Thomas Biebricher | Essay | 07.06.2023
Zwischen Wissenschaftsgeschichte und Politökonomie
Kommentar zu „Der erschöpfte Staat. Eine andere Geschichte des Neoliberalismus“ von Ariane Leendertz
Ariane Leendertz’ Buch Der erschöpfte Staat bietet der Leserschaft auf den ersten Blick eine zeithistorische Policy-Analyse im Hinblick auf die Stadtpolitik der jüngeren Vergangenheit in den USA. Doch Leendertz will anhand dieses Politikfeldes auch eine andere Geschichte des Neoliberalismus vorlegen, wie der programmatische Untertitel des Buches lautet. Ich möchte im Folgenden auf der Grundlage einer pointierten Zusammenfassung des Inhalts erläutern, inwieweit ich den programmatischen Anspruch der Autorin eingelöst sehe, und darüber hinaus anregen, Leendertz’ Analyse zum Ausgangspunkt für weitergehende Überlegungen zu nehmen.
Zur politischen Un-/Lösbarkeit urbaner Probleme
Das vordergründige Thema des Buches ist die Veränderung der Urban Policy, also der Stadtpolitik in den USA im Zeitraum zwischen den 1960er- und den 1990er-Jahren. Leendertz zeigt vor allem einen Wandel in der politischen Herangehensweise an diese Thematik auf; wie sich die Agenda selbst, aber auch die Art der Interventionen änderte. Die Besonderheit im Zugriff der Autorin besteht darin, dass sie als Ausgangspunkt keine politökonomischen Entwicklungen im engeren Sinne wählt, sondern eher die Wissenschaftsgeschichte und -theorie. So zeichnet sie zunächst einmal die Formierung eines sozialwissenschaftlichen Diskurses nach, der die epistemologisch-politische Dimension dessen bildete, was sie als solutionism kennzeichnet: die grundsätzliche politische Überzeugung, dass der Staat auf Basis sozialwissenschaftlicher Expertise dazu verpflichtet und auch in der Lage ist, urbane Probleme zu lösen. Die Hochzeit des solutionism war die Great Society in den 1960er-Jahren, als vor allem die Johnson-Administration ambitionierte Ziele bei der Bekämpfung sozialer Probleme aller Art ausgab und entsprechende Reformen verabschiedete.
Aber wie Leendertz zeigt, verflüchtigte sich der grundsätzliche Optimismus bezüglich der Lösbarkeit gesellschaftlicher Probleme im Laufe der 1970er-Jahre zusehends: Die politischen Akteure registrierten die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der jeweiligen städtischen Agenda und wandten sich an die Sozialwissenschaft, die bessere Rezepte zur Problembearbeitung entwickeln sollte. Bei dem Versuch, die Zusammenhänge urbaner Politik besser zu durchschauen und kausale Verbindungen zu identifizieren, geriet die Grundlage des solutionism jedoch immer mehr in Zweifel; und zwar angesichts der Komplexität dieser Zusammenhänge, die eine immer prominentere Rolle in den entsprechenden Debatten spielte und die grundsätzliche Möglichkeit einer staatlich getragenen Stadtpolitik infrage zu stellen schien.
Der Staat sei mit Ansprüchen und Erwartungen konfrontiert gewesen, die er selbst geweckt habe und nun – auch aufgrund gesellschaftlicher Komplexität – nicht befriedigen könne.
Diese Skepsis verbindet sich in Leendertz’ Narrativ mit dem Diskurs über Un-/Regierbarkeit im nordatlantischen Raum: Der Staat sei mit Ansprüchen und Erwartungen konfrontiert gewesen, die er selbst geweckt habe und nun – auch aufgrund gesellschaftlicher Komplexität – nicht befriedigen könne. Dadurch geriet aus Sicht der Vertreter der Unregierbarkeitsthese die politische Ordnung in zunehmendem Maße ins Wanken. Die Erosion des solutionism fiel in die Amtszeit Jimmy Carters, der aber noch immer an dessen Prämissen festhielt und eigentlich antrat, um eine National Urban Policy zu formulieren und zu implementieren. Dieses Projekt blieb nicht nur aufgrund haushaltspolitischer Restriktionen rudimentär, sondern eben auch, weil sich die Policy-Forscher – als intellektuelle Zuarbeiter für politische Entscheidungsträger und staatliche Bürokratien – ihrer Rezepte nicht mehr sicher waren. Angesichts der Komplexität empfahlen sie allenfalls noch streng inkrementelle Problemlösungsstrategien, die zumindest eine höhere Korrigierbarkeit versprachen.
