Lars Döpking | Rezension |

Wozu ein Jahrhundert erfinden?

Rezension zu „Die Erfindung des 19. Jahrhunderts. Ein wissens- und professionssoziologischer Beitrag zur Historiographie des westlichen Rechtsdenkens“ von Karlson Preuß

Karlson Preuß:
Die Erfindung des 19. Jahrhunderts. Ein wissens- und professionssoziologischer Beitrag zur Historiographie des westlichen Rechtsdenkens
Deutschland
Tübingen 2024: Mohr Siebeck
342 S., 89,00 EUR
ISBN 978-3-16-163256-3

Im „Chaos der Disziplinen“[1] ist der Gegenstand der Soziologie so kontingent wie ihre Funktion. Sie beschreibt Kommunikation, analysiert inkorporierte Praktiken oder erklärt soziales Handeln verstehend, und dies alles, ohne ihre Kohäsion übermäßig zu strapazieren. In die Riege der divergierenden Ansätze lässt sich auch Georg Simmels Vorschlag einordnen, Soziologie als metadisziplinäre Reflexionswissenschaft zu betreiben.[2] Sie müsse von „der vollen Wirklichkeit“ abstrahieren und die Formen menschlicher „Wechselbeziehungen“ begreifen, die bereits von Disziplinen wie der Kriminologie, Nationalökonomie oder Kulturgeschichte thematisiert würden. Die Soziologie habe sich in anderen Wissenschaftsgebieten zu „akklimatisieren“ und deren Gegenstände mit ihrer Methode zu traktieren. Ihre Aufbereitung könne zeigen, dass „Wandlungen der Geschichte, ihrer eigentlich wirksamen Schicht nach, solche der soziologischen Formen“ sind. Selbst die „Wirtschaftsform“ kann demnach als „ein ‚Überbau‘ über den Verhältnissen und Wandlungen der rein soziologischen Struktur“ gelten.[3] Soziologie bestimmt Simmel damit als die Disziplin, der alle anderen Wissenschaften vom Menschen ideell untergeordnet sind.

Heutzutage bekennen sich nicht mehr viele Soziolog:innen zu Simmels Programm. Zum einen hat imperialistische Fachpolitik im Zeitalter interdisziplinärer Forschungskooperation einen schweren Stand, ist vermutlich gar unnötig: schließlich sitzt die Soziologie – zumindest im politischen Klima der Bundesrepublik – (noch) fest im Sattel. Zum anderen war das Fach in seiner verhältnismäßig kurzen Geschichte derart erfolgreich, dass sich angrenzende Wissenschaften auf die Soziologie zubewegt haben: Spätestens seit der Zwischenkriegszeit integrierten Ökonomie, Rechts- und insbesondere Geschichtswissenschaft soziologische Methoden und Ansätze. Da sie die jeweiligen Wechselbeziehungen der Menschen bereits als soziologische Formen bestimmt und analysiert haben, kann die Soziologie ihnen gegenüber nur bedingt metadisziplinär-reflektierend auftreten. Wenn aber gesellschafts- und sozialtheoretische Reflexion und Formgebung kein Privileg der Soziologie mehr sind, wirkt Simmels Programm schlicht überholt.

Vor diesem Hintergrund erscheint der theoretische Ausgangspunkt von Karlson Preuß‘ Studie Die Erfindung des 19. Jahrhunderts, die er 2023 als Dissertationsschrift an der Universität Bielefeld einreichte, zunächst aus der Zeit gefallen – will er doch nicht nur eine Rechtsepoche rehabilitieren, sondern sich mit Simmel zugleich in die Diskussion um „die Grundlagen [der] Historischen Soziologie einbringen“ und „ein Beispiel“ dafür geben, wie sich diese „gegenüber ihren Nachbardisziplinen auszeichnen kann“ (S. 23). Dazu arbeitet er im zweiten Kapitel mit Simmel die Formen des Streits aus, die er in den Kapiteln drei bis fünf systematisch vergleicht. Preuß zufolge traten in den rechtshistoriographischen Diskursen der USA, Frankreichs und Deutschlands überraschend ähnliche Kontroversen auf, die kurioserweise in allen drei Fällen zur „Erfindung“ eines Jahrhunderts führten: Dies- wie jenseits des Atlantiks beschrieben Rechtshistoriker aus fach- und rechtspolitischen Motiven das 19. Jahrhundert als überwundenes Zeitalter „formalistischen Denkens“, um umgekehrt ihre eigene Epoche als Siegeszug einer „sozialen Jurisprudenz“ zu adeln, welche methodisch die „Gemeinwohlorientierung“ gegenüber „Rechtssicherheit“ und „Gesetzesbindung“ priorisiere (S. 16). Preuß bleibt aber nicht bei der plausiblen, bereits im Titel der Studie formulierten Feststellung stehen, dass Jahrhundertgrenzen artifiziell sind. Vielmehr will er zeigen, dass jene keineswegs zufälliges Produkt strukturnotwendiger Kontroversen sind, in denen bestimmte Darstellungen oder Narrative systemisch Hegemonie erlangen. Die kritische Auseinandersetzung mit der „Historiographie des westlichen Rechtsdenkens“ eröffnet auf Ebene der Logiken, die jene Hegemonie produzieren, tiefe Einblicke in Dynamiken des kontemporären juristischen Feldes und kann so behaupten, selbst mehr zu sein als bloße Historiographie.

