Oliver Römer | Rezension | 16.04.2025
Der Anthropologe und die Dialektiker
Rezension zu „Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949-1969“ von Thomas Wagner

Obwohl die Soziologiegeschichte der alten Bundesrepublik seit einem halben Jahrhundert erforscht wird und ein zentrales Thema disziplinärer Selbstvergewisserung bleibt, ist sie bei Weitem noch nicht zu Ende erzählt. Davon zeugt das sehr lesenswerte Sachbuch des Publizisten und Kultursoziologen Thomas Wagner, das unter dem Titel Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949-1969 mit Arnold Gehlen einen als Sozialtheoretiker, philosophischen und anthropologischen Denker sowie politischen Intellektuellen vielfach behandelten Protagonisten in den Mittelpunkt rückt. Als Mitbegründer jener Soziologie, die sich in Westdeutschland nach dem Krieg in Forschungsinstituten und an Universitäten rasch institutionell verfestigen konnte, steht der Institutionentheoretiker Gehlen hingegen bis heute im Schatten anderer ebenfalls philosophisch-anthropologisch orientierter Fachvertreter wie Helmut Schelsky und Helmuth Plessner.
Diese Außenseiterstellung Gehlens in der bisherigen Soziologiegeschichtsschreibung ist keineswegs unbegründet. Als Soziologieprofessor wirkte Gehlen erst in Speyer, später in Aachen und damit abseits der soziologischen Zentren, die in Frankfurt, Köln, Münster und Westberlin lagen. Im Gegensatz zu René König in Köln, Schelsky in Hamburg, Plessner in Göttingen oder den Protagonisten der Frankfurter Schule Theodor W. Adorno und Max Horkheimer legte er niemals gesteigerten Wert auf die Förderung des soziologischen Nachwuchses oder gar wissenschaftliche Schulbildungen. Gehlen gründete kein soziologisches Forschungsinstitut und leitete keine bedeutenden empirischen Untersuchungen an. In soziologischen Fachgesellschaften und auf Fachkongressen war er nur wenig präsent. Zudem korrelierte der konservativ-technokratische Duktus des Gehlen‘schen Denkens mit der Erzählung von der Soziologie als einer im Kern liberal gesonnenen Demokratiewissenschaft noch weit weniger als der sozial- und hochschulreformerische Eifer seines Freundes und Schülers Schelsky, dessen Positionierung in der jungen Bundesrepublik zumindest noch auf ein eingeschränktes funktionalistisches Verständnis für den Sinn demokratischer Institutionen schließen lässt.[1]
Wie Schelsky profitierte auch Gehlen vor 1945 von der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik und von der Vertreibung jener überwiegend jüdischen Sozialwissenschaftler:innen in Deutschland. Die Vorstellung, dass diese Kohorte zumindest in Teilen mit amerikanischen Methoden und Theorien im Gepäck nach Deutschland zurückkehrte und die Modernisierung von bundesrepublikanischer Soziologie und Gesellschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren federführend voranbrachte, prägte lange Zeit das Selbstbild der westdeutschen Soziologie als einer aus dem nordamerikanischen und europäischen Exil gegründeten Fachdisziplin, in die Gehlen nie recht hineinpassen konnte und wollte. Und bei allen Bemühungen, etwa einen nationalsozialistischen beziehungsweise „reichssoziologischen“ Einfluss[2] auf die westdeutsche Soziologieentwicklung aufzudecken, war auch in diesen Diskussionen nur eine Nebenrolle für Gehlen vorgesehen. Das mag daran liegen, dass er es im Gegensatz zu anderen belasteten Sozialwissenschaftler:innen verstand, die institutionellen Chancen nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik erfolgreich zu nutzen, ohne seine eigene wissenschaftliche Arbeit allzu deutlich in den Dienst nationalsozialistischer Rassevorstellungen zu stellen.
