Manuela Peitz | Veranstaltungsbericht | 06.12.2024
Wie Pech und Schwefel
Bericht zum Workshop „Kapitalismus und unsichere Positionen von Minderheiten. Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus durch die Brille materialistischer Kritik betrachtet“ am 4. und 5. November 2024 in Gießen
Am 4. und 5. November 2024 fand an der Justus-Liebig-Universität Gießen der Workshop „Kapitalismus und unsichere Positionen von Minderheiten. Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus durch die Brille materialistischer Kritik betrachtet“ statt. Organisiert von LAURA TITTEL, ANNA-SOPHIE SCHÖNFELDER, MAX WAIBEL, HANNES KAUFMANN und REGINA KREIDE (alle Universität Gießen) vom Institut für Politikwissenschaft und unterstützt durch den Sonderforschungsbereich 138 „Dynamiken der Sicherheit“ diskutierten 16 Vortragende auf fünf Panels die ideologischen und materiellen Verbindungen von Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus im Kapitalismus.
In ihrer Begrüßung betonte Laura Tittel die Relevanz eines materialistischen Ansatzes, um Ressentiments als strukturell-gesellschaftlich und nicht rein voluntaristisch-individuell zu verstehen. Dabei rückte sie die folgende Frage in den Mittelpunkt: Sind Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus funktional für kapitalistisch organisierte Gesellschaften? Und falls ja, welche Funktion(en) erfüllen sie und wo stoßen solche Erklärungen an ihre Grenzen? Zudem formulierte Tittel die Herausforderung, diese Ungleichheitsideologien materialistisch und historisch zu analysieren, ohne ihre spezifische Eigenlogik zu nivellieren.
Die theoretische Grundlage des Workshops bildete die kritische Auseinandersetzung mit materialistischen Konzepten wie Racial Capitalism, die Rassismus nicht als zufälliges Produkt kapitalistischer Gesellschaften betrachten, sondern verschiedene Zusammenhänge diskutieren. Rassismus werden in dieser Perspektive ökonomische und ideologische Funktionen attestiert, etwa in Form von Arbeitsmarksegmentierung oder der Legitimation sozio-ökonomischer Ungleichheit. Kritische Stimmen wenden gegen derlei funktionalistische Ansätze ein, sie würden Rassismus auf seine ökonomische Verwertbarkeit reduzieren, wie etwa in der marxistischen Akkumulationstheorie.[1] Demgegenüber verorten wertformanalytische Ansätze[2] rassistische Ressentiments in der abstrakten Herrschaftslogik des Kapitalverhältnisses. Während erstere stärker konkrete Ausbeutungsverhältnisse in den Blick nehmen, rücken wertformanalytische Perspektiven ideologische Mechanismen wie den „Hass auf Abstraktion“ in den Mittelpunkt. Daraus ergibt sich die Frage, ob materialistische Analysen von Rassismus, Antisemitismus oder Antiziganismus – auch angesichts empirischer Irrationalitäten – über einen reinen Funktionalismus hinausgehen und ob sie ein etwaiges „Mehr“ konzeptualisieren können. Hierzu lieferte der Workshop zahlreiche Denkanstöße.
Das erste Panel betrachtete ideologische Funktionen von Antisemitismus in kapitalistischen Gesellschaften vor allem aus einer wertformtheoretischen Perspektive. RANDI BECKER (Universitäten Gießen und Passau) spürte antisemitischen Motiven in anti- und postkolonialen Theorien nach und arbeitete deren Unterschiede heraus. Das zweite Panel verhandelte die Theoretisierung von Antiziganismus und dessen materialistische Analyse. ROMAN THURN (HWR Berlin) stellte seine Forschungsergebnisse zu antiziganistischem Labeling und Profiling durch die Polizei vor und demonstrierte, wie mittels institutioneller Zuschreibungen von „clanartigen Strukturen“ oder der „Bettelmafia“ Kriminalität konstruiert werde. Thurn argumentierte, dass antiziganistisches Labeling nicht nur ökonomische Funktionen habe, sondern auch soziale Hierarchien bilde. Vor diesem Hintergrund plädierte der in Berlin ansässige Soziologe für eine umfassendere Ideologiekritik, die über die Reduktion auf ökonomische Funktionen hinausgeht.