Damit dieses Unterfangen gelingen kann, muss das Vergleichsobjekt klar umrissen werden. Preuß entwirft dazu im theoretischen Kapitel des Buches (S. 27–56) eine Heuristik, die „verschiedene (sub)disziplinäre Perspektiven auf denselben Phänomenbereich miteinander ins Gespräch“ bringt (S. 29). Als Form biete der Streit nicht allein den basalen Vorteil, von konkret verhandelten Inhalten zu abstrahieren. Er eröffnet zudem die Möglichkeit, entlang der Pole „reiner Konflikt“ (S. 36–42) und „reine Konkurrenz“ (S. 42–49) kontextsensibel zu differenzieren und zugleich über Simmels Analysen hinauszugehen. Während Simmel „das wechselseitige Verhältnis der Sozialformen“ (S. 31) hintanstellte, will Preuß diese Wechselwirkungen herausarbeiten – gerade weil sie mit den historischen Darstellungen der Rechtswissenschaft konfligieren. Beiden Formen sind spezifische Dynamiken zu eigen: Während Konflikte qua Generalisierung die Deutung von Themen prägen, ergo Weltbilder hervorbringen (S. 41), wohnt der Konkurrenz, da sie abseits direkter Konfrontation prozessiert und Dritte voraussetzt, ein „wertsteigerndes Potential“ inne (S. 44) – der Konfliktgegenstand gewinnt in ihnen also an Relevanz. Der Autor will mit diesen Kategorien somit demonstrieren, wie erst historische Wahrnehmungsmuster entstehen und diese dann konkurrierend Einfluss gewinnen, diffundieren und schließlich hegemonial werden. Besonders im juristischen Professionsstreit, den Preuß als einen Typ von Wissenschaftsstreit thematisiert, komme der Konkurrenz dabei das „strukturelle Primat“ (S. 53) zu. Sie „kolonialisier[e]“ den Konflikt, spitze diesen vor dem „projizierten Publikum“ der Richterschaft zu und bringe, da die professionelle Verortung der Akteure gegenüber ihrer wissenschaftlichen oder systemischen Position Vorrang genieße, in jedem der analysierten Fälle ein erfundenes Jahrhundert hervor. In Abgrenzung zu diesem könne und würde dann die eigene Epoche, der man sich zugehörig fühlt, als besonders fortschrittlich, human und lebensnah dargestellt werden.

Die detaillierte Analyse der Streitkonstellationen füllt den Großteil des Buches. Am (west-)deutschen (S. 57–142), französischen (S. 134–207) und amerikanischen Fall (S. 209–274) will der Autor zeigen, welche Bedeutung „dem Konflikt für die rechtswissenschaftliche Konkurrenz opponierender juristischer Programmatiken und Weltsichten“ zukam (S. 55). Er rekonstruiert dazu die widerstreitenden Positionen sowie die Publika, vor denen sie konkurrierten. Die Ausführungen sind analytisch dicht und materialgesättigt, die Lektüre ist erhellend, aber nicht immer fesselnd. Preuß erinnert für den deutschen Fall an die Wirkmächtigkeit der 1946 publizierten Kritik Gustav Radbruchs am Rechtspositivismus, den er für den „blinden Gehorsam gegenüber dem nationalsozialistischen Gesetzesrecht“ (S. 57) verantwortlich zeichnete. Sie wurde zunächst prominent aufgegriffen, unter anderem von Franz Wieacker, dem Göttinger Verfasser der einflussreichen Privatrechtsgeschichte der Neuzeit,[4] bald aber erfolgreich zurückgewiesen: Bernd Rüther hätte etwa überzeugend argumentiert, dass die „positivistische Ideologie“ (S. 57) dem NS-Regime keineswegs ausschließlich dienlich gewesen sei, sondern es auch vor Probleme gestellt habe.