Dennoch kann der üblicherweise aus dieser Gemengelage folgende Befund einer disziplinären Außenseiterlage verwundern, weil sich umgekehrt durchaus auch gute Gründe für die Wichtigkeit Gehlens für die Entwicklung der Disziplin anführen lassen. Ausgerechnet der 1904 geborene Philosophische Anthropologe wurde auf den ersten nach 1945 vakanten Soziologielehrstuhl an der Verwaltungshochschule in Speyer berufen. Als er schließlich im Jahr 1976 starb, hatte die Soziologie gerade den Zenit ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Wirksamkeit überschritten. Obwohl sich Gehlen bereits in den 1960er-Jahren von der linken Zeitgeistdisziplin Soziologie lossagte, war er zu diesem Zeitpunkt längst zum theoretischen Stichwortgeber für die „Eindeutschung“ der amerikanischen Rollentheorie sowie für die Übertragung des Konzeptes der Industriegesellschaft auf den westdeutschen Sozialkontext geworden. Generationen von Studierenden, die seit den 1970er-Jahren mit Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit[3] oder Dieter Claessens Rolle und Macht[4] an die Soziologie gewöhnt wurden, rezipierten Gehlen zumindest vermittelt über die Fußnoten in diesen Büchern. Die Rundfunk- und Fernsehgespräche mit Adorno brachten den soziologischen Intellektuellen Gehlen in den 1960er-Jahren zudem einem breiten Kulturpublikum näher und ließen ihn rückblickend gar als konservativen innersoziologischen Gegenspieler des Frankfurter Sozialphilosophen erscheinen.
Diese unterschiedlichen Spuren, von Wagner zu einem stimmigen Gesamtbild verdichtet, verweisen also auf eine nicht nur unterschwellige Wirkung des intellektuellen Oeuvres Gehlens. In Abenteuer der Moderne geht es allerdings kaum um eine Rettung Gehlens für die Wissenschafts- und Theoriegeschichte. Vielmehr erhebt das Buch den Anspruch, ein zwar nie verdrängtes, aber zumindest immer noch unbewältigtes und einigermaßen widersprüchliches Kapitel Soziologie- und Intellektuellengeschichte aufzugreifen, das sich in der Person und im Wirken Gehlens wie in einem Brennglas verdichtet. Die historische Figur Gehlen steht nämlich exemplarisch für ein Thema, das Wagner jenseits des Gebietes der Soziologie bereits in zwei Monografien behandelt hat. Sowohl das 2017 erschienene Buch Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten[5] als auch das 2021 erschienene Der Dichter und der Neonazi. Erich Fried und Michael Kühnen[6] thematisieren Verbindungen und Kontinuitäten zwischen linken und rechten Protagonisten in der deutschen Intellektuellengeschichte seit 1945.
Wie sehr Gehlen mit dieser Geschichte verbunden bleibt, zeigen die von ihm ausgehenden politisch-intellektuellen Rezeptionslinien. Im politischen Koordinatensystem der westdeutschen Soziologie stand Gehlen auf der rechten Seite und trug somit dazu bei, die vermeintlich hegemoniale Position der Frankfurter Schule in der deutschen Soziologie der 1960er-Jahre schon zeitgenössisch infrage zu stellen. Zugleich erwiesen sich Gehlens Schriften und sein Denken nach 1945 jedoch über sämtliche politische und weltanschauliche Lagerbildungen hinweg als bemerkenswert anschlussfähig, er wurde daher unter Linken ein wichtiges Gesprächsthema und auch ein Gesprächspartner für sie. Dies gilt für die Auseinandersetzungen innerhalb der Bundesrepublik, wie die zeitweise beinahe freundschaftliche Annäherung zwischen Adorno und Gehlen belegt – eine Beziehung, die sich jenseits von öffentlich-medialer und fachlicher Kopräsenz beider Protagonisten auch in regelmäßigen Briefwechseln und gelegentlichen Treffen in Speyer oder Frankfurt am Main im informellen familiären Rahmen verfestigte. Es zeigt sich aber ebenfalls anhand des Stellenwerts, den Gehlen zumindest zeitweise bei marxistischen Intellektuellen innerhalb der DDR hatte.