Mit dem Amtsantritt Reagans kam es dann zur Zäsur in der Stadtpolitik: Public-Choice-Theorien arbeiteten die Ineffizienz staatlicher Bürokratien und verschlungener Mehrebenensysteme nicht zuletzt im Kontext des US-amerikanischen Föderalismus heraus und plädierten dementsprechend für die Entflechtung staatlicher Ebenen, wie auch bisweilen für die Privatisierung ganzer Apparate, für die Vergabe bestimmter Aufträgen an Dritte (contracting out) oder doch zumindest für eine Ausschreibungspflicht (compulsory competitive tendering), um das Monopol des Leistungsstaates zu brechen.
Unter dem Eindruck dessen verschoben sich Agenda und Methoden. Nun hieß es, der Staat sei schlicht nicht zuständig für die Lösung städtischer Probleme, wenn man sie überhaupt als Probleme ansehe und nicht als quasinatürliche Entwicklungen in der politökonomischen Geografie und Demografie. Denn angesichts des kapitalistischen Strukturwandels, der, obgleich durchaus politisch unterstützt, als exogener Faktor behandelt wurde, gelte es, geeignete Anpassungsstrategien zu entwickeln und jedenfalls nicht den Staat mit unlösbaren Aufgaben zu belasten. Dieser solle von direkten Eingriffen absehen, stattdessen in erster Linie über Subventionen der privaten Immobilienbranche agieren und sich im Übrigen auf die Förderung des Wirtschaftswachstums konzentrieren. Man schränkte staatlichen Wohnungsbau stark ein und kürzte insgesamt die Kapazitäten der Stadtpolitik auf Bundesebene massiv, wenngleich diese grundsätzlich als Politikfeld dort verblieb.
Die Ära Clinton schloss zumindest insofern an die Ära Carter an, als nun wieder ausdrücklich davon ausgegangen wurde, dass der Staat zur Lösung stadtpolitischer Probleme beitragen kann und soll. Allerdings herrschte auch hier Skepsis gegenüber staatlicher Gestaltungsfähigkeit, die sich daran ablesen lässt, dass der Staat nur noch ein Akteur unter viele sein sollte. Governance war das neue Stichwort für Problemlösungsstrategien über verschiedene Ebenen hinweg und in Zusammenarbeit von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren, inklusive privaten Unternehmen und Zivilgesellschaft. Die entsprechenden Policy-Netzwerke galten nun als Schlüssel zum Erfolg. Doch ab 1995 stand Clinton angesichts einer republikanischen Mehrheit im Kongress massiv unter Druck und es kursierten sogar Pläne, das Department of Housing and Urban Development ganz abzuschaffen. Auch um solchen Forderungen den Wind aus den Segeln zu nehmen, kam es aus dem Ministerium heraus zu einer Reforminitiative im Geiste des New Public Management, während man gleichzeitig weiter Mittel zusammenstrich.
Insgesamt rekonstruiert Leendertz damit eine Entwicklung, in der Stadtpolitik von einer im Rahmen der bundesstaatlichen Agenda einstmals überaus prominenten Rolle zu einem komplett randständigen Politikfeld geriet, die zwar auf bundesstaatlicher Ebene verblieb, aber finanziell zusammengestutzt und politisch marginalisiert war.
