Bénédicte Laumond | Rezension |

Zerrspiegel

Rezension zu „Vernichten“ von Michel Houellebecq

Michel Houellebecq:
Vernichten
übers. von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek
Deutschland
Köln 2022: Dumont
624 S., 28 EUR
ISBN 978-3-8321-8193-2

Ich frage mich oft, warum neuen Büchern aus der Feder von Michel Houellebecq zuverlässig solch große Aufmerksamkeit zuteil wird – und zwar in Deutschland ebenso wie in Frankreich, und auch bei Leser:innen, die sich selbst als im besten Sinne fortschrittlich bezeichnen würden. Mich persönlich haben die misogynen und rassistischen Äußerungen, die Houellebecq seinen Protagonisten in seinen Romanen in den Mund legt, ein wenig abgeschreckt. Außerdem finde ich, dass andere französische (und junge) Autor:innen ihm literarisch in nichts nachstehen und mehr Aufmerksamkeit – insbesondere im Ausland – verdienen würden. Aber Anfang dieses Jahres bejubelte das Feuilleton erneut vor allem Michel Houellebecq, und zwar für seinen neuen Roman „Vernichten“. Neben seinem literarischen Wert sei sein Werk ein Spiegel unserer Zeit, seine Romane würden die Probleme unserer Gesellschaft treffend beschreiben. In dieser Rezension werde ich den Roman folglich im Hinblick auf seine Verarbeitung der Herausforderungen lesen, mit denen sich die französische Gesellschaft aktuell konfrontiert sieht.

Zugegebenermaßen vermitteln die ersten Seiten des Buches einen sehr realistischen Eindruck von der Pariser Metro mit ihren Gedichtfenstern und Graffitis. Das mag einem breiten Publikum gefallen: Die Pariser erkennen ihren Alltag, andere, die schon einmal in Paris waren, genießen eine madeleine de Proust und der Rest bekommt eine Vorstellung. Hinsichtlich der Darstellung der französischen Gesellschaft fällt gleich zu Beginn des Buches auf, dass vor allem Themen aufgegriffen werden, die in der Öffentlichkeit breit und kontrovers diskutiert wurden. Es beginnt mit einer Kritik am Veganismus (S. 26), dann werden dem Protagonisten Paul Raison rassistische Äußerungen (etwa S. 158, 340 oder 500) in den Mund gelegt, die man von einigen rechtsradikalen Akteuren aus den Medien kennt. Die misogyne Darstellung einiger weiblicher Protagonistinnen, wie Indy – die Frau von Pauls Bruder Aurélien – (S. 167) schließt ebenfalls an öffentliche Diskurse an.

In einem Land, in dem drei rechtsradikale Kandidat:innen zur Präsidentschaftswahl antreten und zusammen ungefähr 30 % der Stimmen erhalten haben, spiegeln Houellebecqs Ressentiments und Parolen offensichtlich die Meinung einiger Franzosen wider. 

Auch wenn die Leserin von solchen Ressentiments und Parolen zunehmend gelangweilt ist, kann man doch argumentieren, dass sie den Zeitgeist in Frankreich (wie in Europa) treffen. In einem Land, in dem drei rechtsradikale Kandidat:innen (Marine Le Pen, Eric Zemmour und Nicolas Dupont-Aignan) zur Präsidentschaftswahl antreten und zusammen ungefähr 30 % der Stimmen erhalten haben, spiegeln sie offensichtlich die Meinung einiger Franzosen wider. Allerdings hat die Politikwissenschaft gezeigt, dass die französische Gesellschaft im letzten Jahrzehnt kontinuierlich toleranter gegenüber Minderheiten geworden ist. Auch nach den terroristischen Anschlägen im Jahr 2015. Jährlich gibt es Umfragen, bei denen die Franzosen gefragt werden, ob sie akzeptieren würden, dass ihr Kind eine Person mit muslimischem Glauben heiratet und stetig steigt die Zahl derer, die angeben, kein Problem damit zu haben. Insofern entwickelt Houellebecq sicherlich Charaktere, denen man in Frankreich auch tatsächlich begegnen kann, meiner Meinung nach spiegelt der Roman die grundsätzliche Stimmung im Land jedoch nicht zutreffend wider.

Beim Thema Rechtsradikalismus fällt auf, wie Houellebecq auf unterschiedliche Weisen versucht, das Phänomen aufzugreifen und (positiv) darzustellen, etwa, wenn er einen Aktivisten der Identitären aus Lyon beschreibt. Diese Stadt ist tatsächlich dafür bekannt, dass rechtsextremistische (autonome und gewaltbereite) Gruppierungen dort gut etabliert sind. Somit greift Houellebecq eine Facette des täglichen Lebens in Lyon auf. In den letzten Monaten wurden zunehmend Beschwerden vonseiten der antifaschistischen Organisationen, die seit Jahren Auseinandersetzungen mit rechtsextremistischen Vereinigungen in Lyon führen, über die Tatenlosigkeit der staatlichen Behörden – insbesondere der Polizei – in Anbetracht der rechten Gewalt laut. Vor einigen Wochen wurde dann bekannt, dass das Innenministerium eine antifaschistische Gruppe verbieten will. Insofern sind die Beschreibungen des Romans ziemlich treffend. Es scheint mir aber wichtig zu betonen, dass das rechtsextremistische subkulturelle Milieu Frankreichs deutlich kleiner und schlechter organisiert ist als in Deutschland. Houellebecqs Roman zeigt, wie sowohl rechtsradikale Parteien wie der Rassemblement National als auch rechtsextremistische Bewegungen von der französischen Mehrheitsgesellschaft abgelehnt, aber von einem konservativeren Teil (im Buch repräsentiert durch Pauls Schwester Cécile und deren Mann Hervé) nichtsdestotrotz als legitim betrachtet werden.