Solchen Einwänden zum Trotz verbreitete sich in der westdeutschen Rechtshistoriographie die Vorstellung eines „begriffsjuristischen und positivistischen“ Zeitalters (S. 58). Das lag auch darin begründet, dass die freirechtliche Bewegung bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Konflikt um Stellung und Freiheit des Richters polemisch „als Kampf zwei entgegengesetzter Rechtskulturen […], als Auseinandersetzung zwischen formalistischer und ‚sozialer‘ Jurisprudenz“ (S. 71) dargestellt hatte. Da sie im Methodenstreit ihren Gegnern wie deren Referenzgrößen zudem erfolgreich unterstellte, „den Richter auf die Rolle eines unselbstständigen Rechtsvollstreckers“ reduziert zu haben (S. 106), konnte sie die Rechtsauslegung in der Folge eher als Kunst denn als strenge Wissenschaft begreifen. Obgleich diese Darstellung des Richters als Vollstrecker historisch unhaltbar war, konsolidierte sie sich in der Bonner Republik und wurde erst in den 1980er-Jahren öffentlichkeitswirksam in Zweifel gezogen (S. 133). Bis dahin dominierte, so die an Mannheim anschließende Pointe von Preuß, eine implizit vom konservativen Topos des „lebendigen“ Rechts getragene westdeutsche Rechtshistoriographie, welche den Strohmann eines überkommenen, da vermeintlich aus dem vergangenen Jahrhundert stammenden, formalistischen Rechts aufstellte, um progressiver zu erscheinen als sie in ihrem Kern eigentlich war.

In Frankreich kristallisierte sich im Streit hingegen die kleinteilige Textauslegung, die „école de l’exégèse“, als Feindbild progressiver Juristen heraus. Ihren Hintergrund bildete das historische Erbe der Französischen Revolution, deren Rechtspolitiker der Richterschaft untersagt hatten, Gesetzestexte auszulegen, um eine strenge Gewaltenteilung zu etablieren, in der die „Rechtsfortbildung ausschließlich der Legislative“ zufiel (S. 144). Laut der französischen Rechtshistoriographie der Zwischenkriegszeit – Eugène Gaudemet nahm im Diskurs eine einflussreiche Funktion analog zu Franz Wieacker ein – setzte die am Code civil von 1804 geschulte Juristengeneration diese Anforderung um, indem sie eine „exegetische Methodologie“ entwickelte, statt auf neue soziale Anforderungen und Entwicklungen angemessen zu reagieren (S. 147). Die Charakterisierung als exegetisches Jahrhundert war und ist laut Preuß allerdings historisch unhaltbar. Sie resultiere in Frankreich wie auch nördlich des Rheins aus einer Hinwendung zu sozialwissenschaftlichen Ansätzen (S. 181), für die insbesondere François Gény warb. Dieser trat unter anderem für eine „utilitaristische Richterkonzeption“ ein, die er vom Negativbild eines „richterlichen Subsumtionsautomaten“ abgrenzte (S. 193). Anstatt Exegese zu betreiben, habe der Richter das Recht praktisch an die beständig wandelnden gesellschaftlichen Kontexte anzupassen – allerdings hatte das kaum jemand in Abrede gestellt. Dieses Argument wäre deshalb wohl auch in Vergessenheit geraten, hätte sich nicht anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Code civil die Konkurrenz zwischen juridischen Positionen zugespitzt. Im Kontext einer breiten Debatte wurde „mit dem Schreckgespenst einer exegetischen Rechtsepoche […] nicht nur im juristischen, sondern auch im politischen Feld Unterstützung gegen die Generalrevision des Gesetzbuches mobilisiert“ (S. 198). Das habe die Perspektive Génys bis in das einflussreiche rechtshistorische Werk Gaudemets hineingetragen. In dessen Narrativ fanden konträre Argumente und Darstellungen, etwa aus der Feder von Edmond Meynials, Ferdinand Larnaudes oder Eustache Pilons, keinen Raum (S. 207) – auch da sie nicht in die Schablone einer exegetischen Epoche passten. So wurde eine problematische, da mindestens simplifizierende Imagination des 19. Jahrhunderts auch in Frankreich zum juristischen Lehrbuchwissen und somit hegemonial.

