris aus genau jene Verringerung von Zukunft thematisieren und problematisieren wollte, die vielen der Beiträger des vorliegenden Bandes so wichtig ist.[4]
Ich bitte, dies nicht als eine akademische Kritik der unzureichenden Berücksichtigung eines Forschungsstandes zu verstehen. Mich beunruhigt vielmehr die Spaltung von Diskursen, die hier deutlich wird. Meine eigene Perspektive überlappt sich sicher stark mit denjenigen Ansätzen, deren Abwesenheit ich gerade angemerkt habe. Ich habe den Band mit großem Gewinn und Horizonterweiterung gelesen und würde daher hoffen, dass dies den Beiträgern umgekehrt auch so gehen würde, nähmen sie Notiz von weitgehend parallel geführten Diskussionen.
Der voranstehende Absatz sollte in diesem Sinne als Einladung zur Diskussion über Grenzen von Genre und Gestus hinweg verstanden werden. Um ein bisschen deutlicher zu machen, worum sich eine solche Diskussion drehen könnte, möchte ich abschließend ein Thema ansprechen, das sich durch den Band zieht, ohne jemals richtig zentral zu werden. Nennen wir es die Ordnung der Vergangenheit im Hinblick auf Zukünftigkeit.
Um seine Absicht, die Geschichtlichkeit der Zukunft zu untersuchen, einzulösen, ist der Band übersät mit Bemerkungen zu Epochenbrüchen und Epochenwandel. Sie reichen vom Aufkommen einer „inflationären Form philosophischer Spekulation“ (S. 10) im späten 18. Jahrhundert bis zur Erschöpfung des historischen Bewusstseins und dem Ende der Zukunft in den 1970er-Jahren (S. 8, S. 23 und anderswo); eine Periodisierung, der Koselleck und andere zustimmen würden. Zwischen diesen beiden Geschichtspunkten werden andere angesiedelt, die überwiegend der ‚progressiven‘ Lesart der Geschichte entnommen sind, aber die Zweifler am Fortschritt mit einschließen – Karl Marx, Rosa Luxemburg, Walter Benjamin. Gegenwartsnah verwischen dann die Konturen, zugleich wird – eine Stärke des Bandes – die Geschichte elementhaft neu geschrieben, und zwar als globale Geschichte mit miteinander verwobenen Weltregionen, die Zukünftigkeit in oft sehr unterschiedlicher Weise konstruieren. Unter diesem Blickwinkel gelesen, entsteht ein facettenreiches Bild, aber vielleicht müsste man eher sagen: ein form- und farbenreiches Mosaik, das sehr ergänzungsbedürftig bleibt. Der Band bietet eine reiche Kunst- und Ideengeschichte von Zukünftigkeit, und das ist keine geringe Leistung. Die Einladung würde sich also darauf beziehen, dies mit einer Sozialgeschichte zu verknüpfen, auf die hier zwar oft gezeigt, die aber nicht eingebunden wird. Und mehr: In Anbetracht der Tatsache, dass nichts weniger als die Zukunft des Planeten im Mittelpunkt unserer gegenwärtigen Zukünftigkeit steht, wie zu Recht, aber mehr als Geste denn in der Sache, hervorgehoben wird, sollte zudem die Geschichte unseres Naturverhältnisses ebenfalls einbezogen werden. Aber solche Verknüpfungen sind wohl vorerst noch eine Sache der Zukunft.
Fußnoten
- Dieses und alle folgenden Zitate wurden von mir übersetzt (P.W.).
- Jenny Andersson, The Future of the World. Futurology, Futurists, and the Struggle for the Post-Cold War Imagination, Oxford 2018; Adom Getachev, Worldmaking after Empire. The Rise and Fall of Self-Determination, Princeton, NJ 2019.
- Jens Beckert, Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, Berlin 2018.
- Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1983; Futur antérieur. Politique, sociologie, philosophie, psychanalyse, culture, Paris 1990–1998.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Zeit / Zukunft Kultur Kunst / Ästhetik Kolonialismus / Postkolonialismus
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