Dirk Baecker | Essay |

„Where is the Art?“

Über das Organisationsversagen der documenta fifteen

Kunst und Kultur

Kunst braucht Rahmung. Kunst plus Rahmung ergibt Kultur, die Kunst ermöglicht, zugleich aber auch gefährdet. Ausstellungen, Museen, Theater, Konzerthäuser und Lesungen sind kulturelle Einrichtungen respektive Veranstaltungen zur Präsentation von Kunst. Daher empfiehlt es sich, die Worte Kunst und Kultur nicht in einem Atemzug zu verwenden, denn: Kunst ist die Auseinandersetzung mit dem Wahrnehmbaren jenseits gesellschaftlicher Konvention, Kultur ist der Aufruf gesellschaftlicher Werte zur Annahme oder Ablehnung des Gegebenen, des Erinnerten, des Erwarteten. Kunst lebt von Irritationen, die durch Kultur akzeptabel werden. Um die Produktivität der Irritation durch das Schöne, das Hässliche, das Erhabene, das Stimmige, das Unstimmige, die überraschende Form[1] ist es dann schon geschehen; man nimmt nur noch die Rahmung wahr. Andererseits ist es diese Rahmung, die die Produktivität überhaupt erst ermöglicht. Das Erlebnis von Kunst ist auf eine Kultur angewiesen, die sich im Moment des Erlebens zurücknimmt. Man sieht den Akt des Kuratierens – und sieht von ihm ab.[2]

Kompliziert wird die Unterscheidung zwischen Kunst und Kultur, wenn man in Rechnung stellt, dass es sich bei Kunst um keinen einsamen Akt des in seinen Körper und Geist zurückgezogenen Individuums handelt, sondern um einen Moment gesellschaftlicher Resonanz. Kunst ist ein kommunikativer Akt. Sie wird zur Kunst, wenn jemand sie dem Blick anderer aussetzt und jemand sie als Kunst betrachtet; alles andere ist Selbstbefriedigung. Zwischen dem Kunstwerk und seiner Betrachtung herrscht ein Einverständnis, wie mühsam auch immer dieses zu erarbeiten sein mag, das sich in der Gesellschaft von der Gesellschaft ab- und dem Wahrnehmbaren zuwendet. Nichts ist schwieriger als der kuratierende Akt, der dieses Einverständnis ermöglichen will, sich genau dafür jedoch auf Kultur berufen muss. Etwas zu zeigen, bedeutet, Werte aufzurufen, die behaupten, dass es etwas zu sehen gibt. Es gibt keine Garantie dafür, dass diese Werte irgendetwas mit dem exponierten Kunstwerk zu tun haben, noch mit den Motiven, dank derer die Betrachtenden für einen Moment innehalten. Zwischen die Werte der Kultur, auf die sich das Kuratieren beruft, und die Produktivität der künstlerischen Irritation schiebt sich eine „Politik“, die im schlimmsten Fall selbst auffällig wird und die Werte ebenso wie die Kunst durch ihre Instrumentalisierung ruiniert. Wie heißt es so schön? Wenn Kunst nur „illustriert“, ist es um sie geschehen.

Kein Kuratieren des Kuratierens

An diesen schon hinreichend vertrackten Sachverhalt rund um die Kommunikation von Kunst ist zu erinnern, wenn hier die Diskussion um die documenta fifteen aufgenommen wird. Hochgradig individuelle, um nicht zu sagen idiosynkratische Motive der Kunstproduktion und -wahrnehmung stehen in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zu jenen kuratorischen Akten, die zugleich ihre Voraussetzung sind. Das indonesische Kunstkollektiv ruangrupa, das die Ausstellung vor ziemlich genau einem Jahr, im Sommer 2022, in Kassel kuratierte, hatte es wegen seines von europäischen Gewohnheiten abweichenden Kunstverständnisses ohnehin schwer, doch der Skandal um die in einigen Werken der documenta gezeigten antisemitischen Symbole hat den Zugang zur Kunst des Globalen Südens in der öffentlich geführten Diskussion zusätzlich erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. Das Künstlerkollektiv ruangrupa vertritt ein aktivistisches Kunstverständnis, das dem klassischen und romantischen Kunstverständnis europäischer Tradition so gar nicht entspricht. Kunst und Kultur sind in diesem Fall noch schwerer voneinander zu trennen, weil kein autonomes, gar individuell-genialisches Kunstverständnis zusätzliche Deckung gibt. Ganz selbstverständlich werden kulturelle Werte der Mobilisierung von Wahrnehmung in Anspruch genommen, deren künstlerischer Gehalt erst durch die Praxis einer bestimmten Art von Versammlung deutlich werden kann. Doch ist das Ziel dieser Praxis keine innehaltende Betrachtung, wie sie möglichst schweigend von europäischen Betrachter:innen erwartet wird, sondern es sind Übungen eines abweichenden Umgangs mit Material, Text und allen Sinnen.