Als Kronzeugen hierfür führt Wagner den Philosophen Wolfgang Harich an, der bereits in den 1950er-Jahren Gehlen als Gesprächspartner für sein Programm einer marxistischen philosophischen Anthropologie für unentbehrlich hielt. Anfang der 1940er-Jahre, also mitten im Nationalsozialismus, war Harich als junger Philosophiestudent in Seminaren von Nicolai Hartmann mit Gehlens Konzeption Philosophischer Anthropologie und dessen Buch Der Mensch in Berührung gekommen.[7] Die bei Hartmann und Eduard Spranger erworbenen Kenntnisse der Traditionen des deutschen Idealismus, der Phänomenologie und der Philosophischen Anthropologie bildeten schließlich die Grundlage für jene philosophiegeschichtlichen Vorlesungen, die der junge, gerade promovierte Dozent Harich Anfang der 1950er-Jahre in Ostberlin hielt.[8]
Als politischer Intellektueller positionierte sich Harich damals in der „Plattform für den besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ – einer politischen Gruppierung, die – an die frühen kulturpolitischen Ambitionen des ersten DDR-Kulturstaatsministers Johannes R. Becher anknüpfend – den Weg in den Sozialismus im bildungspolitischen Erbe Weimars angelegt sahen.[9] Dieses Versprechen Bechers kumulierte 1949 symbolisch in der Gründung eines ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden und den in der DDR aufwendig begangenen Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag Goethes. Es trug mit dazu bei, in einer kurzen kulturpolitischen Aufbruchsphase nach dem Zweiten Weltkrieg prominente Amerika-Exilanten wie Ernst Bloch oder Bertolt Brecht für die Universitäten beziehungsweise den Kulturbetrieb der DDR zu gewinnen. Dagegen exponierte sich Harich Mitte der 1950er-Jahre allerdings nach einer Phase einer ersten ideologischen Verhärtung, die mit dem Tode Stalins 1953 nur vermeintlich endete. Konträr zur zunehmenden weltanschaulichen Dogmatisierung des Marxismus-Leninismus an den Universitäten der DDR plädierte der Philosoph Harich für eine an den Regeln des innerphilosophischen Diskurses orientierte offene Auseinandersetzung von bürgerlicher und marxistischer Wissenschaft und Philosophie – und meinte damit neben den unterschiedlichen Traditionen des deutschen Idealismus nicht zuletzt die an westdeutschen Universitäten in dieser Zeit sehr präsenten Richtungen der Phänomenologie und der Philosophischen Anthropologie: „Die Philosophiestudenten, die wir heute ausbilden, […] werden sich mit der bürgerlichen Intelligenz Westdeutschlands auseinanderzusetzen haben. Sie werden dazu aber nur imstande sein, wenn sie sich konkrete Kenntnisse unseres nationalen Kulturerbes angeeignet haben.“[10] Dass Harich diese Auseinandersetzungen zeitweise gegen das Zentralkomitee der SED führte und sogar dessen Ablösung forderte, brachte ihm 1956 schließlich eine zehnjährige Gefängnisstrafe ein, die er bis zu seiner Amnestie 1964 in der Vollzugsanstalt Bautzen verbüßte.
Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit, und damit also wesentlich früher als Adorno, pflegte Harich einen direkten Kontakt zu Gehlen, der bis zu dessen Tod nicht abreißen sollte und über Briefwechsel hinaus etwa regelmäßige Besuche in Speyer miteinschloss. In Wagners Buch wird er somit gewissermaßen zum Dritten im Bunde. Seine Anwesenheit sorgt dafür, dass der um Adorno und Gehlen gruppierte Links-Rechts-Gegensatz um eine Ost-West-Spannung erweitert wird. Mit fast schon missionarischem Eifer verteilte Harich die in der DDR nicht publizierten und deshalb nahezu unzugänglichen Schriften Gehlens. Wie Wagner zu berichten weiß, konnte er sogar den späten Bertolt Brecht zu einer außerordentlich produktiven Lektüre von Gehlens Urmensch und Spätkultur anregen (S. 170).
