Peter Bescherer | Literaturessay |

Wie Gewerkschaften und soziale Bewegungen durch Organizing der Demokratie auf die Sprünge helfen können

Literaturessay zu „People, Power, Change. Organizing for Democratic Renewal“ von Marshall Ganz, „Changemakers. Radical Strategies for Social Movement Organising“ von Jane Holgate und John Page sowie „Undivided. The Quest for Racial Solidarity in an American Church“ von Hahrie Han

Seit Jahren diskutieren Sozialwissenschaftler:innen in Deutschland erhitzt über die Erfolge rechter Parteien und Bewegungen. Während die einen den Sympathisant:innen von AfD, Identitärer Bewegung & Co. „Notwehr“ gegen Modernisierungsverluste zubilligen, halten die anderen dagegen, Rassismus müsse als eigenständige Denk- und Handlungsform begriffen werden. Die Unterschiedlichkeit solcher Perspektiven und Gewichtungen hält sich, zumeist werden jedoch die Gleichzeitigkeit und Verschränkung von sozioökonomischen, kulturellen und politischen Gründen für das Erstarken von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus angeführt.[1] Sozioökonomische Gründe liegen demnach im tatsächlichen oder befürchteten Verlust materieller Sicherheiten, die Einzelne und ihre Familien oder auch ganze „abgehängte Regionen“ betreffen können. Die im weitesten Sinne kulturellen Gründe umfassen die Wirksamkeit von Ideologien, habitualisierte Verhaltensweisen oder auch den aus gesellschaftlichem Wandel resultierenden Verlust von Privilegien. Politische Ursachen wiederum werden in Repräsentationsdefiziten der liberalen Demokratie, mangelnder Responsivität von politischen Entscheidungen und fehlenden Mitbestimmungsmöglichkeiten gesehen.

Ebenso unterschiedlich wie die analysierten Ursachen des Rechtsrucks gestalten sich auch die vorgeschlagenen Gegenstrategien. Letztere fordern eine stärkere Umverteilung sowie mehr soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, um die Lücke zwischen Arm und Reich zu verkleinern. Zudem müssten Infrastrukturen ausgebaut und die öffentliche Daseinsvorsorge gestärkt werden. Zur Eindämmung rassistischer Ideologien wird Bildungsarbeit empfohlen, Begegnungszentren sollen Vorurteile, etwa gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichte, abbauen; der Politikverdrossenheit könne schließlich durch mehr Partizipation und Bürgerbeteiligung sowie eine bessere politische Kommunikation abgeholfen werden.

Soziale Bewegungen, die ebenfalls ein Mittel zur Sichtbarmachung von Forderungen sind, stechen in diesem Reigen von Maßnahmen entweder durch ihr besonders offensives oder auch konfrontatives Auftreten heraus, etwa in Form von Großdemonstrationen („Unteilbar“) oder Aktionen des zivilen Ungehorsams („Widersetzen“). Diese Art des Mobilizing sei an sich nicht falsch, so der Tenor der drei hier besprochenen Bücher. Es erreicht in der Regel jedoch nur die ohnehin Überzeugten oder lässt die Teilnehmer:innen einer Protestaktion anschließend in ihrem neu gefundenen Tatendrang allein zurück. Darum plädieren der US-amerikanische Soziologe und langjährige Grassroots Campaigner Marshall Ganz, die Gewerkschaftsforscher:innen und Aktivist:innen Jane Holgate und John Page sowie die Politikwissenschaftlerin Hahrie Han dafür, das Organizing als Handlungsansatz sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Initiativen (wieder) zu entdecken und verstärkt einzusetzen.