Die Jury des Aufsichtsrats der documenta hatte das Künstlerkollektiv ruangrupa vermutlich nicht zuletzt wegen dieses Kunstverständnisses ausgewählt. Anschließend ließ man dem Kollektiv, abgesehen von finanzieller und logistischer Unterstützung, freie Hand, offenbar begleitete niemand seine kuratorische Arbeit. Als Fälle der Verwendung antisemitischer Symbole durch das indonesische Kollektiv Taring Padi und palästinensischer Propaganda in den „Tokyo Reels“ des Kollektivs Subversive Film bekannt wurden, berief man sich auf die Freiheit der Kunst gemäß Art. 5 GG. Tatsächlich deckt dieser Artikel auch die Verbreitung antisemitischer Symbole ab, solange sie nicht entweder gegen das Verbot der Diskriminierung durch staatliche Behörden (Art. 3 GG) verstoßen oder den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen (§ 130 StGB). Fälle von Antisemitismus werden in den bundesrepublikanischen Gesetzen explizit nur im Strafgesetzbuch erwähnt; § 46 StGB regelt, dass antisemitische Beweggründe eines Täters bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müssen. Wenn jedoch keine strafrechtlich bewährte Tat vorliegt, kann es auch keine Strafzumessung geben. Folglich handelte die Leitung der documenta in juristischer Hinsicht rechtens, verstieß jedoch gegen den politischen Konsens, antisemitische Symbole in keinem öffentlichen Zusammenhang zu dulden. Judenhass kann aus historischen, politischen und moralischen Gründen in Deutschland mit keiner Toleranz rechnen. Es ist daher eines, den Artikel der Kunstfreiheit aufzurufen, um sich schützend vor die Leitung der documenta zu stellen,[3] etwas ganz anderes ist jedoch die Frage, ob Aufsichtsrat und Geschäftsführung mit ihrer Untätigkeit nicht fahrlässig den Erfolg ihrer eigenen Ausstellung aufs Spiel setzten.

Tatsächlich verstellt die Berufung auf die Kunstfreiheit den Blick auf einen eklatanten Fall von Organisationsversagen. Aufsichtsrat und Geschäftsführung der documenta riskierten, ohne darüber zunächst Rechenschaft abzulegen, den Misserfolg einer Ausstellung, die angetreten war, die künstlerische Arbeit des Globalen Südens lebendig und erfahrbar zu machen. Um Organisationsversagen handelt es sich deswegen, weil keinerlei Verantwortung – weder für die Ausstellung noch für die Arbeit des Kuratorenkollektivs – übernommen wurde. Jede Begleitung der kuratorischen Arbeit endete abrupt mit dem Zeitpunkt der Beauftragung. Wie ist dieser harte Schnitt zu erklären? Und was hätte passieren müssen, um auf der einen Seite den Erfolg oder auch nur die Akzeptanz einer Ausstellung zu gewährleisten, ohne auf der anderen Seite die Freiheit der Kunst einzuschränken?

Kunst als Prozess

Erklären lässt sich der harte Schnitt zwischen Auftragserteilung und Ausführung offenbar mit einem Verständnis künstlerischer Werke, das diese als abgeschlossen betrachtet und in dieser Form der Kunstfreiheit unterstellt. Folgt man diesem Verständnis, öffnet sich erst im Anschluss an die Ausstellung Raum für Diskussionen und Kritik. Denn sobald der Kurator oder die Kuratorin bestellt ist, kann diese Person umsetzen, was immer ihm oder ihr beliebt. Die Ausstellung wird als fertiges Konzept betrachtet, bevor die Arbeit an ihrer Umsetzung auch nur begonnen hat. Allenfalls vertragliche, finanzielle, technische und logistische Fragen sind zu klären. Inhalte der präsentierten Kunst bleiben außen vor beziehungsweise sind als erfreuliche oder unerfreuliche Überraschungen hinzunehmen und erst im Anschluss auf ihren ästhetischen und kunsthistorischen Wert zu beurteilen. Es ist, als würde man eine Entscheidung treffen, die nur noch hinsichtlich ihrer historischen Bewertung offen ist, jedoch nicht für Steuerung, Moderation und Kalibrierung.

