Sebastian Klauke, Karsten Malowitz | Jubiläum | 15.09.2021
Aus dem Leben eines Gelehrten
Eine kommentierte Bildstrecke
Im Mai 1894 heiratete Tönnies seine Verlobte Marie Sieck (1865–1937). Wenig später zog das frischvermählte Paar nach Hamburg, wo Tönnies sich seinen wissenschaftlichen Studien widmete. Als im November 1896 der große Hamburger Hafenarbeiterstreik ausbrach, setzte sich Tönnies wiederholt publizistisch für die Belange und Forderungen der Streikenden ein. Er veröffentlichte empirische Untersuchungen zur Lage der Hafenarbeiter und verfasste eine Reihe von Artikeln, in denen er die Streikenden gegen Vorwürfe der Arbeitgeber und der konservativen Presse verteidigte. Zusammen mit Friedrich Naumann und anderen gehörte er außerdem zu den Unterzeichnern eines vielbeachteten Professorenaufrufs, der am 20. Januar 1897 in zahlreichen Zeitungen erschien und die Hamburger Bevölkerung zur Unterstützung der Streikenden aufrief. Auf den Fortgang seiner akademischen Karriere wirkte sich sein politisches Engagement äußerst nachteilig aus. Er entging zwar knapp einem vom preußischen Kultusministerium angestrebten Disziplinarverfahren, galt aber fortan als Sozialdemokrat und damit als politisch unzuverlässig. Eine Professur blieb ihm auf Jahre hinaus verwehrt.
Das Foto zeigt das Eutiner Wohnhaus, gelegen in der Albert-Mahlstedt-Straße, der damaligen Auguststraße Nr. 8, in dem Tönnies mit seiner Familie von 1901 bis 1921 lebte. Das Haus verfügte über einen eigenen Garten, den die Familie auch für den Anbau von Obst und Gemüse nutzte. Als Tönnies 1908 seine Professur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel erhielt, pendelte er mit dem Zug von Eutin nach Kiel. Die Jahre in Kiel waren für Tönnies eine publizistisch äußert produktive Zeit. Allein zwischen 1908 und 1921 verfasste er mehr als 300 Texte, darunter mehrere Monografien. Das geräumige Haus war auch ein Ort des geselligen geistigen Austauschs. Tönnies lud häufig Freunde und Schüler zu gemeinsamen Ausflügen in die Umgebung ein, gefolgt von stundenlangen Diskussionen bei ihm zu Hause. Zu einigen seiner Schüler unterhielt Tönnies sehr vertrauensvolle Beziehungen. Die engste Beziehung entwickelte sich jedoch zwischen seiner Tochter Franziska (1900–1997) und seinem Mitarbeiter Rudolf Heberle (1896–1991), die einander 1923 heirateten. Als Heberles Berufung auf eine Professur an der Kieler Universität aus politischen Gründen scheiterte, emigrierten beide zusammen mit ihrem Sohn 1938 in die USA.
Bernhard Harms (1876–1939), Professor für Volkswirtschaft an der Kieler Universität und der Begründer des heutigen Instituts für Weltwirtschaft (IfW), war eine der wichtigsten akademischen Bezugspersonen für Tönnies. Als Ökonom interessierte Harms sich insbesondere für die globalen Dimensionen des Wirtschaftslebens. 1908 als Ordinarius für Nationalökonomie an die Universität Kiel berufen, setzte er sich für seinen älteren Kollegen ein und hatte maßgeblichen Anteil daran, dass Tönnies die ihm so lange vorenthaltene Professur doch noch zuteilwurde. Harms und Tönnies verband eine ebenso kollegiale wie freundschaftliche Verbindung. Gemeinsam prägten sie mit ihrem Forschungs- und Lehrbetrieb, der auch linksgerichteten Wissenschaftlern Raum bot und sich durch eine enorme thematische Breite auszeichnete, mehrere Generationen von Studenten. Harms holte Studenten und Forscher aus dem Ausland nach Kiel und profilierte das Institut als international bedeutende Forschungsstätte. Zudem initiierte er den Aufbau der umfassenden und bis heute bestehenden Forschungsbibliothek des IfW. Auf Druck der Nationalsozialisten wurde Harms aus der Universität entfernt und musste im Juni 1933 auch die Leitung des IfW aufgeben.