Zwei Klarstellungen zu den Reaganomics
Ich möchte zunächst auf eine doppelte Akzentsetzung hinweisen, die mit dieser Geschichte verbunden ist und die sich auf die Debatte darüber bezieht, wie man die Transformationen der 1970er-/1980er-Jahre einschätzt. Hier geht es zum einen um die Frage, inwiefern die Reagan revolution tatsächlich eine wirkliche Zäsur gegenüber der bis dahin vorherrschenden Politik darstellte. In einer Art revisionistischen Geschichtsschreibung wird hier nämlich bisweilen argumentiert, dass der Neoliberalismus eigentlich schon unter Carter anfing und von daher die Reagan-Revolution gar nicht so revolutionär gewesen sei. Demgegenüber zeigt Leendertz, dass es sich durchaus um einen tiefgehenden Einschnitt handelt, denn Carter mag sich zwar für Deregulierung stark gemacht haben und verfolgte einen fiskalisch restriktiven Kurs, aber das Bekenntnis zum Staat als Problemlöser blieb grundsätzlich bestehen. Diese Auffassung änderte sich erst unter Reagan.
Damit verbunden ist eine zweite Klarstellung: Fraglich ist schließlich nicht nur, wie disruptiv die Reaganomics waren, sondern auch, wie sich ihre Auswirkungen bewerten lassen. Im Nachhinein gilt Reagan natürlich gerade unter Konservativen als Säulenheiliger, aber die konservativ-neoliberal gesinnten Zeitgenossen beurteilten die Entwicklungen teilweise weitaus skeptischer und auch in der sozialwissenschaftlichen Diskussion wird die Durchschlagskraft des Roll-Back-Neoliberalismus der Reagan-Administration bisweilen angezweifelt. Schließlich gingen im Endeffekt die Ausgaben des Sozialstaats gar nicht so stark zurück beziehungsweise sie stiegen nur langsamer, die großen Entitlement-Programme wie Social Security und Medicare existierten immer noch und auch die immer wieder angekündigte Föderalismusreform scheiterte letztendlich. Nichtsdestotrotz war, wie Leendertz belegt, die Stadtpolitik – und hier vor allem die Housing Policy – ein Bereich, in dem die Auswirkungen in der Tat massiv waren; so massiv, dass sich dieses Politikportfolio nie wieder von dem Schlag erholte.
Eine entscheidende Analyse des solutionism und der Policy Studies
Damit kommen wir zu dem, was ich als einen der wichtigsten und originellsten Aspekte in Leendertz’ auch insgesamt äußerst gelungenen Studie betrachte. Soweit ich sehen kann, lässt sich zumindest im Blick auf die Literatur zur Geschichte des Neoliberalismus das typische Narrativ über jene Umbruchjahre Ende der 1970er-Jahre in etwa folgendermaßen zusammenfassen: Das hegemoniale keynesianische Paradigma gerät angesichts von Stagflationskrisen in eine epistemisch-politische Krise, weil es weder gute Erklärungen für diese Krisen hat noch politische Rezepte zu ihrer Bewältigung vorweisen kann. In dieses Vakuum stoßen dann Monetarismus, Supply-Side-Wirtschaftspolitik und der Fokus auf die mikroökonomische Dimension des Wirtschaftslebens – mithin der Neoliberalismus in seinen diversen Facetten. Leendertz erzählt die Geschichte dagegen wesentlich spezifischer, indem sie deutlich macht, dass nicht nur der Keynesianismus in eine Krise geriet, sondern auch das Paradigma des solutionism. Die Zweifel gegenüber dem solutionism lassen sich aber nicht einfach auf die keynesianischen Krisen zurückführen – schließlich hätte es hier auch ohne Stagflation ein Problem namens Komplexität gegeben. Damit ist ein wichtiger Beitrag geleistet, der es uns ermöglicht, diese Ära facettenreicher zu beschreiben und klarer zu analysieren.
Und damit zum wissenschaftsgeschichtlichen Ansatzpunkt der Studie: Leendertz analysiert, wie der Topos der Komplexität, der über Systemtheorie, die Kybernetik und natürlich die Naturwissenschaften in die Policy Studies einwandert, ebendort immer größeren Raum einnimmt. Darüber lässt sich nun in der Tat eine andere Geschichte des Neoliberalismus erzählen, die nicht die üblichen Wege beschreitet und weniger über Stagflationskrisen, Hayek und Friedman spricht – die gleichwohl Erwähnung finden – als vielmehr über Komplexität, solutionism und aus der Sicherheitspolitik importierte Systemanalysen.