Doch was genau ist eigentlich Organizing? Es handelt sich dabei um eine Methode, bei der Menschen mit ähnlichen Interessen und Problemen aktiv zusammengebracht, vernetzt und befähigt werden, kollektiv für ihre Anliegen einzutreten und so Veränderungen herbeizuführen. Mobilisierung und Empowerment von Menschen steht dabei im Mittelpunkt, sei es in der Nachbarschaft (Community Organizing) oder im gleichen Betrieb (Gewerkschafts-Organizing). Systematisch betrachtet handelt es sich um den Aufbau von Organisationsmacht. Diese ist – neben der strukturellen Macht im Produktionsprozess, der in Rechten verkörperten institutionellen Macht und der durch Bündnisarbeit generierten gesellschaftlichen Macht – eine derjenigen Ressourcen, die Lohnarbeiter:innen dazu befähigen, ihre Interessen durchzusetzen. Ursprünglich von der Forschung zu Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften entwickelt,[2] lässt sich das Konzept auch auf andere kollektive Akteure wie beispielsweise Mieterinitativen oder Parteien übertragen. Die Macht einer Organisation beruht auf der Masse ihrer Mitglieder sowie auf der Art und Weise, in der sie zusammenhalten und -arbeiten. Organizing rückt die Beteiligung und Erweiterung der sozialen Basis in den Mittelpunkt des Organisationslebens und fördert ein Wir-Gefühl, das sich aus dem Bewusstsein für den Interessengegensatz (zum Arbeitgeber, zum Wohnungskonzern etc.) speist. Historische Vorläufer hat das heute diskutierte Organizing in der US-amerikanischen Arbeiterbewegung der 1930er-Jahre und der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre. Als Community Organizing ging es auch in den Methodenkasten der Sozialen Arbeit ein. Angeregt von Debatten um die Revitalisierung der Gewerkschaften in den USA ist das Konzept seit etwa Mitte der Nullerjahre auch in Deutschland anzutreffen, etwa in der IG Metall und bei ver.di. In jüngster Zeit haben insbesondere die Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst (Krankenhäuser, ÖPNV, kommunale Dienste) Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Mit der sich in den Großstädten zuspitzenden Wohnungskrise haben sich schließlich seit etwa 2010 auch mieten- und wohnungspolitische Initiativen den Ansatz zu eigen gemacht.

Charakteristisch für Organizing ist die große Offenheit gegenüber potenziellen Mitgliedern. Weder politische Vorerfahrungen noch das kulturelle Herkunftsmilieu spielen eine Rolle: Alle sind willkommen, die das kollektive Interesse teilen. Neben dem Anspruch, gesellschaftliche Mehrheiten für eine Bewegung gegen soziale Ungleichheiten zu gewinnen, macht gerade dieser Aspekt Organizing interessant für die Debatte um den Umgang mit gesellschaftlicher Polarisierung und Rechtspopulismus. Denn indem es die Bubbles und Echoräume des linken Aktivismus verlässt, birgt Organizing sowohl eine Chance als auch eine Herausforderung. Eine Chance ist, dass sich auf der Grundlage des „übergeordneten“ Organisationsziels rassistische Ansichten ernsthaft problematisieren lassen und Solidarität praktisch erfahrbar wird. Eine Herausforderung hingegen ist, dass die Spannung zwischen Einheit und Differenz der Mitglieder fortwährend und klug ausbalanciert werden muss.

Was steuern die besprochenen Bücher zur Frage nach effektiven Strategien gegen Rassismus und Rechtspopulismus bei? Die Autor:innen sind sowohl akademisch versiert als auch praktisch erfahren. Vor diesem Hintergrund greifen sie auf soziologische und politikwissenschaftliche Forschung zurück, generieren teils selbst empirisch fundiertes Wissen (Han). Sie legen hier jedoch keine Fachpublikationen vor, sondern verfolgen politisch-programmatische Absichten (Macht mehr Organizing!) und vermitteln Erfahrungen (Es funktioniert!). Darüber hinaus geben sie Anregungen für Leser:innen, die selbst schon aktiv sind oder es werden wollen, indem sie Beispiele aus der Geschichte sozialer Bewegungen heranziehen und Leitfragen für die Entwicklung der eigenen Theory of Change formulieren. Das Buch von Marshall Ganz hat einen vergleichsweise starken pädagogischen Charakter; mit ausführlichen Kapiteln zu Relationship Building, Storytelling, Strategizing, Action und Structure führt es in das Organizing-Handwerk (craft) ein. Ebenso wie Ganz aus seiner Beteiligung an der Bürgerrechtsbewegung, an Arbeitskämpfen und Wahlkampagnen in den USA schöpfen kann, blicken auch Jane Holgate und John Page auf eine langjährige politische Biografie zurück. Ziel ihres Buches ist es, „to constantly review real-life campaign experiences“ (Holgate/Page, S. 3), die aus der Praxis von Gewerkschaften, Nachbarschaftsinitiativen, Tierrechts- und Antifa-Gruppen stammen. Hahrie Hans ethnografische Studie schließlich nimmt die Adressat:innen von Organizing in den Blick, berichtet aber auch davon, wie die Autorin selbst „began to see old things with new eyes“ und „confronted racism in their personal relationships“ (Han, S. 14).