Ähnliche Prozesse spielten sich in den Vereinigten Staaten ab, wovon die bis heute prominente Gegenüberstellung von legal realism und legal formalism zeugt. So ergriff beispielsweise Antonin Scalia Partei für Letzteren, was insofern relevant scheint, als dessen „textualistische Methode“ und blockierte Nachbesetzung im Jahr 2016 eine Zäsur in der Geschichte des Supreme Court markiert.[5] Er positionierte sich damit als prominenter Gegner des auch von Oliver W. Holmes popularisierten Narrativs, welches den Formalismus als Methode des 19. Jahrhunderts diskreditiert hatte (S. 210, 273). Seine offene Parteinahme weist dabei auf eine zentrale Differenz zum französischen und deutschen Fall hin: In den USA erfand man zwar ebenfalls ein Jahrhundert, beendete damit aber keineswegs eine Methodendebatte der Zwischenkriegszeit, sondern führte sie munter weiter. Das lag darin begründet, dass die rechtspolitischen Debatten hier enger mit sozialen Konflikten, wie den gewerkschaftlichen Kämpfen um Arbeitszeitbegrenzung oder das Streikrecht, verwoben waren (S. 214). Preuß erinnert daran, dass angesichts der Nähe zur Sozialpolitik viele Juristen „das Ideal einer primär am Gesetzesrecht orientierten Rechtsprechung“ verwarfen (S. 221) und sich etwa wie Roscoe Pound an der aufkommenden Soziologie orientierten. Mit ihrer Hilfe wollten sie zu einer „gerechten, organischen, volks- und lebensnahen Jurisprudenz“ vorstoßen (S. 235). Allerdings traf ihre soziologische Rechtshistoriographie, die insbesondere ab den 1960er-Jahren immer wieder direkt an die deutschsprachigen Debatten anschloss, auf Widerstand. Weil ihre Streitpositionen derart politisch aufgeladen waren, eigneten sich diverse Akteure die Gegenposition an und argumentierten, wie etwa Scalia, dezidiert formalistisch. Dies erschwere, so Preuß, jedoch den von ihm und anderen unternommenen Versuch, die scharfe Epochengrenze des 19. Jahrhunderts zu dekonstruieren und einer produktiven Auseinandersetzung mit der Historiographie des 19. Jahrhunderts den Weg zu bahnen (S. 271). Die Konkurrenz führte jenseits des Atlantiks zwar nicht zur Hegemonie einer Streitposition, zementierte aber auch dort eine rechtshistoriographische Epochengrenze.

Die Frage lautet nun, ob diese weitgehend parallelen Entwicklungen, wie von Preuß argumentiert, als Ausdruck äquivalenter Konstellationen der Streitformen Konkurrenz und Konflikt zu werten sind, ergo je endogen entstanden, oder ob sie nicht wahlweise auf horizontale Transfer- oder vertikale Deduktionsdynamiken, also ein gemeinsames Drittes, zurückgehen. Beides sei, so Preuß, zunächst unwahrscheinlich, da die Vergleichende Rechtswissenschaft jeden der drei Fälle unterschiedlichen Rechtsfamilien – etwa der romanischen, germanischen und angloamerikanischen – zuordne (S. 281). Bedauerlich ist, dass sich der Autor auf eine Diskussion dieser Frage nicht im Detail einlässt, obgleich er in seiner Darstellung den „stets nach Deutschland blickenden“ Roscoe Pound und dessen Rudolf Jhering-Referenzen hervorhebt (S. 237, 241) oder an die Bezüge von Morris R. Cohen auf Hegel, Marx oder „the German historical school of jurisprudence“ (S. 246) erinnert. Dieser Verzicht erklärt sich nicht daraus, dass Preuß methodologische Vorbehalte hat. Ganz im Gegenteil lobt er die „epistemische Neuorientierung“, welche „transnationale Ansätze“ in die zeitgenössische Historiographie einbrächten (S. 279–288). Allerdings bemängelt er, dass sie praktisch der falschen Gegenüberstellung von einerseits positivistischem, exegetischem oder formalistischem und andererseits sozialem Jahrhundert blindlings folgen. Um dieser effektiv entgegenzutreten, müsse die Kritik theoretisch geerdet und die parallele Regelmäßigkeit der imaginativen Praktiken aus den Dynamiken eines professionalisierten Systems erklärt werden.