Der solutionism ließe sich auch als eine Art Gouvernementalität, als eine reflektierte Art des Regierens untersuchen und problematisieren.
In einem solchen Ansatzpunkt steckt einiges Potenzial, das zum Weiterdenken über den Rahmen von Leendertz’ Studie hinaus einlädt: Denn wenn man sich ihre Analyse des solutionism ansieht, dem eine bestimmte Rationalität oder Perspektive auf die Welt zugrunde liegt – er konstruiert die Welt als grundsätzlich meisterbare, hierfür soll er auch entsprechende Eingriffsmöglichkeiten an die Hand liefern –, dann bietet sich der Verweis auf die von Foucault geprägten Gouvernementalitätsstudien an, denen es ja auch gerade um eine Analytik von Rationalitäten und Technologien des Regierens geht. Dementsprechend ließe sich der solutionism auch als eine Art Gouvernementalität, als eine reflektierte Art des Regierens untersuchen und problematisieren. Und dies wäre nicht zuletzt insofern interessant, als sich Foucaults Geschichte der Gouvernementalität schließlich ab dem 18. Jahrhundert vor allem auf liberale Gouvernementalitäten konzentriert, das linke Spektrum aber weitgehend links liegen lässt. An einer Stelle merkt Foucault sogar provokant an, dass es der Sozialismus nie geschafft habe, eine eigenständige Gouvernementalität herauszubilden. In Form des solutionism scheinen mir mindestens Ansätze einer sozialdemokratischen Gouvernementalität vorzuliegen und das ließe sich womöglich weiter ausbuchstabieren.
Darüber hinaus könnte man Foucaults, aber auch Bourdieus Einsichten heranziehen, um sich die Policy Studies als Subdisziplin genauer anzusehen. Sie versucht, sich auch darüber zu etablieren, dass sie als Policy-Zuträgerin für politische Akteure fungiert, vergleichbar mit dem von Foucault untersuchten Aufstieg und der Konsolidierung der Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin im ausgehenden 19. Jahrhundert. Foucault erklärte die Entstehung der Psychiatrie unter anderem dadurch, dass sie eine wichtige Funktion für die Strafjustiz erfüllte, etwa wenn es darum ging, die Gefährlichkeit von Täter_innen einzuschätzen. Und auch in Bourdieus Machtanalyse des wissenschaftlichen Feldes geht es ja insbesondere um Kämpfe, sich als eigenständige Disziplin zu etablieren. Das Interessante an den Policy Studies besteht diesbezüglich darin, dass sich eine Disziplin durch ihre praktischen Problemlösungskapazitäten etablieren möchte, aber beim Versuch, diese unter Beweis zu stellen, das Gegenteil bewirkt: Das Politikfeld, dem sie Expertise liefern soll, wird dadurch letztlich selbst unterminiert.
Grenzen und Normativität der Studie
Hier ist also tatsächlich zunächst einmal eine andere Geschichte des Neoliberalismus zu lesen, die Frage ist aber, ob dies wirklich für das ganze Narrativ gilt; damit wende ich mich abschließend dieser sowie zwei weiteren mehr oder weniger kritischen Nachfragen zu. Sofern der solutionism und seine Erosion also tatsächlich eine andere Erzählung über die neoliberale Transformation erlauben, die sich vor allem darauf gründet, dass die gesellschaftliche Komplexität derart überbordend, der Staat derart überfordert und erschöpft erschienen, dann stellt sich die Frage, wie weit diese Erklärung trägt. Ja, auch die Reaganauts zogen Komplexität noch routinemäßig als Problembeschreibung heran, aber zu diesem Zeitpunkt ging es genau genommen eigentlich gar nicht mehr um eine Problemanalyse, weil es kein zu lösendes Problem mehr gab – jedenfalls nicht für den Staat.