Die drei Bücher stellen einen reichen Schatz an Erfahrungen, Wissen, Kenntnissen und Diskussionsanstößen aus der Welt der Social Justice Movements bereit. Im Folgenden sollen ihre zentralen Überlegungen und Erkenntnisse für die praktische Kritik von Rassismus, Rechtsdrift und Entdemokratisierung wiedergegeben werden.[3] Diese lassen sich in vier zentrale Aufgaben unterteilen: 1. die intellektuelle und moralische Führung übernehmen und gestalten, 2. Diversität in den Organisationstrukturen gewährleisten, 3. die Organisationen mit einer inklusiven kollektiven Identität ausstatten und 4. Ausdauer beweisen sowie tragfähige persönliche Beziehungen aufbauen.

1. Intellektuelle und moralische Führung

Das Konzept der intellektuellen und moralischen Führung stammt von dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1891–1937).[4] Seine Auffassung von Zivilgesellschaft als Terrain der Auseinandersetzung um kulturelle Hegemonie ähnelt stark dem Verständnis, das Marshall Ganz von Leadership entwickelt, ohne Gramsci zu erwähnen. Holgate/Page beziehen sich explizit auf Gramsci, wenn sie über den Konflikt zwischen „dominant narratives“ und „counter-narratives“ (Holgate/Page, S. 153 ff.) sowie „transformational conversations“ zum Zwecke der Mitgliedergewinnung (Holgate/Page, S. 167 ff.) schreiben. Gramsci sah die Aufgabe einer revolutionären Bewegung darin, ihre Weltauffassung in anderen gesellschaftlichen Gruppen zu verankern. Es geht in anderen Worten um Führung – aber nicht in Form von Kontrolle oder gar Manipulation, sondern als Herausarbeitung der Widersprüche zwischen konformistischen und kritischen Anteilen, die im Alltagsdenken der „Geführten“ häufig vorherrschend sind: „someone may believe that we should do everything we can to provide support for refugees from the horrors of war zones, but also accept that we need to ‚stop the boats‘ bringing those self-same refugees to our shores“ (Holgate/Page, S. 141). Solange diese – in der Gramsci-Forschung so bezeichnete – „Zerrissenheit des Alltagsverstandes“[5] fortbesteht, tun es auch Ausbeutung und Unterdrückung. In ähnlicher Weise stellt Ganz „organizing for democratic renewal“ einem „fear-based organizing“ gegenüber, wie Trump und die MAGA-Bewegung es praktizieren. Ganz schreibt:

„Social movements based on hope can expand democratic access, even as social movements based on fear can constrain democratic access. It took movements of the latter to put us in this mess, and it will take movements of the former to get beyond it.“ (Ganz, S. 13)