Das heutige Institut für Weltwirtschaft (IfW) wurde am 20. Februar 1914 als Königliches Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel eröffnet. 1920 erfolgte der Umzug an die Kieler Förde, wo sich das IfW bis heute befindet. Für Tönnies war das Institut, das eng mit der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät kooperierte, ein wichtiges Zentrum seines akademischen Lebens. Viele seiner Schüler studierten und forschten in den Räumlichkeiten des Instituts, das nicht zuletzt aufgrund seiner hervorragend ausgestatteten Bibliothek exzellente Arbeitsbedingungen bot. Auch in pädagogischer Hinsicht war das Institut eine moderne Einrichtung, die neue Lehr- und Lernkonzepte anwandte und darauf abzielte, Wissenschaft und Praxis miteinander zu verbinden. Es war interdisziplinär ausgerichtet und gab verschiedene Zeitschriften sowie eine eigene Schriftenreihe heraus. Das Weltwirtschaftliche Archiv wurde auch von Tönnies häufig als Publikationsort genutzt.
Das Foto zeigt das gediegene Lesezimmer im Kollegienhaus des Wirtschaftswissenschaftlichen Clubs am Institut für Weltwirtschaft, in dem rund 7000 Bücher untergebracht waren. Tönnies war hier häufig zu Gast und nutzte sowohl das Lesezimmer als auch andere Gebäudeteile des Instituts für seine Arbeit. Der Wirtschaftswissenschaftliche Club war auf Initiative von Bernhard Harms am 10. November 1920 gegründet worden. Er bot Wissenschaftlern, Dozenten und Studierenden die Gelegenheit, nach englischem Vorbild in ungezwungener Atmosphäre über politische, wirtschaftliche und akademische Fragen zu diskutieren. Außerdem wurden regelmäßig festliche Aktivitäten veranstaltet. Der Club war integraler Bestandteil des Instituts. Er sollte der „Persönlichkeitsentwicklung“ der Beteiligten dienen und die Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden verringern. Gäste waren nur nach vorheriger „Einführung“ erlaubt. Ab Juni 1921 fanden unter Federführung des Clubs die sogenannten Kieler Vorträge statt, zu denen namhafte Wissenschaftler aus dem In- und Ausland, aber auch Vertreter aus Politik und Wirtschaft eingeladen wurden. Eröffnet wurde die Vortragsreihe von Franz Oppenheimer, der 1919 auf den ersten Lehrstuhl für Soziologie und theoretische Nationalökonomie an der Universität in Frankfurt am Main berufen worden war. Das Kollegienhaus wurde im Juli 1944 bei einem Luftangriff weitgehend zerstört. Der Wirtschaftswissenschaftliche Club allerdings existiert noch heute.
Im September 1913 erhielt Tönnies die vom preußischen König Wilhelm II. unterzeichnete Bestallung zum Ordinarius für Staatswissenschaften und Statistik an der Kieler Universität. Drei Jahre später ließ er sich allerdings von seinen Lehrverpflichtungen schon wieder entbinden, um sich als Emeritus ganz der wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit zu widmen. Nicht zuletzt infolge finanzieller Schwierigkeiten, die die Familie auch zum Verkauf des Hauses in Eutin und zum Umzug nach Kiel bewogen, kehrte Tönnies jedoch 1921 an die Universität zurück. Die Gelegenheit dazu verschaffte ihm ein Angebot des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker (1876–1933), der Tönnies einen Lehrauftrag für Soziologie erteilte. Im Rahmen dieses Lehrauftrags, den er bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten ausübte, etablierte Tönnies das Fach als akademische Disziplin an der Kieler Universität. Kiel war damit, neben Köln und Frankfurt, einer der ersten Orte in Deutschland, an dem das Fach studiert werden konnte.
