Amadeus Ulrich | Rezension |

Der Liberalismus der Stunde?

Rezension zu „ad Judith N. Shklar“ von Hannes Bajohr und Rieke Trimçev

Hannes Bajohr / Rieke Trimçev:
ad Judith N. Shklar. Leben – Werk – Gegenwart
Deutschland
Hamburg 2024: Europäische Verlagsanstalt
284 S., 22,00 EUR
ISBN 978-3-86393-133-9

„Es ist inzwischen nur zu gut bekannt, dass die Demokratie nicht unvermeidlich ist, dass sie von innen heraus zerstört werden kann“, schrieb die US-amerikanische politische Theoretikerin Judith Nisse Shklar (1928–1992) vor rund 70 Jahren in After Utopia, ihrem erstem Buch.[1] Der Liberalismus sei sich seiner selbst zutiefst unsicher, ergänzte sie. Bedauerlicherweise ist diese Aussage heute so aktuell wie damals. Doch was ist gemeint, wenn wir von Liberalismus sprechen? Es handelt sich, wie Shklar in einem späteren Aufsatz betonte, um eine Tradition, die mehrere Denktraditionen umfasst.[2] Ein solches Spektrum verschiedener Einflüsse und Richtungen mahnt zur intellektuellen Vorsicht. Diese scheint ganz besonders geboten zu sein in einer Zeit, in der die Frage, wofür das Adjektiv „liberal“ genau steht oder stehen sollte, kontrovers diskutiert wird. Für alle, die sich in den Debatten zurechtfinden wollen, bieten Shklars Schriften wertvolle Orientierungspunkte. International bekannt geworden ist sie vor allem durch ihre Argumente für den „Liberalismus der Furcht“.[3] Damit ist eine insbesondere von Montaigne und Montesquieu inspirierte Spielart des Liberalismus bezeichnet, die der Vermeidung von Grausamkeit und Furcht oberste Priorität einräumt, statt die Verwirklichung eines summum bonum oder die Perfektionierung der Menschheit als eines, um John Stuart Mill zu zitieren, „sich entwickelnden Wesens“[4] zum Zweck politischer Praxis zu erheben. Shklars Theorie lehrt nicht nur, wovor wir uns zu fürchten haben, sondern auch, warum wir die Furcht selbst fürchten sollten. Für den britischen Philosophen Bernard Williams steckt in ihrem Ansatz nichts geringeres als die „einleuchtendste Begründung“ des Liberalismus.[5]

Doch trotz solch gewichtiger Fürsprache und eines stetig wachsenden Interesses an ihrem Werk ist Shklar nach wie vor längst nicht so bekannt wie John Rawls, mit dem sie eng befreundet war, oder Hannah Arendt, mit der sie ganz und gar nicht befreundet war. Gerade in Deutschland ist sie noch immer eher ein Insidertipp – zu Unrecht, wie der vorliegende Band ad Judith N. Shklar zeigt. „Ihr Werk scheint wie geschaffen für einen Moment,“ schreiben die Autor:innen Hannes Bajohr und Rieke Trimçev, „in dem liberales Denken von allen Seiten unter Druck gerät.“ (S. 8) Ein besseres Duo hätte man sich für eine einführende Interpretation von Shklars Werk nicht wünschen können. Bajohr hat viele von Shklars Schriften ins Deutsche übersetzt[6] und zudem, ebenso wie Trimçev, kluge Aufsätze zu ihrem politischen Denken veröffentlicht. Was die beiden über Shklars Schreibstil sagen, nämlich, dass er von „eleganter Einfachheit“ geprägt ist, ohne dabei Komplexität zu reduzieren (S. 99), gilt auch für ihre eigene Darstellung. Inhaltlich geht es ihnen vornehmlich darum, die politische Theorie des Liberalismus der Furcht zu aktualisieren und die sich hartnäckig haltende Vermutung, Shklars Liberalismus sei zurückhaltend und negativistisch, zu entkräften (S. 87).