Holgate/Page formulieren aus, was eine solche Art der Führung auf der Handlungsebene bedeutet: „[L]eadership is about enabling others to achieve results, rather than direction, managing and expecting people to follow blindly“ (Holgate/Page, S. 112). Führung besteht dann gerade darin, andere in Verantwortung zu bringen und ihnen die „permission to utilise their leadership skills“ (Holgate/Page, S. 125) zu geben; wie schon bei Gramsci sollen Lernende zu Lehrenden werden und umgekehrt.[6] Dieses Modell bricht mit oligarchischen Strukturen und geht das Problem an, dass häufig auch soziale Bewegungsorganisationen „don’t reflect the gender or ethnic diversity of the wider movement“ (Holgate/Page, S. 122). Leader sind also nicht unbedingt diejenigen, die sich selbst als solche betrachten oder einen entsprechenden Posten innehaben. Vielmehr kann jede Person eine Führungsrolle übernehmen, wie etwa im Fall der Bürgerrechtsbewegung, wo Friseurinnen eine kommunikative Schlüsselstelle im Netzwerk der Schwarzen Communities einnahmen und so die Bewegung voranbrachten.

Quer zu diesen (teils impliziten) Bezügen auf den Marxisten Gramsci liegen die (expliziten) Anleihen, die Ganz der politisch schillernden Theorie des Kommunitarismus entnimmt. Dem Ansinnen einer nicht-übergriffigen Arbeit am Alltagsverstand gibt er damit ein Wertefundament. Statt eines problemlösenden Herangehens an den Organisationsaufbau empfiehlt er, nach geteilten Vorstellungen des Guten, also positiver Werte wie Menschenwürde, Familie, Gemeinschaft, zu suchen. Solche geteilten Werte einer Community seien derart tief in ihrer Geschichte verwurzelt, dass sie als „Verpflichtungen, die wir nicht selbst gewählt haben“ (so der Kommunitarist Michael Sandel) eine starke Motivation und Hoffnung im Kampf für Gerechtigkeit darstellen. Darin liegt eine Spannung, weil die Werte einerseits stabiler erscheinen als die Zerrissenheit des Alltagsverstandes (siehe oben) erwarten ließe. Andererseits soll Organizing „tap into the deeply felt values that people aspire to, but don’t always live by“ (Holgate/Page, S. 152).

2. Diversität als Organisationsprinzip

In gewisser Weise kann den im Organizing essenziellen Elementen Kommunikation, Kooperation und Koordination ein antirassistischer Effekt zugeschrieben werden. Sind Personen etwa in einer sozialen Bewegung aktiv, sind sie weniger anfällig, unkritisch Narrative zu übernehmen: „When people are organised, they are able to check the ‚dominant‘ narrative against their own and other people’s experience“, konstatieren Holgate und Page (Holgate/Page, S. 227). Dabei spielt es natürlich eine Rolle, welchen Stellenwert die Organisation Diversität und Inklusion beimisst. Entscheidend ist hier nicht allein die formale Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte oder das Bekenntnis zu einer diskriminierungsfreien Betriebskultur, sondern der tatsächliche Einfluss, den gesellschaftlich nicht-privilegierte Gruppen ausüben können – und genau hierin unterscheidet sich Organizing von den sogenannten DEI-Programmen (Diversity, Equity, and Inclusion), die in der Unternehmenswelt auch hierzulande gefahren werden:

„Many DEI programs operated on the premise that change depended on teaching people the error of their ways. These programs often treated DEI as an informational problem, as if pouring facts about bias and discrimination into people’s heads would remove their blinders and change behavior.“ (Han, S. 66)

Weil die Thematisierung von Machtverhältnissen gewissermaßen zur Grundausstattung von Organizing gehört, vermeidet es die Verkürzung von Rassismus auf ein Wissensdefizit und von Antirassismus auf Symbolpolitik. Eigentlich. Denn diese Machtverhältnisse sind so beständig wie vielfältig. Zudem überkreuzen sie einander und bedingen sich gegenseitig. Selbst viele Bewegungsorganisationen tun sich schwer damit, Intersektionalität anzuerkennen: „So long as the key focus of the organisation is not undermined by the toleration of other forms of oppression then those oppressions tend to go largely unchallenged.“ (Holgate/Page, S. 90) Es ist eben nicht genug, Angehörige marginalisierter oder rassifizierter Gruppen nicht auszuschließen; sie müssen auch aktiv einbezogen werden. Warum das schwerfällt, führt Marshall Ganz auf eine grundlegende und unvermeidbare Spannung zurück, die jede Organisation fortwährend ausbalancieren muss. Er fragt: „How do we sustain the diversity to facilitate inclusion, creativity, and accountability and simultaneously ensure the unity that enables focus, coordination, and collective action?“ (Ganz, S. 153) Ein Schlüssel dafür liegt abermals in der Führung einer Bewegung beziehungsweise Organisation. Sie sollte, so Ganz, in den Händen divers zusammengesetzter Teams liegen. So könnten Entscheidungen auf Grundlage größtmöglicher Perspektivenvielfalt getroffen und auf sich ändernde Anforderungen reagiert werden.