Mit anderen Worten: Es mangelt an einem Prozessverständnis sowohl für die künstlerische als auch für die kuratorische Arbeit. Was in den darstellenden Künsten längst üblich ist, scheint in den bildenden Künsten weitgehend Neuland zu sein. Vor allem dort, wo bewusst kuratiert und inszeniert wird – etwa im Theater der freien Szene, wo Produktionshäuser mit unabhängigen Gruppen kooperieren –,[4] geht man davon aus, dass eine Aufführung oder eine Ausstellung das Ergebnis eines gemeinsamen Prozesses ist, in dem ästhetische Absichten und Möglichkeiten laufend mit dem Profil eines Hauses oder eines Festivals abgeglichen werden. Die Rahmung der Kunst wird nicht nur als eigenständige strategische Variable begriffen, sondern es wird verstanden und explizit, dass die Rahmung auf die Kunst durchschlägt. Das schließlich präsentierte Werk ist ohne seine Produktionsverhältnisse nicht zu denken. Man sieht sie ihm an, so wie man bei vielen Ausstellungen und Aufführungen im Theater und Konzert auch sieht und hört, dass bei ihrer Konzeption kein Gedanke auf diese Verhältnisse verschwendet wurde, weil man sich in der glücklichen Lage glaubt, auf bewährte Verfahren zurückgreifen zu können.

Die Diskussion über diese merkwürdige Ausblendung läuft vielfach unter dem Label der Institutionenkritik. Doch darunter fällt nicht nur das Thema des Machtmissbrauchs, sondern auch die Frage, wer mit welchem Engagement, Sachverstand, Recht und strategischem Wissen an der Kunstproduktion zu beteiligen ist. Kunst ist längst nicht mehr nur das Ergebnis eines Prozesses im „hermeneutischen Zirkel“ von Künstler:in, Betrachter:in und Werk,[5] sondern Kunstproduktion erfolgt in einem Netzwerk. Ihre Ausdifferenzierung zur Kunst in der Gesellschaft ist nicht mehr an das individuelle Genie und seine Zuträger und Bewundererinnen, sondern an eine von Vielen geteilte Praxis gebunden, die an neuen und überraschenden Formen der Herstellung von Wahrnehmung ihr Weltverständnis überprüft und überholt.

Es ist nicht ohne Ironie, dass die für die documenta fifteen ausgewählten Kollektive fast ohne Ausnahme über die Formate ihrer künstlerischen Arbeit nachdenken und diese Formate auch im Rahmen der Ausstellung präsentierten. Denn für die Leitung der documenta spielte die Format-Frage offenbar keine Rolle. Mit den Räumen, die man in der Stadt zur Verfügung stellte, schien sie den Verantwortlichen bereits ausreichend beantwortet. Dass auch die Kunst einen Prozess der Wertschöpfung durchläuft, der durch Schnittstellen zu Vorleistungen, zur Einbettung in lokale Aktivitäten und zum Publikum nicht nur gekennzeichnet ist, sondern dank dieser Schnittstellen auch aktiv und alternativ gestaltet werden kann,[6] kam der documenta-Leitung nicht in den Sinn, obwohl genau dieser Umstand durch die künstlerischen Kollektive auf der documenta fifteen mit großer Wirkung gezeigt wurde. Denn wenn man auf jede Selbstverständlichkeit in der Gestaltung, Präsentation und Diskussion von Kunst verzichtet, ist das Ergebnis zwangsläufig eine künstlerische Arbeit, die ohne den Widerstand der Orte, Werke und Betrachter nicht zu denken ist. An die Stelle dieses produktiven Widerstands trat in Kassel die Ablehnung, als es für jeden Eingriff, abgesehen von der Entfernung fragwürdiger Kunstwerke, schon längst zu spät war.

Mit Blick auf die Garantie der Kunstfreiheit und aus Sorge um die vielbeschworene Autonomie der Künste hat die documenta-Leitung eine kuratorische und in dieser Hinsicht künstlerische Koproduktion verweigert, die man nicht als Teil des eigenen Auftrags begreift. Korrigieren kann man diesen Mangel nur, indem man auch in der bildenden Kunst sowie in Fällen staatlich geförderter Ausstellungen über Formen der „Governance“ nachdenkt, die eine Verschränkung produktiver Leistungen ermöglicht, ohne Autonomiespielräume zu gefährden.[7] Governance ist typischerweise eine Form der indirekten Kontrolle. Sie setzt darauf, dass beteiligte Akteure sich nicht nur selbst kontrollieren, sondern Mittel und Wege finden, sich über den Nachweis dieser Selbstkontrolle untereinander zu vernetzen. Man vertraut sich exakt insoweit, wie der andere den Umgang mit sich selbst offenlegt. Es liegt auf der Hand, dass diese Art der Vernetzung nicht über die wechselseitige Konfrontation mit faits accomplis, sondern nur über prozessuale Öffnung und wechselseitige Moderation gelingen kann, innerhalb derer – das liegt ebenfalls auf der Hand – Machtchancen ungleich verteilt sind. Die Auseinandersetzung mit Macht, immerhin Teil jeder Ermöglichung, ist selbst Gegenstand der künstlerischen und dann auch kuratorischen Arbeit.