Bajohr und Trimçev ist eine einführende Darstellung geglückt, die man nicht nur gerne liest, sondern die auch Lust auf die Lektüre von Shklars Schriften macht und dazu anregt, mit ihr über „ganz normale Laster“ wie Snobismus und Heuchelei oder über die Folgen „passiver Ungerechtigkeit“ in der Demokratie nachzudenken. Der Band zeigt auch, wie aktuell und relevant Shklars phänomenologisches, kontextsensibles Denken ist, das Ungerechtigkeiten vom Blickwinkel jener aus zu verstehen sucht, die sie erleiden.[7] Ihr Liberalismus versucht, die Stimmen der Schwächsten ins Zentrum zu rücken. Das ist, wie Bajohr und Trimçev argumentieren, gerade in Bezug auf Praktiken des Zuhörens in einer „Gesellschaft der Fremden“ (S. 204) oder mit Blick auf die Herausforderungen des Klimawandels und der Migrationspolitik ein wichtiges Anliegen – nicht, weil Shklar uns eine klare Richtschnur für die politische Praxis an die Hand gäbe, sondern weil ihre ideengeschichtlich zutiefst geschulten theoretischen Ausführungen zusammen mit der politischen Urteilskraft auch den Sinn für die historische und soziale Bedingtheit von Normen und Institutionen zu schärfen imstande sind.

Das Buch ist grob in zwei Teile gegliedert. Im ersten entwerfen Bajohr und Trimçev eine „Werkbiografische Skizze“ (S. 17–93), in der sie mit Liebe zum Detail Shklars Lebensweg und ihre intellektuelle Entwicklung nachzeichnen. Geboren und aufgewachsen im lettischen Riga, flieht Shklars Familie vor dem drohenden Kriegsausbruch und nach dem tragischen Tod ihrer Schwester 1939 zunächst nach Schweden und dann weiter über die Sowjetunion nach Kanada, wo die gefährliche Reise nach mehr als achtzehn Monaten endet. In den folgenden Jahren entdeckt die junge Shklar an der McGill University in Montreal ihre Passion für die politische Theorie und wechselt nach ihrem Masterabschluss 1951 ans Radcliffe College der Harvard University. Dort promoviert sie bei Carl Joachim Friedrich mit einer brillanten Doktorarbeit und avanciert, wie Stanley Hoffmann einmal sagte, zum „größten Star“ des Government Departments, in dem sie aber auch gefürchtet wird, „weil sie es ihren Studierenden alles andere als leicht macht“ (S. 51). Der werkbiografische Teil beruht auf aufwendiger Recherchearbeit und bereichert die bestehende Forschung.[8] Darüber hinaus werden Shklars maßgebliche Schriften historisch eingeordnet und inhaltlich prägnant besprochen. Die dichte und informierte Darstellung ist nicht nur für Einsteiger:innen in ihr Werk von großem Wert. Positiv hervorzuheben ist besonders, dass die Autor:innen zeigen, wie früh Shklar überzeugt war, dass ein bodenständiges, wirklichkeitsnahes politisches Denken einer historisch informierten und auch an der Literatur geschulten Moralpsychologie bedarf. Ihr Werk zeugt von einer unbändigen Lesewut und die Frage nach dem „Verhältnis von Facta und Ficta“ (S. 34) gehört zu den spannendsten, die ihre Schriften aufwerfen. Wie kann die Lektüre von Weltliteratur politiktheoretischen Argumentationen zu mehr Realismus verhelfen? Wie Bajohr und Trimçev erläutern, meinte Shklar, dass die politische Theorie nicht nur unsere Argumente, sondern auch unsere Einstellungen und den Blick auf die Welt prägen sollte. In ihrem nur selten zitierten Aufsatz zu George Orwells 1984 schreibt sie, dass sie den Wert philosophischer Analysen politischer Konzepte keineswegs verkenne. „Aber wir können und sollten mehr tun, nämlich Geschichten darüber erzählen, wie sich Ideen in der Erfahrung verkörpern, und das kann gelingen, indem man sich auf Fiktion genauso wie auf historische Narrative stützt.“[9]