„This diversity could be in terms of age, gender, ethnicity, disability, and so on, but it could also be in terms of other lived experience. The more difference in the room, the more likely someone will have experience of a solution to your problem.“ (Holgate/Page, S. 132)

Dass diese Erfahrungen geäußert werden und Gehör finden, stellt die Entwicklung von leadership skills sicher.

3. Eine inklusive Story of us

Die Erneuerung von Gewerkschaften, Bewegungen und Parteien im Sinne des Organizing setzt bei der Macht ihrer Mitglieder an. Warum sollen sie Zeit und Kraft für „die Sache“ aufbringen? Ganz findet darauf eine Antwort im Storytelling:

„The goal is to create an experience of your values (story of self) and the values of the people you hope will join you in collective action (story of us) with the values being threatened by the urgent challenge(s) you’re facing that require hopeful action (story of now).“ (Ganz, S. 75 f.)

Vor allem die Story of us, die der kollektiven Identität einer Organisation ihre Prägung gibt, entscheidet dabei über Ausgrenzung oder Solidarität. Häufig genug muss sie den Charakter eines Gegennarrativs annehmen, denn „communities are becoming increasingly infected by a racist and divisive narrative that blinds people to the steps needed to address the real issues, such as the cost-of-living crisis“ (Holgate/Page, S. 30). Die Rede von den „real issues“ muss irritieren, suggeriert sie doch, Rassismus sei lediglich ein Instrument der Spaltung durch jene, die von sozialer Ungleichheit profitieren. Plausibler ist jedoch, wie die Autor:innen an anderer Stelle argumentieren, Rassismus sei ein „authentischer“ Bestandteil des widersprüchlichen Alltagsverstandes. In der politischen Praxis macht es entsprechend einen Unterschied, ob rassistische Äußerungen als fehlgeleiteter Protest befriedet oder als folgenschwere Abwertung konfrontiert werden.

Wenn nun also „people can believe two seemingly incompatible things at once“ (Holgate/Page, S. 141), ist inklusives Storytelling ausschlaggebend. Das Counter-Narrativ könne dort ansetzen, wo Empathie und Wohlwollen in die Latenz gedrängt sind und Stereotype vorherrschen: „If you want to successfully challenge the narrative of division, then you need to ask, ‚Is that something you have seen or experienced yourself?‘“ (Holgate/Page, S. 156) Im nächsten Schritt müsse ein alternativer Rahmen für die Deutung von Erfahrungen bereitgestellt werden, wo bisher das dominante Narrativ greift. Insbesondere Krisenzustände, die eine bruchlose Reparatur, mithin eine Wiederherstellung von „Normalität,“ unterlaufen, seien geeignet, ein Möglichkeitsfenster für die veränderte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und die eigene Rolle darin zu eröffnen – „it is unjust, it is not inevitable, and we can change it“ (Holgate/Page, S. 159).[7]

Das Gegennarrativ ist eine Sicht der Dinge, die an Erfahrungen anknüpft; Angst und Spaltung („früher gab es weniger Arbeitslosigkeit und weniger Ausländer“) setzt es Hoffnung und Power entgegen („früher waren die Gewerkschaften stärker und der Zusammenhalt in den Communities größer“). Es dürfe nicht als Belehrung und/oder Entlarvung von Rassist:innen verstanden werden. Eine „transformative conversation“ komme, auch wenn sie den Organizer:innen viel Robustheit und Geschick abverlangt, nur dann zustande, wenn es gelingt, „to relate to how people feel“ (Holgate/Page, S. 170). Daraus muss nicht zwangsläufig folgen, das Gegenüber gar nicht mit seinen rassistischen Äußerungen zu konfrontieren, sondern es auf einer vertrauensvollen, vor allem geteilten Grundlage anzusprechen. Etwa in einer Nachbarschaft, die unter einem fiesen Vermieter leidet, aber rassistisch gespalten ist:

„Once you have built a level of trust in the conversation, you have listened and engaged with their fears and shared a little of your story, and have agreed that the repairs will only get done if the tenants exert power over the landlord to make them do it, then you can ask the ‚difficult question‘: one that gets to the heart of their concern about working with people they don’t like. You might ask: ‚So what you need to decide is, what do you care most about: getting the repairs done, or not working with the other groups of tenants? You are not going to win if you are divided, so which means more to you?‘“ (Holgate/Page, S. 170 f.)

4. Relationship Building

Dass es nicht allein mit einer „transformative conversation“ getan ist – zumal in den politisch hochgradig polarisierten USA – zeigt Hahrie Hans ethnografische Studie auf beeindruckende Weise. Über insgesamt sieben Jahre hat sie vier Mitglieder der Crossroads-Megachurch[8] in Cincinnati/Ohio begleitet. Die evangelikalische Gemeinde mit 35.000 Teilnehmer:innen an den wöchentlichen Gottesdiensten ist zu 80 Prozent weiß und, so beschreibt es die Autorin, überwiegend color-blind. Han berichtet, dass 2016 eine kleine Gruppe von Gemeindemitgliedern Undivided ins Leben gerufen hat, ein Antirassismus-Training, das sich weder mit der Leugnung von Rassismus begnügen noch die bloße „interpersonal reconciliation“, bei der Weiße Schwarze um Vergebung bitten, als Problemlösung akzeptieren will. Vielmehr beabsichtig Undivided langfristige Veränderungen sowohl der Alltagspraxis der Beteiligten als auch der gesellschaftlichen Verhältnisse. Han beschreibt, wie die Teilnehmer:innen miteinander „experiences of vulnerability and solidarity across race“ (Han, S. 66) machen, die sie auf eine „journey that shaped their behavior in the weeks, months, and years to come“ (Han, S. 9) schicken: Sandra, deren „drive for respectability had made her prioritize assimiliation into white communities over expressing her true feelings about racial oppression“ (Han, S. 90) und es nun mit einem weißen Ehemann zu tun hat, der sich online zum Christian nationalist radikalisiert. Grant, der fest davon ausging, das Leben mit seinem Schwarzen Halbbruder „equipped him to guide conversations about race“ (Han, S. 63) und sich nun mit seinen weißen Privilegien konfrontiert sieht und seine Treue zu den Republikanern aufgibt. Jess, eine ehemals Drogenabhängige mit Knastgeschichte und einem Vater, der gerne sein White Power-Tattoo zur Schau stellt, die sich in Empörung über den Mord an George Floyd gegen Familie und Kolleg:innen stellt. Und schließlich Chuck, der Schwarze Pastor und Mitbegründer von Undivided, der seinen festen Glauben an einen antirassistischen Gott nicht zurückhalten und doch auch die Gemeinde zusammenhalten will und Undivided schließlich for good or for bad als unabhängige Organisation fortführt. – Sie alle werden durch Undivided darin bestärkt, unbequeme Fragen zu stellen sowie sich und ihre Umwelt zu verändern:

„The program worked, in other words, not by converting committed white supremacists to antiracism. Instead, it sought to find the ‚other evangelicals‘ – like Jess, Sandra, and Grant – who sensed, as organizers would say, a gap between the world as it is and the world as it should be. At the most basic level, Undivided equipped these participants to understand both the interpersonal and systemic dimensions of racial injustice and offered them tools to have difficult conversations around race.“ (Han, S. 225)