Autonomie und Governance

Die Versöhnung von Autonomie und Governance liegt in einem Prozess, aus dem Gewinner und Verlierer hervorgehen. In diesem Prozess kann sich nur behaupten, wer, ohne allfälligen Trotz, über genügend Eigensinn verfügt. Auch im Fall der Kunst ist nicht garantiert, dass sich widerständige Momente durchsetzen. Und doch handelt es sich um einen Prozess, der über das jeweilige Projekt hinausgeht und daher alle Beteiligten zwingt, ihre Chancen auf zukünftige Projekte nicht dadurch zu verspielen, dass sie zu reibungsloser Komplizenschaft bereit sind. Die documenta-Leitung hat genauso einen Ruf zu verlieren wie jedes einzelne Künstlerkollektiv, das sich dort beteiligt hat, ja sogar wie das Publikum, das sich in Kassel blicken und auf die Angebote der Künstler:innen einließ oder nicht. Seine Grenze findet der Prozess ausschließlich in der Selbstgefälligkeit der Akteure.

Ohne diese Selbstgefälligkeit könnte man an einem Stufenmodell arbeiten, das zwischen der Bundeskulturstiftung, Stadt und Land Kassel, dem Aufsichtsrat und der Geschäftsführung der documenta sowie der künstlerischen Leitung eine Form der Governance etabliert, in der alle Beteiligten sich dem Risiko stellen, mit der jeweils geplanten Ausstellung zu scheitern. Das verlangt Sprachfähigkeit auf allen Seiten.

In einem solchen Stufenmodell würde die Erteilung eines Auftrags an die künstlerische Leitung der documenta nicht als das Ende, sondern als Beginn der gemeinsamen Arbeit von Geschäftsführung, Aufsichtsrat und Jury verstanden werden. Die dafür geeigneten Formate wären noch zu entwickeln. Wichtig wäre zudem, dass diejenigen, die finanzielle Mittel und Räume bereitstellen, zugleich als Kennerinnen und Vertreter lokaler Kontexte, Profile und Empfindsamkeiten (Kassel, Hessen, Deutschland…) auftreten und nicht etwa unter der Annahme agieren, eine Ausstellung werde so oder so an imaginären Weltstandards gemessen und so oder so ein umstrittenes Ergebnis haben, und jede Verantwortung abgeben. Damit würde – das erforderliche Fingerspitzengefühl vorausgesetzt (ist das so unwahrscheinlich?) – nicht in die Kunst hineinregiert, sondern der künstlerischen Leitung die Gelegenheit gegeben, ihre eigenen Absichten und Möglichkeiten zu schärfen und zu überprüfen.

Die kuratorische Leistung im Wertschöpfungsprozess der Ausrichtung einer Ausstellung besteht nicht nur darin, „flussabwärts“ für die passenden künstlerischen Werke zu sorgen, sondern auch darin, sich „flussaufwärts“ mit dem Auftraggeber abzustimmen. Diese im besten Sinne „dramaturgische“ Leistung ist nicht nur eine Arbeit an Einschränkungen (die es so oder so gibt), sondern auch eine an der Profilierung der Ausstellung. Sie dient einem lokalen Erfolg, der ohne die Kenntnis aller Beteiligten nicht zu haben ist. Das kommunikative Erlebnis von Kunst ist unwahrscheinlich. Durch die guten Absichten der Künstler:innen allein kann es nicht sichergestellt werden. Es bedarf jener Kultur der Abstimmung mit den gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen, in die jede Kommunikation vielfältig und letztlich unberechenbar eingebettet ist. Die Kunst besteht darin, diese Kultur zum Tragen zu bringen und im gleichen Zug zurückzunehmen. Denn das Endprodukt einer Ausstellung ist Kunst, nicht Kultur – oder doch?[8]