An diesem Punkt verschiebt sich aber die Problematik: von einem epistemologischen aufgrund komplexer Kausalzusammenhänge zu einem volitionalen Problem, das in den Fehlanreizen des Monopolisten Staat bestand. Letzterer war im Spiel des Rentseeking gefangen, wie es die nun zunehmend dominante Schule des Public Choice durchdeklinierte. Die hier skizzierte Problemverlagerung, die Leendertz auch erwähnt, hätte meiner Ansicht nach durchaus noch stärker herausgestellt werden können. Die Folgefrage, die sich daran anschließt, lautet aber: Inwiefern ist die Geschichte, die ab diesem Punkt erzählt wird, wirklich eine andere Geschichte des Neoliberalismus, denn da geht es um Phänomene und Entwicklungen (Public Choice, New Public Management etc.), die zumindest aus der angloamerikanischen Historiografie des Neoliberalismus nicht ganz unbekannt sind. Möglicherweise liegen hier also auch die Grenzen des programmatischen Anspruchs, eine andere Geschichte des Neoliberalismus zu schreiben.
Die zweite Nachfrage bezieht sich auf die epistemologischen Festlegungen, die der Studie zugrunde liegen: Da der Ansatzpunkt die Wissenschaft ist, könnte man mutmaßen, es handele sich um eine Herangehensweise, die eher der idealistischen Seite in der philosophischen Erkenntnistheorie zuneigt. Einem solchen Ansatz zufolge würden Wissenschaft und Diskurse allgemein das Denkbare zu einem bestimmten Zeitpunkt prägen und damit auch darüber mitentscheiden, ob sich staatliche Stellen noch Problemlösungen zutrauen oder eben auch nicht. In Leendertz’ Studie geht es schließlich nicht darum, dass in den 1970er-Jahren die Profitrate fiel und dadurch das Projekt einer Neoliberalisierung an Fahrt aufnahm. Sie zeigt vielmehr auf, warum Wissenschaftler_innen zu dem Ergebnis kamen, dass bestimmte Zusammenhänge komplexer waren als vermutet, und dementsprechend schlussfolgerten, dass sich diese Komplexität womöglich nicht mehr analytisch abbilden, einfangen, zerlegen und in Policy-Rezepte überführen lässt.
Bleibt die Studie gänzlich agnostisch gegenüber der Problemdiagnose Komplexität, deren Effekt sie als Topos oder diskursives Element analysiert, aber nicht auf seine Plausibilität hin hinterfragt.
Dies verweist zuletzt auf die Frage nach dem normativen Standpunkt des Ganzen. Etwas provokativ und vereinfachend könnte man den Kern des Narrativs ja folgendermaßen zusammenfassen: Hier stoßen Forscher_innen auf das Problem der Komplexität, das sich als unüberwindbar erweist und in der Folge wird die politische Lektion gelernt, dass man angesichts der Komplexität dezentrale, vom Individuum ausgehende Herangehensweisen finden muss, die im Zweifelsfall auf Märkte setzen. Es wäre also geradezu eine Geschichte der Selbstaufklärung der Wissenschaft über ihre Grenzen und über politische Akteure, die die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen. Daher stellt sich die Frage, ob die Studie gänzlich agnostisch gegenüber der Problemdiagnose Komplexität bleibt, deren Effekt sie als Topos oder diskursives Element analysiert, aber nicht auf seine Plausibilität hin hinterfragt. Oder lässt sich hier womöglich doch auch eine leicht ideologiekritische Komponente erkennen, die Leendertz zumindest stellenweise andeutet, etwa wenn sie darauf hinweist, dass die entsprechenden Umstellungen der Reagan-Ära, die ja vermeintlich die Lehre aus der überbordenden Komplexität darstellten, letztlich zu keiner Verbesserung führten?
Insgesamt ist Leendertz eine beeindruckende und in vielerlei Hinsicht originelle Studie gelungen, die zudem eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten für weiterführende Überlegungen bietet, und zwar nicht nur für die Disziplin der Zeitgeschichte, sondern auch weit darüber hinaus. Wer sich für die eine oder auch die andere Geschichte des Neoliberalismus interessiert, dem sei das Buch jedenfalls ausdrücklich zur Lektüre empfohlen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Henriette Liebhart.
Kategorien: Epistemologien Politik Sozialpolitik Stadt / Raum Wissenschaft
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