Rekapitulierend zeigen die besprochenen Bücher, dass Organizing alle drei der oben genannten Ursachenkomplexe für Rechtspopulismus und Rassismus adressieren kann. Es zielt auf soziale Ungleichheit, die immer wieder eine aktivierende Rolle für rassistische Dispositionen spielt; es stärkt soziale Netzwerke und Beziehungen, die durch Markt und marktförmige Politik fragmentiert werden; es scheut sich dabei zugleich nicht, rassistische Denk- und Verhaltensweisen zu benennen und zu konfrontieren. Vielmehr baut es Organisationsstrukturen auf, die sich die Mitglieder aneignen und mitgestalten können und die sie politisch mündig machen. Im besten Fall handelt es sich um eine Ausweitung von Demokratie als Lebensform.

  1. Vgl. etwa Susanne Rippl / Christian Seipel, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Erscheinung, Erklärung, empirische Ergebnisse, Stuttgart 2022.
  2. Vgl. etwa Stefan Schmalz / Klaus Dörre, Der Machtressourcenansatz: Ein Instrument zur Analyse gewerkschaftlichen Handlungsvermögens, in: Industrielle Beziehungen 21 (2014), 3, S. 217–237.
  3. Möglichkeiten und Grenzen von Organizing in der Auseinandersetzung mit Alltagsrassismus und Rechtspopulismus stehen auch im Zentrum unseres Forschungsprojekts SONAR (Solidarität organisieren in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz) am Institut für Soziologie der Uni Jena. Vgl. Peter Bescherer u.a., Mehr Demokratie durch mehr Öffentlichkeit? Ambivalenzen im Prozess gewerkschaftlicher Erneuerung, in: Industrielle Beziehungen 32 (2025), 3, im Erscheinen; Peter Bescherer u.a., Organizing for solidarity? Strategies to deal with everyday racism in tenants’ and workers’ struggles, in: Community Organizing Journal 1 (2025), 2, im Erscheinen.
  4. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 8, Hefte 16–21, Hamburg 2012, hier: S. 1947.
  5. Vgl. etwa Thomas Barfuss / Peter Jehle, Antonio Gramsci zur Einführung, Hamburg 2014.
  6. Genau daran seien die vielversprechend gestarteten Kampagnen von Obama, Sanders und Corbin gescheitert.
  7. Vgl. auch Sylvia Terpe, Ungerechtigkeit und Duldung. Die Deutung sozialer Ungleichheiten und das Ausbleiben von Protest, Konstanz 2009.
  8. Eine (in der Regel evangelikalische) Megachurch hat mindestens 2.000 Teilnehmer:innen an den wöchentlichen Gottesdiensten, die meisten jünger als in konventionellen Kirchengemeinden. Crossroads ist eine der größten und am schnellsten wachsenden Megachurches in den USA (Han, S. 19 f.). Wie mehr als die Hälfte der US-amerikanischen Megachurches bezeichnen sich Crossroads selbst als „multiracial“, das heißt, keine der vertretenen „racial groups“ macht mehr als 80 Prozent der Mitglieder aus (ebd., S. 26).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Diversity Gesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke Rassismus / Diskriminierung Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen

Peter Bescherer

Peter Bescherer, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungs- und Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen kritische Gesellschaftstheorie, Stadt und Wohnen, soziale Bewegungen und aktivistische Forschung.

Alle Artikel

Empfehlungen

Katharina Kaufmann

Das Wissen der Marginalisierten

Der Sinn für Ungerechtigkeit und die soziale Standpunkttheorie

Artikel lesen

Dirk Baecker

Radikale Volksherrschaft

Rezension zu „Risiko-Demokratie. Chemnitz zwischen rechtsradikalem Brennpunkt und europäischer Kulturhauptstadt“ von Jenni Brichzin, Henning Laux und Ulf Bohmann

Artikel lesen

Felix Schilk

Interventionen in die rechte Raumordnung

Rezension zu „Das Ende rechter Räume. Zu Territorialisierungen der radikalen Rechten“ vom Autor*innenkollektiv Terra-R (Hg.)

Artikel lesen

Newsletter