Anna-Sophie Schönfelder, die spontan mit einem Vortrag einsprang, erläuterte, dass Antiziganismus in der Ungleichheitsforschung zunehmend Beachtung finde, insbesondere im Hinblick auf Überschneidungen mit rassistischen und antisemitischen Elementen. Sie betonte die Relevanz einer materialistischen Rassismustheorie, mit der Antiziganismus als Ideologie verstanden werden könne, die nicht-bürgerliche Lebensweisen rassifiziert und ökonomisch stigmatisiert. Antiziganistische Stereotype wie etwa die Vorstellung „schmarotzender“ Lebensformen verweisen laut Schönfelder auf die Verknüpfung von Kapitalismus und Ideologie. Daher diskutierte sie zwei theoretische Ansätze, konkret: Racial Capitalism, der Rassismus als Funktion der Arbeitskraftsegmentierung betrachtet, und Postones Theorie des Warenfetischs. Während Racial Capitalism den Kapitalismus in die Debatte einbringe, so Schönfelder, abstrahiere er von der Subjektivität rassistischer Ideologien und erkläre nicht, warum rassistische Stereotype plausibel wirken. Postones Theorie des Warenfetischismus hingegen könne aufzeigen, wie gesellschaftliche Dynamiken – etwa die Antinomie von Abstraktem und Konkretem – wirtschaftliche Ressentiments auf bestimmte Gruppen projizieren. Antiziganismus verknüpfe Vorstellungen von der Bedrohung der Wirtschaft mit dem Bild „unbürgerlicher“ Lebensformen und affirmiere gleichzeitig kapitalistische Werte wie Fleiß und Arbeit. Beide Vorträge unterstrichen die Notwendigkeit empirisch-historisierender Forschung, um strukturelle Ähnlichkeiten zwischen (vor-)kapitalistischen Formen von Ideologien und ihrer konkreten Gehalte offenzulegen.
Den Abschluss des ersten Tages bildete die Keynote von ULRIKE MARZ (Universität Rostock). Letztere unterbreitete bei dieser Gelegenheit Vorschläge dafür, wie eine materialistische Rassismusanalyse mit sozial-psychoanalytischen Ansätzen verbunden werden könne, um rassistische Dynamiken umfassend erklären zu können. Anknüpfend an die frühe Kritische Theorie argumentierte sie, dass der Fokus auf gesellschaftliche Objektivität und Rationalität allein nicht ausreiche, er müsse vielmehr um die regressive, irrationale Seite des Rassismus ergänzt werden. Eine ideologiekritische Perspektive sei hierbei zentral, betonte Marz. Es müsse also danach gefragt werden, welche Funktion Rassismus in der jeweiligen historischen Situation einer Gesellschaft erfüllt, ohne ihn darauf zu reduzieren. Kein Ressentiment könne gänzlich ohne eine konkrete Funktion (fort-)bestehen, auch wenn diese aus ökonomischer Sicht irrational sein könne. Diese Perspektive, verankert in der kritischen Gesellschaftstheorie, zeige, wie Rassismus auf Projektionen[3] basiere und in Krisenzeiten als Kontrastfolie für eine regressive Identitätsbildung diene. Rassismus, so Marz, sei nicht allein sozialpsychologisch erklärbar, sondern benötige einen Überschuss an Ideologie, der durch politische Mobilisierung und kollektiven Narzissmus gestützt werde. Diese Perspektive helfe zu verstehen, wie gesellschaftliche Strukturen die Konstitution von Subjektivität behindern und Rassismus ideologisch und funktional mobilisieren können. Marz‘ Vortrag zeigte damit eine produktive Möglichkeit auf, wie sich Rassismus mithilfe der Kritischen Theorie materialistisch formanalytisch konzeptualisieren lässt.
