Clemens Boehncke | Interview | 09.04.2025
„Das ‚stahlharte Gehäuse‘ ist mittlerweile aus Plastik“
Welche ist Ihre Lieblingstheorie?
„Denkbar, daß die gegenwärtige Gesellschaft sich einer kohärenten Theorie entwindet“ – Diesen Satz Adornos habe ich als Entlastung von allzu verbissenen Denkanstrengungen empfunden und lese seither eigentlich nur noch Krimis.
Welches Theoriebuch haben Sie sich hochambitioniert gekauft und dann doch nie (zu Ende) gelesen?
Als törichter Student habe ich mir einmal Habermas‘ „Rekonstruktion des historischen Materialismus“ in der Erwartung zugelegt, es handle sich um einen zweckdienlichen Einführungsband – weit gefehlt. Ich nahm mir vor, mich nicht erneut an der Nase herumführen zu lassen und kaufte zur Sicherheit für einige Jahre keine weiteren Bücher von Habermas.
Durch eine Reise mit der Zeitmaschine treffen Sie eine:n frühe:n Vertreter:in der Soziologie Ihrer Wahl. Was berichten Sie ihr oder ihm aus der soziologischen Zukunft?
Ich treffe Max Weber, der gerade friedlich „Heil Dir im Siegerkranz“ vor sich hin summt. Ich berichte ihm, dass das Sprachbild des ‚stahlharten Gehäuses‘ nicht mehr zieht, denn das Gehäuse ist mittlerweile aus Plastik; ob er mit Blick auf die gegenwärtigen Produktionsverhältnisse auch etwas im Zusammenhang mit Kunststoff assoziieren könne? Mit Rücksicht auf seine Nerven verschweige ich, dass mittlerweile auch Sozialdemokraten Lehrstühle bekleiden.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten nicht die Theorie der sozialen Welt, sondern die Welt der Theorie anpassen. Für welche würden Sie sich entscheiden?
Die Weltwerdung des Strukturfunktionalismus mitsamt entsprechender Metropolis-Ästhetik stelle ich mir ganz schön schrullig vor.
Welchen Begriff haben Sie bis heute nicht verstanden?
Im Alltag bereitet mir die korrekte Deklination des Ausdrucks „Habitus“ anhaltend Schwierigkeiten.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Gesellschaftstheorie Kritische Theorie Sozialer Wandel Zeit / Zukunft
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Theorie, wozu und wie?
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