Über Gehlens Verstrickungen in die Wissenschaftspolitik des Nationalsozialismus machte sich Harich keinerlei Illusionen, betrachtete sie aber offensichtlich als zweitrangig. Wie Kant oder Hegel zählte Harich Gehlen nämlich zu jener Kategorie von Denkern, mit denen sich die Auseinandersetzung lohnte, weil sie das Terrain bürgerlicher Philosophie und Wissenschaft bis an ihre äußerste Grenze erkundeten und schon deshalb unersetzliche Gesprächspartner für den Marxismus blieben: „‚Wenn Gehlen den Marxismus studiert und sich ihm gegenüber so aufrichtig prüfend verhält wie gegenüber anderen Quellen‘, notierte Harich 1952 […], werde er sich ‚unweigerlich der KP oder dem linken Flügel der Sozialdemokratie anschließen‘“ (S. 14). Dass Harich, der sich laut Wagner sogar um eine Berufung von Gehlen an die Humboldt-Universität bemüht hatte, mit diesem Urteil unter Marxisten keineswegs allein stand, zeigen Äußerungen des zwischen 1949 und 1951 ebenfalls an der Humboldt-Universität, später in Marburg tätigen Soziologen Heinz Maus, der – als ehemaliger Leipziger Student Gehlens während des Nationalsozialismus – diesem sogar eine subtile Aneignung des Marx‘schen Denkens unterstellte: „Gehlen kennt die Marxschen Texte sehr gut, auch wenn er sie nicht zitiert.“[11]
Die in diesem Buch beleuchtete, sehr spezielle Konstellation Adorno, Gehlen und Harich erweist sich schon deshalb als ungemein interessant und anregend, weil Wagner zeigt, dass sich die Auseinandersetzungen zwischen westdeutschen Soziologen, Philosophen und Intellektuellen stets unter den Augen von Kolleg:innen vollzog, deren wissenschaftlich-intellektuelle Praxis unter den vollkommen anderen Spielregeln eines zweiten deutschen Staates stand. Während die Protagonisten der Frankfurter Schule auch aufgrund ihrer Prägung durch das amerikanische Exil die Entwicklungen in der Sowjetunion und der DDR für einen totalitären Irrweg hielten, einte Gehlen und Harich nicht zuletzt ihre gemeinsame, wenn auch von Seiten des konservativen Anthropologen nie öffentlich geäußerte Bewunderung für Stalin (S. 251 ff.).