Darüber hinaus hat sich der Autor bemüht, seinen Leser:innen einen Einblick in den Alltag eines hohen Beamten zu verschaffen. Die École nationale d’administration (Nationale Hochschule für Verwaltung), die grand corps, das berufliche Leben als Vertrauten eines Ministers – Houellebecq beschreibt nicht nur die Besonderheiten dieser französischen politischen Institutionen, er zeigt auch eine administrative Elite, die zwar kompetent ist, allerdings kaum noch einen Bezug zum Alltag der durchschnittlichen Bürger hat. Diese Kritik ist nicht neu – schon gar nicht nach den Protesten der Gelbwesten – aber Houellebecq impliziert, dass die Spaltung zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und den Regierenden im Jahr 2027, in dem der Roman beginnt, ungebrochen fortexistiert. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich im Moment Netzwerke von Beamten zusammenschließen, die die Entwicklung der public policies in Richtung mehr Flexibilität und mehr E-Services sowie den Abbau von Leistungen der Daseinsvorsorge kritisieren. Beispielsweise versammeln sich in dem neu gegründeten Verein „Nos services publics“ (hohe) Beamte und Angestellte aus dem öffentlichen Dienst, die keinen Sinn mehr in ihren beruflichen Aufgaben sehen und sich engere Kontakte zu und mehr Zeit mit den Bürger:innen wünschen. Außerdem wird die seit über 15 Jahren immer größere und intransparente Rolle der Beratungsunternehmen in den öffentlichen Verwaltungen vom französischen Senat und Teilen der Öffentlichkeit aktuell scharf kritisiert. Im Rahmen des laufenden Wahlkampfs gewinnt dieses Thema an Bedeutung in den politischen Debatten. Ob und welche Folgen diese Initiativen und aktuellen Diskussionen in der Zukunft zeitigen werden, ist offen; fest steht aber, dass die Kluft zwischen Regierenden und Regierten heutzutage aktiv thematisiert wird, was zumindest hoffen lässt, dass Houellebecq in dieser Hinsicht kein zutreffendes Bild der Zukunft gezeichnet hat… 

Das Thema Altern beziehungsweise Krankheit wird in Vernichten ausführlich behandelt. Die Finanzierung des sogenannten „Fünften Alters“ ist in Frankreich seit Jahren Gegenstand von Diskussionen. Es geschieht nicht selten, dass älteren Menschen die finanziellen Mittel für einen Platz im Altersheim fehlen und ihre Angehörigen dafür aufkommen müssen. Außerdem wird seit langem regelmäßig darüber berichtet, dass ältere Menschen in manchen Pflegeheimen sehr schlecht behandelt werden. Im Januar 2022 machten die Missstände erneut Schlagzeilen in der französischen Presse, als Investigationsjournalisten aufdeckten, wie private Konzerne, die weltweit Altersheime betreiben, während der Pandemie enorme Profite einstrichen, während sie die Bewohner:innen misshandelten. Und auch Houellebecq schildert eingehend die Konsequenzen der chronischen Unfähigkeit der Politik, eine moderne Politik für ältere Menschen zu gestalten. Ein sehr relevanter Faktor in dieser Gemengelage sind die in der sogenannten Care-Arbeit tätigen Frauen. Neben seinen misogynen Bemerkungen zeigt Houellebecq auch, wie Frauen – seien sie Verwandten von Pauls krankem Vater oder Pflegekräfte – sich dieser Aufgabe selbstlos und mit großer Hingabe widmen. Während das Thema in der Corona-Pandemie breit in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, ist es im Zuge des aktuellen Wahlkampfs weitgehend aus dem öffentlichen Interesse gerückt.

Literarische Auseinandersetzungen mit dem Klimawandel gibt es von Autoren wie Michel Houellebecq, dessen gegenwartsdiagnostisches Talent doch stets gepriesen wird, kaum.

Zum Ende dieser Rezension soll noch einmal auf diejenigen Themen verwiesen werden, die in dem Bild, das Houellebecq von 2027 zeichnet, nicht auftauchen: Es ist erstaunlich, dass der Klimawandel im Buch kaum eine Rolle spielt – als ob Paris und die wunderschönen Hügel der Region Beaujolais von diesem Phänomen verschont worden wären. Das Thema Terrorismus, das bereits seit einigen Jahren kaum mehr Gegenstand öffentlicher Debatten ist, wird hingegen immer wieder aufgegriffen. Man weiß, dass die Klimafrage in den nächsten Jahren noch deutlich präsenter werden wird: Der Klimawandel ist eine der Hauptaufgaben, mit denen die französische Gesellschaft konfrontiert ist. Doch gibt es von Autoren wie Michel Houellebecq, dessen gegenwartsdiagnostisches Talent doch stets gepriesen wird, kaum literarische Auseinandersetzungen mit dem Thema. Aus einer politisch-gesellschaftlichen Perspektive wäre das jedoch wünschenswert.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Kultur Kunst / Ästhetik Medien Politik

Bénédicte Laumond

Bénédicte Laumond ist Juniorprofessorin für Politikwissenschaft an der Université de Versailles. Zudem ist sie assoziierte Forscherin am deutsch-französischen Forschungszentrum Centre Marc Bloch in Berlin. Bénédicte erforscht unter anderem den Umgang mit Rechtspopulismus in Europa und hat im Jahr 2020 das Buch Policy Responses to the Radical Right in France and Germany veröffentlicht.

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