Anstelle eines klassischen Fazits führt Preuß seine Leser:innen also am Ende des Buches in den Kaninchenbau der Systemtheorie (S. 293–320). Er offeriert ihnen so eine weitere Semantik, um die dargestellten Prozesse zu beschreiben, und löst sein Versprechen ein, im Anschluss an Luhmann und weitere über Simmel hinauszugelangen. Weil das von ihm dort vorgebrachte Argument überaus plausibel ist, fragt man sich allerdings, weshalb er es nicht früher formuliert und stärker in die Analyse des Materials einfließen lassen hat. Preuß zufolge liegen nämlich „die Gründe für den Erfolg des juristischen Welt- und Geschichtsbilds der ‚sozialen‘ Jurisprudenz“ nun nicht mehr primär in der Konstellation von Konflikt und Konkurrenz, sondern in „der Struktur des Rechtssystems selbst“ (S. 294). In ihm stünden sich eine „professionelle Reflexionstheorie“ und „eine von der formal-rationalen Seite des Rechts ausgehende Reflexionstheorie“ (S. 295) diametral gegenüber. Sie brächten die aufgezeigten Streite systemisch hervor. Im Anschluss an Überlegungen André Kieserlings argumentiert Preuß, dass Letztere die normativen Erwartungen an das Recht stabilisiere, indem es sich an dessen Codierung orientiere, es affirmiere, systemeigene Plausibilitäten berücksichtige und die gesamte Gesellschaft von ihm aus perspektiviere (S. 298–300). Das mache ihre Träger zu Gegnern der sozialen Jurisprudenz, deren professionelle Reflexionstheorie wiederum, so Preuß mit Luhmann, auf der „‚Diskrepanz zwischen theoriebedürftigen Wissensgrundlagen und fallorientiertem Handel‘“ beruhe (S. 304).

Diese mit Rudolf Stichweh herausgearbeitete „Grunddichotomie des Rechtsystems“ (S. 314), in der die eine Seite teleologisch argumentiert und dazu unter anderem auf den Wert der Rechtssicherheit rekurriert, während die andere „Intuition, Rechtsgefühl und gesunde[n] Menschenverstand“ (S. 306) anführt, sei allerdings nicht, so die finale, gegen Bourdieu gerichtete Pointe Preuß‘, auf die Konkurrenz von „Rechtstheoretikern und -praktikern“ (S. 315), ergo konkreter, im Vorhinein anhand ihres professionellen Tätigkeitsfelds festgelegter Akteursgruppen, zurückzuführen. Ganz im Gegenteil sei im Grunde „jeder Rechtshistoriker ein potentieller Richter“ (S. 316). Niemand wäre davor gefeit, der einen oder anderen Theorie zu folgen. Als historisch fatal hätte sich aber stets die Mobilisierung soziologischer Argumente durch Protagonisten der professionellen Reflexionstheorie erwiesen. Ihrem unkritischen Import soziologischen Wissens sei entgegenzutreten, wolle man versuchen, den Schaden wiedergutzu machen, „den die soziologische Jurisprudenz in der Rechtsgeschichtsschreibung hinterlassen hat“ (S. 320). Damit fällt der Soziologie allerdings weniger die Aufgabe der Formbestimmung als die des Hauswarts zu: Empirisch hätte sie die Diffusion ihrer Wissensbestände in andere Disziplinen zu überwachen, weil diese dort, wie Preuß überzeugend zeigt, mitunter ihr Unwesen treiben. Der dortige Erfolg „gefährlicher Prozessbegriffe“[6] wie Rationalisierung, Differenzierung oder Modernisierung lässt erahnen, für welch ambitioniertes Unterfangen die Studie damit abschließend wirbt.

  1. Vgl. Andrew Abbott, Chaos of Disciplines, Chicago 2001.
  2. Vgl. im Weiteren Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft), Berlin 1970, S. 15–20.
  3. Ebd., S. 20.
  4. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2016 [1967].
  5. Siehe zu diesen Fragen überblickend nur: Thomas M. Keck, The U.S. Supreme Court and Democratic Backsliding, in: Law & Policy 46 (2024), H. 2, S. 197–218.
  6. Hans Joas, „Gefährliche Prozessbegriffe. Eine Warnung vor der Rede von Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung“, in: Karl Gabriel, Christel Gärtner und Detlef Pollack (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012, S. 603–622.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Demokratie Geschichte Moderne / Postmoderne Normen / Regeln / Konventionen Öffentlichkeit Recht Wissenschaft

Lars Döpking

Dr. Lars Döpking ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere und Neueste Geschichte am Deutschen Historischen Institut in Rom. Im Sommersemester 2024 lehrt er zudem als Gastprofessor am Institut für Soziologie der Universität Graz. Er forscht primär zu Kapitalismus und Steuern in Italien und Westeuropa, daneben untersucht er die Entwicklung des soziologischen Theoriekanons seit den 1950er-Jahren in vergleichender Perspektive.

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