Daran schloss am Folgetag das Panel zu Krisenerfahrungen an. TANITA JILL PÖGGEL (Universität Frankfurt am Main) und HELGE PETERSEN (Universität Kiel) beleuchteten materialistische Perspektiven des frühen Instituts für Sozialforschung (IfS) und des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS). Beide „Schulen“ betonten die zentrale Rolle gesellschaftlicher Krisen und zeigten, wie regressive Verarbeitungen von Krisen Antisemitismus und Rassismus als ideologische Verschiebungen auf materielle Widersprüche hervorbringen. Während das IfS antisemitische Projektionen mit Freuds Konzept des Unbehagens analysierte, beschrieb das CCCS Rassismus mit dem Konzept der moral panic, die materielle Ursachen personalisiere und auf „folk devils“ verlagere.[4] Der von Pöggel und Petersen präsentierte Vergleich beider Ansätze betonte die materielle Einbettung sowie die ideologische Funktion von Antisemitismus und Rassismus in kapitalistischen Gesellschaften. Die Referent:innen entwarfen damit ein Forschungsparadigma, das sowohl zur Weiterentwicklung theoretischer Ansätze als auch zu einer differenzierten empirischen Analyse beitragen kann.
LEO ROEPERT (Universität Hamburg) berichtete im Rahmen seines Vortrags von seiner Forschung zu Leerstellen in marxistischen Rassismustheorien, betonte jedoch zunächst die grundsätzliche Einsicht, dass Rassismus strukturell notwendig für den Kapitalismus sei. Roepert problematisierte anschließend drei Dimensionen marxistischer Ansätze: (1) die politische Funktion von Rassismus als Werkzeug der Klassenherrschaft und Spaltung („negative Vergesellschaftung“), (2) die ökonomische Funktion zur Legitimierung von Arbeitsmarktsegmentierung (Miles), Überausbeutung (Sarbo/Mendivíl) und Enteignung (Fraser) sowie (3) die ideologische Funktion, Ungleichheit zu naturalisieren. Roepert hinterfragte einerseits intentionalistische Erklärungen[5], die Rassismus als bloßes „Werkzeug“ erfinden, und andererseits die Reduktion auf ökonomische Prozesse, die kulturelle, psychologische und subjektive Aspekte ausblenden. Er warnte vor einem funktionalistischen Fehlschluss, der von der Funktion von Rassismus auf dessen Genese schließt. Roepert plädierte stattdessen für eine breitere Analyse, die Ressentiments sozialpsychologisch und ideologiekritisch beleuchtet, und kritisierte eine unzureichende Erklärung rassistischer Weltbilder und deren Dynamiken in bestehenden Ansätzen. Mit seiner Gegenüberstellung akkumulationstheoretischer und formanalytischer Theorien zielte Roeperts Vortrag auf eine der konkreten Problemstellungen des Workshops und wurde entsprechend lebendig diskutiert. Obwohl die Mehrheit der Anwesenden eher formanalytischen Ansätzen zugeneigt schien, wurde zu Recht angemerkt, dass sie zwar die Spezifik antisemitischer Ideologien herausstellen, jedoch oft die Dynamiken anderer Rassismen vernachlässigten.
Der Vortrag von ANNE PEITER (Université de la Réunion) war besonders in Hinblick auf das Zusammenwirken verschiedener Ressentiments interessant. Mit ihrer Untersuchung von Verbindungen zwischen Antisemitismus und Antitutsismus zeigte sie auf, dass diese Konstruktionen ökonomische Ängste und koloniale Ideologien verbanden. Peiter betonte, dass diese rassistischen Projektionen unabhängig von ökonomischen Realitäten funktionieren, jedoch zur Legitimation konkreter Gewalt und Verfolgung genutzt würden. Dabei wirkten auch vorkoloniale Unterdrückungsverhältnisse weiter, die durch europäische Ideologien angereichert würden und die Wirkung solcher Projektionen in Ruanda erklärten.