Das Bild zeigt Ferdinand Tönnies (vorne links) auf der zweiten Lauensteiner Kulturtagung, die vom 29. September bis zum 3. Oktober 1917 auf Burg Lauenstein stattfand. Zu sehen sind u.a. Max Weber, Walter Amelung, Ella Kroner sowie Lulu von Strauß und Torney. Die erste der von dem Verleger Eugen Diederichs (1867–1930) organisierten Tagungen, auf denen zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst in privatem Rahmen über die aktuelle Lage und die zukünftige Ordnung Deutschlands diskutierten, hatte Pfingsten 1917 stattgefunden, eine dritte folgte Pfingsten 1918. Tönnies nahm an der Tagung zusammen mit seiner ältesten Tochter Franziska teil. In Auseinandersetzung mit Max Weber brachte er hier seine Ideen einer „Gesamtgenossenschaft“ für Deutschland in die Debatten ein. Weitere bekannte Teilnehmer waren u.a. Theodor Heuss, Max Maurenbrecher, Friedrich Meinecke, Otto Neurath, Werner Sombart, Ernst Toller, Alfred Vierkandt und Marianne Weber.
Ferdinand Tönnies wurde zu Lebzeiten mehrfach von verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern porträtiert. Die abgebildete Kohlezeichnung des Malers und Grafikers Klaus Wrage (1891–1984) datiert wohl auf das Jahr 1920. Wrage stammte aus einer holsteinischen Malerfamilie und wurde in den 1920er-Jahren vor allem durch seine Holzdrucke bekannt. Er war nach dem Militärdienst in seine Heimat nach Ostholstein zurückgekehrt, lebte also in unmittelbarer Nähe von Tönnies, der bis 1921 mit seiner Familie in Eutin wohnte. Im Tönnies-Nachlass finden sich vier Briefe von Wrage an Tönnies, die allerdings keinen Aufschluss über die Entstehung des Bildes geben. Weitere Zeichnungen stammen von der Malerin Käte Lassen (1880–1956) und dem bekannten Zeichner und Grafiker Emil Orlik (1870–1932).
Tönnies hatte in den 1920er- und 1930er-Jahren in Zeitungsartikeln wie auch in Reden entschieden gegen die Nationalsozialisten Stellung bezogen und sich solidarisch mit von Antisemiten verfolgten Kollegen gezeigt. Seine politische Standhaftigkeit, die seine Karriere so lange behindert hatte, bedeutete auch deren Ende. Am 26. September 1933 wurde Tönnies von den Nationalsozialisten auf Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Staatsdienst entlassen. Auch aus seiner Funktion als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wurde er satzungswidrig verdrängt. Tönnies erhielt zwar kein offizielles Schreibverbot, hatte vor dem Hintergrund der restriktiven Politik der neuen Machthaber aber kaum noch Gelegenheit, sich publizistisch zu betätigen. Die finanzielle Situation der Familie wurde dadurch sehr schwierig. Da die Mieteinnahmen des Kieler Wohnhauses nicht ausreichten, sah sich Tönnies gezwungen, Teile seiner umfangreichen Bibliothek zu verkaufen. Später wurde ihm eine geringe Pension bewilligt. Tönnies selbst verfasste zu dem Vorgang einen knappen Bericht, den er allerdings nicht veröffentlichte. Der „Im Oktober 1934“ betitelte Text ist abgedruckt in: Ferdinand Tönnies, Gesamtausgabe, Band 23.2: Nachgelassene Schriften 1919–1936, hrsg. von Brigitte Zander-Lüllwitz und Jürgen Zander, Berlin / New York 2005, S. 475–478.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke Universität Wissenschaft
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