In der philosophischen Parteinahme Harichs für Gehlen und gegen Adorno reflektiert sich überdies eine in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Soziologie kaum wahrgenommene Positionierung; sie verweist auf den bis heute zu wenig beachteten Kosmos von DDR-Wissenschaft und -Philosophie.[12] Während in den dort geführten Auseinandersetzungen um das Verhältnis von dialektischer Philosophie und Wissenschaft etwa der Positivismusstreit der bundesrepublikanischen Soziologie eine unbedeutende Fußnote blieb, ignorierte die westdeutsche Studentenbewegung in ihrer Neuaneignung klassischer Positionen des Marxismus die Situation der Philosophie und der Wissenschaften im Osten beinahe gänzlich: Erst der Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit der Dialektik-Diskussion im Osten verwandelte also die Marx-Exegeten an den Universitäten im Westen Deutschlands in „Adornos Erben“.[13]
Diese bis heute unzureichend aufgearbeitete Ost-West-Beziehung bleibt schon deshalb historiographisch herausfordernd, weil sich im Gegensatz zu den „großen Jahren“ der westdeutschen Soziologie, die Wagner von 1949 bis 1969 datiert, keine unmittelbar komplementäre Entwicklung in der DDR abzeichnete.[14] Es wäre eine Aufgabe für kommende historische Vergleichsstudien, hier etwa nach funktionalen Äquivalenten zur westdeutschen „Leitwissenschaft“ Soziologie zu fahnden. Der Verdacht liegt nahe, dass eine wissenschaftliche und universitäre Selbstreflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR zumindest phasenweise in den Bereichen Germanistik und Philosophie möglich war.[15]
Zum Bedauern wissenschaftsgeschichtlich interessierter Leser:innen bleibt jedoch festzuhalten, dass Wagner diesbezüglich keine spektakulären Tiefenbohrungen unternimmt. Bei der Lektüre von Abenteuer der Moderne wird man den Eindruck nicht los, dass es dem Autor zwar eigentlich um die Beziehung zwischen Harich und Gehlen ging, diesem Anliegen aber aufgrund des Genres „populäres Sachbuch“, das sein Erscheinen in einem größeren Publikumsverlag durch entsprechende Absatzzahlen zu rechtfertigen hat, jedoch enge Grenzen gesetzt sind. Dementsprechend verschwindet die Spur Harichs zeitweise hinter der zugegebenermaßen kurzweiligen und anekdotenreichen Darstellung der Beziehung von Adorno und Gehlen, die bis heute noch in den nur halbwegs entlegenen Nischen des kollektiven Gedächtnisses eines allgemeinen Lesepublikums nachleben dürfte.
Ob die Darstellung des intellektuellen Oeuvres Gehlens dem durch Harich, aber auch vom Adorno-affinen Gehlen-Schüler Karl-Siegbert Rehberg geprägten Wagner dabei nicht phasenweise allzu sehr nach links entgleist, wäre zumindest zu diskutieren. Dies betrifft insbesondere Wagners Einordnung von Gehlens Soziologie der abstrakten Malerei, die Adornos Musiksoziologie gleichberechtigt an die Seite gestellt wird, ohne augenscheinliche Differenzen in philosophisch-anthropologischen beziehungsweise kritisch-theoretischen Ästhetikkonzeptionen auch nur ansatzweise zu reflektieren. Ist nicht etwa Gehlens Unterstellung der Kommentarbedürftigkeit des modernen Kunstwerks als Versuch der Einhegung des gewohnte ästhetische Kategorien sprengenden „Choks“ unkommentierter surrealistischer oder dadaistischer Bildwerke zu interpretieren, für den sich insbesondere Walter Benjamin interessierte? Während man Gehlen nämlich durchaus unterstellen kann, dass sich im Kunstkommentar die Überlegenheit der Kunstproduzenten über ihre Konsumenten manifestiert, interpretiert Benjamin „die rücksichtslose Vernichtung der Aura“ der „Hervorbringung“[16] im modernen Kunstwerk als eine Aneignung von Kunstprodukten, die sich erst unter den technisch-reproduktiven Voraussetzungen moderner Massenkultur vollauf entfaltet. Die Verdrängung von künstlerischer Produktion aus den für Gehlen noch so bedeutenden sakralen Räumen in die Sphäre des Alltäglichen (etwa in der Architektur), aber auch ihre zunehmende Abhängigkeit vom Kunsthandel sind sichtbare Zeichen dieser Entwicklung. Fraglich wird damit speziell bei Benjamin jenes Band der Kulturkritik, das – vermeintlich – das Gespräch zwischen Gehlen und Adorno zusammenhielt.