Auf dem Abschlusspanel reflektierten CHRISTINE ACHINGER (University of Warwick), FLORIS BISKAMP (Universität Tübingen) und LUKAS EGGER (Universität Linz) unter dem Motto „Drei Ressentiments – eine Gesellschaft“ produktiv die zentralen Themen des Workshops und arbeiteten theoretische Synergien heraus, um Potenziale für die weitere Theoriebildung auszuloten. Achinger hob hervor, dass ein materialistischer Antiessenzialismus es ermögliche, spezifische Konstellationen sowie die Rekombination verschiedener Rassifizierungsmechanismen zu verstehen. Egger plädierte für die Untersuchung historischer Bedingungen, um Exklusion und Assimilation marginalisierter Gruppen nachzuvollziehen. Er betonte, dass materialistische Analysen hilfreich dabei seien, Rassismus als historisch gewachsenes Phänomen sowie seine jeweiligen konjunkturellen Funktionen zu begreifen. Biskamp argumentierte, Rassismus könne nur durch konkrete historische Analysen erfasst werden, und sprach sich für eine Kombination von Akkumulations- und Wertformtheorien aus, um die Verstrickung von Ungleichheitsideologien und Kapitalismus nachzuvollziehen. Konsens bestand darin, dass alle drei Ressentiments nur durch eine materialistische Gesellschaftskritik vollständig erfasst werden können.
Trotz der guten Organisation des Workshops blieben einige Potenziale ungenutzt, der große Veranstaltungsraum und die daraus resultierende Sitzordnung etwa erschwerten produktive Diskussionen. Zudem hätten eine offenere, dialogische Herangehensweise sowie intensivere Auseinandersetzungen über die analytische und politische Tragfähigkeit von dieselben Phänomene bezeichnenden Begriffen wie „Antiziganismus“, „Antiromaismus“ oder „Gadje-Rassismus“ die Diskussion bereichert. Dennoch zeigte der Workshop das Potenzial einer materialistischen Analyse der drei Ressentiments auf. Er skizzierte ein Forschungsprogramm, das eine stärkere methodische wie theoretische Systematisierung verschiedener materialistischer Ansätze erfordert, um die komplexen Dynamiken zwischen gesellschaftlicher Struktur, Subjekt und Ideologie zu erfassen. Insgesamt bot der Workshop damit einen produktiven Anstoß für weiterführende Debatten.
Fußnoten
- Siehe etwa Étienne Balibar/ Immanuel Wallerstein (Hg.), Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg 1990; Robert Miles, Racism After ‘Race Relations’, New York / London 1993; Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo (Hg.), Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus, Berlin 2023; Nancy Fraser, Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Berlin 2023.
- Die (Wert-)Formanalyse entspringt der sogenannten Neuen Marx-Lektüre der 1960er-Jahre und der Gesellschaftstheorie der frühen Kritischen Theorie. Sie betont, dass die kapitalistische Gesellschaft auf abstrakten Verhältnissen wie Lohnarbeit oder Warenwert beruht. Moishe Postone mit seinem Text „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ (1979) war hier einflussreich. Peter Schmitt-Egner übertrug 1976 in seinem Text „Wertgesetz und Rassismus“ die Formanalyse auf den Rassismus. Zentrale Autor*innen: Moishe Postone, Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: Moishe Postone, Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg 2005; Peter Schmitt-Egner, Wertgesetz und Rassismus. Zur begrifflichen Genesis kolonialer und faschistischer Bewußtseinsformen, in: Hans-Georg Backhaus (Hg.), Gesellschaft: Beiträge zur Marxschen Theorie, Band 8/9, Frankfurt am Main 1976, S. 350–405.
- Adorno spricht von der „Wendung aufs Subjekt“ (vgl. Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Gerd Kadelbach (Hg.), Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt am Main 1979, S. 10–28).
- Beispielsweise die britische mugging-Debatte, in der sich Rassismus über Themen wie Jugendkriminalität oder Migration artikulierte (vgl. Stuart Hall u. a., Policing the Crisis: Mugging, the State, and Law and Order, London 1978).
- Hier wurde sich vor allem auf Theodor Allen bezogen: Theodore W. Allen, The Invention of the White Race, London 1994.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Arbeit / Industrie Kapitalismus / Postkapitalismus Kritische Theorie Rassismus / Diskriminierung
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