Die Arbeit an einer Kunstausstellung hat es einfacher als Governance-Modelle in Politik und Wirtschaft. Ihr Maßstab ist die produktive Irritation – Akzent auf „produktiv“. Wird man diesem Maßstab gerecht, kann die Ausstellung nicht scheitern. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit ist vor der produktiven Irritation eines nicht individuellen, sondern gemeinschaftlichen Kunstverständnisses in die Knie gegangen und hat die Verteidigung alter wie berechtigter Tabus an deren Stelle gesetzt. Dieses gemeinschaftliche Kunstverständnis besteht darin, die Autonomie ästhetischer Erfahrung nicht vom Alltag der Lebensführung abzugrenzen, sondern in diesen Alltag einzubetten. Die Kunst wird zum Totem, zum Poster, zur Parole, zur Bastelei, die man nur versteht, wenn man versteht, welche Irritation sie in welchem Alltag auslöst. Antisemitische Symbole werden dadurch selbstverständlich nicht entschuldigt, geschweige denn gerechtfertigt. Dennoch werden sie aus einem Kontext heraus lesbar,[9] über dessen Zulässigkeit und Verfügbarkeit von allen Beteiligten bewusste Entscheidungen hätten getroffen werden müssen, die sogar – warum nicht? – zum Gegenstand der Ausstellung hätten werden können. Governance-Modelle erhöhen und ermöglichen den Entscheidungsaufwand. Doch das ist in einer Gesellschaft, die vielfältig, überraschend und konfliktbereit in manifeste wie latente Strukturen und Semantiken vernetzt ist, das Mindeste, was man sich leisten sollte.

Das Organisationsversagen der documenta fifteen besteht darin, dass man darauf verzichtet hat, der Suche der Kuratoren nach einer im lokalen, regionalen und überregionalen Zusammenhang interessanten Aussage zum Stand der Kunst außerhalb europäischer Traditionen beizustehen. Der Verzicht auf Governance, das heißt auf eine Begleitung der Arbeit am Profil der Ausstellung, ließ es zu, dass die in Deutschland inakzeptable und andernorts mindestens unreflektierte Verwendung antisemitischer Symbole die Diskussion der interessanten Botschaft der Ausstellung blockierte. Es spricht für das Publikum vor Ort, dass es sich die Neugier dennoch nicht nehmen ließ. Die massenmediale Aufregung jedoch geht zu Lasten der Veranstalter.

  1. Siehe zu Unsicherheiten in der gesellschaftlichen Codierung von Kunst Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995.
  2. Siehe Harald Szeemann, Ausstellungen machen, in: Anke te Heesen / Petra Lutz (Hg.), Dingwelten: Das Museum als Erkenntnisort, Köln 2004, S. 25–37. Und vgl. Karen van den Berg / Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Politik des Zeigens, München 2010; Wiebke Gronemeyer, The Curatorial Complex: Social Dimensions of Knowledge Production, München 2018; Annette Tietenberg, Was heißt „kuratieren“ heute? Potenziale für transnationale Kooperationen, Stuttgart 2021.
  3. Siehe Christoph Möllers, Grundrechtliche Grenzen und grundrechtliche Schutzgebote staatlicher Kulturförderung: Ein Rechtsgutachten im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, 24. Januar 2023; und dazu sein Interview „Fatal, die Kunst unter Aufsicht zu stellen“ in der Süddeutschen Zeitung vom 20. Januar 2023.
  4. Siehe jüngst Katrin Dod / Patrick Wildermann, Producing Performing Arts: Aus dem Maschinenraum der freien darstellenden Künste, Berlin 2023; und vgl. Kai van Eikels, Die Kunst des Kollektiven: Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, München 2013; sowie Gesa Ziemer, Komplizenschaft: Neue Perspektiven auf Kollektivität, Bielefeld 2013.
  5. Siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 270 ff.
  6. Siehe auch Dirk Baecker, Von der Einheit der Institution zur Differenz der Formate, in: ders., Wozu Theater? Berlin 2013, S. 115–129.
  7. Siehe dazu Renate Mayntz, Über Governance: Institutionen und Prozesse politischer Regelung, Frankfurt am Main 2009.
  8. Im HANDBUCH documenta fifteen, Berlin 2022, S. 14 f., dokumentiert ruangrupa anhand eines Schaubilds die Timeline der Arbeit an der Ausstellung, an deren Ende die Frage steht: „Where is the Art?“.
  9. Siehe Erhard Schüttpelz, Ikonograpfie am Scheideweg: Ein Dialog zur documenta fifteen, in: Merkur Blog Online, 2. September 2022.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kolonialismus / Postkolonialismus Kultur Kunst / Ästhetik Öffentlichkeit Rassismus / Diskriminierung

Dirk Baecker

Professor Dr. Dirk Baecker ist Soziologe und lehrt Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke.

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