Die Beziehung zwischen Gehlen und Harich hätte noch aus anderen Gründen eine vertiefende Auseinandersetzung verdient. Wie die Ostberliner Philosophin und frühere Harich-Studentin Camilla Warnke festhält, befand sich der junge Harich vor seiner Verhaftung in der DDR „in der typischen fatalen Situation des kritischen Intellektuellen, den das Denken in die kommunistische Partei geführt hat und der in ihr nicht aufhört, selbständig zu denken.“[17] Dass dieses Dilemma an Grundprobleme der Gehlen‘schen Institutionentheorie erinnert, wird vielleicht in einem jener Texte deutlich, die der junge Gehlen 1935 unter dem direkten Eindruck des Nationalsozialismus verfasste. „Wahrheiten“, so hält Gehlen hier fest, „offenbaren sich nicht nur im denkenden Bewußtsein, sondern auch in der stummen Sprache der Ereignisse“[18] – einer äußeren „Wirklichkeit“ also, die den Menschen, und mit ihm den Intellektuellen, „als ganze[n] Mensch[en]“ – existenziell – bestimmt. Diese Wirklichkeit des ganzen Menschen ist laut Gehlen im Jahre 1935 „kaum mehr die religiöse, sondern die politische Existenz“[19] – mit anderen Worten: Die Stelle kirchlicher Institutionen besetzen in der modernen Industriegesellschaft zunehmend funktionale Äquivalente wie Staat und Partei, die im Gegensatz zur parlamentarischen Verfasstheit der liberalen Demokratie die „stumme Sprache“ der politischen Tat sprechen, also politische Programme im Zweifelsfall auch ohne oder gegen ihre Intellektuellen durchzusetzen vermögen. Wenn hingegen, wie in der Bundesrepublik, derartige Äquivalente fehlen, so könnte man Gehlen, Überlegungen Schelskys aufgreifend, ergänzen, benötigt die „wissenschaftliche Zivilisation“[20] der modernen Industriegesellschaft andere Medien und Instrumente, um ihren Kontakt zur Wirklichkeit nicht abreißen zu lassen. Ein solches Instrument ist für Gehlen die Soziologie, die als administrative Hilfs- und Planungswissenschaft anders als die von ihm bereits 1935 als ratlos und unverbindlich beschriebene Philosophie die „stumme Sprache“ wissenschaftlich modellierbarer und messbarer Fakten spricht.
Bedenkt man dies, dann lässt sich der interessanterweise von Wagner an keiner Stelle erläuterte Buchtitel Abenteuer der Moderne womöglich erhellen. In einem kürzlich erschienenen Buch mit dem Titel Abschied vom Abenteuer hat der Potsdamer Medienhistoriker Heiko Christians versucht, das Werk des Gehlen in mancherlei Hinsicht recht nahe stehenden Literaten Ernst Jünger auf den Nenner der Erlebnisform des Abenteuers zu bringen. Er bemerkt dazu:
„Die Afrikanischen Spiele sind 1936 ein ‚Abschied vom Abenteuer‘. Das 1937 noch einmal monographisch (und typographisch) exponierte Lob der Vokale gibt nun eine konventionellere, nichttechnische, synästhetische Auffassung der Sprache und der Welt vor. Bis zum Nachwort der Afrikanischen Spiele war es ein ‚Raum, der einer veränderten Physik untersteht‘, den Jünger nach seinem Potential für ‚gefährliche‘ Abenteuer und nach seinen Funktionsgesetzen erzählerisch und essayistisch abklopfte. Die neuen Entdeckungsfahrten, nach 1937, erkunden vor allem die Räume unter und hinter den Wörtern.“[21]
Die Soziologie in diesem Sinne als „Abenteuer der Moderne“ zu beschreiben, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als in ihr eine wissenschaftlich-technische Ausdrucks- und Regulationsform von modernen Gesellschaften zu erkennen, die zur „konventionelleren, nichttechnischen, synästhetischen Auffassung der Sprache“ der Philosophie in Konkurrenz tritt. Dies ist aber eine Zuschreibung, die man nicht nur bezogen auf die alte Bundesrepublik als eine tendenziell technokratisch-konservative Funktionsbestimmung des Faches begreifen muss. Die zwischen progressiver Veränderung und Anpassung an die Verhältnisse oszillierenden Auseinandersetzungen des politischen Intellektuellen Harich in und mit der SED, aber auch die von wechselseitiger Zugewandtheit und Abgrenzung bestimmte Diskussion zwischen den soziologischen Intellektuellen Gehlen und Adorno um die jeweils unterschiedlich gewichtete Funktion des Faches Soziologie für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft ließen sich vor diesem Hintergrund als Antworten auf die Frage verstehen, ob sich Philosophie im Sinne eines denkenden Verhaltens zur Welt erledigt hat oder eben nicht. Dieses dialektische Problem von „Verwirklichung“ und „Aufhebung“ der Philosophie[22] läuft hier also auf die Frage hinaus, inwiefern Soziologie konträr zu ihren technokratischen Funktionsbestimmungen für eine denkende beziehungsweise kritisch-intellektuelle Selbstverständigung über gesellschaftliche Verhältnisse in beiden Teilen Deutschlands sprechfähig gemacht wurde und auch zukünftig gemacht werden könnte.
Fußnoten
- Vgl. etwa Patrick Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2015.
- Vgl. Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996.
- Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, übers. von Monika Plessner, Frankfurt am Main 1971.
- Dieter Claessens, Rolle und Macht, München 1968.
- Thomas Wagner, Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten, Berlin 2017.
- Thomas Wagner, Der Dichter und der Neonazi. Erich Fried und Michael Kühnen, Stuttgart 2021.
- Camilla Warnke, Der junge Wolfgang Harich und die Philosophiegeschichte. Wolfgang Harichs Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie 1951-1954, in: Philosophische Gespräche 1, Berlin 1999, S. 31–56, hier S. 42.
- Vgl. Camilla Warnke, Der junge Wolfgang Harich.
- Vgl. Hans Mayer, Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt am Main 1993, S. 100 ff.
- Harich, zit. nach Camilla Warnke, Der junge Wolfgang Harich, S. 53.
- Heinz Maus, Marxismusstudien, in: Schmollers Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 89 (1969), 6, S. 716–723, hier S. 722.
- Vgl. Volker Gerhardt / Hans-Christoph Rauh, Anfänge der DDR-Philosophie. Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern. 1945–1958, Berlin 2001; Hans-Christoph Rauh / Peter Ruben, Denkversuche. DDR-Philosophie in den 60er Jahren, Berlin 2005; Hans-Christoph Rauh / Hans-Martin Gerlach, Ausgänge. DDR-Philosophie in den 70er und 80er Jahren, Berlin 2009.
- Jörg Später, Adornos Erben. Eine Geschichte der Bundesrepublik, Berlin 2024; vgl. hierzu auch Peter Ruben, Über Methodologie und Weltanschauung der Kapitallogik, in: Sozialistische Politik 9 (1977), 4, S. 40–64; Manfred Lauermann, Sozialwissenschaften in der DDR aus Sicht des bundesdeutschen SDS. Philosophische Gespräche 7, Berlin 2005.
- Vgl. Hansgünter Meyer, Die DDR-Soziologie von den Anfängen bis 1971, in: Hans-Christoph Rauh / Peter Ruben, Denkversuche, S. 413–458.
- Vgl. hierzu Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. 2, Frankfurt am Main 1993, S. 94 ff.
- Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und weitere Dokumente. Kommentar von Detlev Schöttker, Frankfurt am Main 2007, S. 43.
- Camilla Warnke, Der junge Wolfgang Harich, S. 50.
- Arnold Gehlen, Die Philosophie und der Staat, in: ders., Philosophische Schriften II (1933–1938), Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt am Main 1980, S. 295–310, hier S. 308.
- Arnold Gehlen, Die Philosophie und der Staat, S. 309.
- Vgl. Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik, München 1979.
- Heiko Christians, Abschied vom Abendteuer. Ernst Jüngers Jahrhundertlektüren, Berlin 2023, S. 25.
- Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1976, S. 378–391, hier S. 384.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.
Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Moderne / Postmoderne Philosophie Wissenschaft
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