Im zweiten Teil des Buches, der den Titel „Shklar heute“ trägt (S. 95–215), wenden die beiden das Konzept von Shklars Liberalismus der Furcht auf gegenwärtige politische Herausforderungen an und suchen dessen progressiven Charakter zum Vorschein zu bringen. Dabei rekonstruieren sie nicht nur die besonderen Merkmale von Shklars Denkstil, sondern beziehen auch Position gegen Interpretationen von Samuel Moyn und anderen, die ihre politische Theorie dem sogenannten Liberalismus des Kalten Krieges zurechnen und ihrem Spätwerk eine konservative Wende attestieren.[10] Shklar war jedoch, wie etwa anhand ihrer Kritik an Isaiah Berlin ersichtlich, keine Anhängerin einer rein negativen Freiheitsvorstellung. Virtuos machen Bajohr und Trimçev deutlich, dass es ihrem Liberalismus darum geht, soziale Ungleichheiten drastisch zu verringern und politische Diskurse für die Schwächsten deutlich inklusiver zu machen – ein Vorhaben, das nicht von positiven Freiheitsvorstellungen zu trennen ist: „Entgegen anderslautender Vermutungen ist das normative Profil von Shklar nicht das eines minimalistischen, konservativen Liberalismus, der die Aufgaben und Möglichkeiten politischer Gestaltung allein auf die Herstellung von Sicherheit beschränken will und sonst keinerlei positive Inhalte aufweist.“ (S. 106) Ein wichtiger Punkt. Drei Erwägungen sind in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert: Erstens Shklars „negativer Egalitarismus“ (S. 106), der Machtungleichgewichte zwischen den Bürger:innen deshalb fürchtet, weil sie Grausamkeiten und andere Laster möglich machen. Zweitens ihre Überzeugung, dass demokratische Diskurse mehr Raum für Affekte lassen müssen und das harmonische Konsensvorstellungen die politische Wirklichkeit verzerren. Drittens ihr Glaube daran, dass Menschen einen Sinn für Ungerechtigkeit haben, eine „Fähigkeit zum Mitleiden“ (S. 70), die sozialen Wandel antreiben sollte.

Bajohr und Trimçev veranschaulichen die progressiven Potenziale von Shklars Liberalismus anhand dreier Themenkomplexe: Einer gegenüber den Stimmen der Opfer responsiven demokratischen Ordnung, der Rolle passiver Ungerechtigkeit in Zeiten des Klimawandels sowie der Frage nach dem Verständnis von Staatsbürger:innenchaft „aus der Perspektive der von ihr Ausgeschlossenen“ (S. 179). In einer intellektuellen Tour de Force gehen sie dabei auch auf Verbindungslinien und Differenzen zu anderen Denker:innen wie Hans Jonas, Hannah Arendt und Iris Marion Young ein, wobei Letztere einige Worte mehr verdient hätte. Besonders eindrücklich sind die Ausführungen zu Shklars Auseinandersetzung mit der Problematik, dass Leid und Unfreiheit nicht nur aus bewussten Handlungen, sondern auch aus Untätigkeit herrühren können – ein Thema, dessen Relevanz insbesondere für Debatten um Klimaungerechtigkeit unmittelbar einleuchtet. Darüber hinaus zeigen Bajohr und Trimçev, wie sich mit Shklar nicht nur ein „Recht auf Arbeit“, sondern auch ein „Recht auf Zukunft“ (S. 157) begründen lässt und wie erhellend ihre Gedanken zu der Frage sind, was ein Unglück von einer Ungerechtigkeit unterscheidet. Deutlich wird, welche komplexen normativen und praktischen Implikationen ihre Forderung hat, dass in einer Demokratie vor allem die Stimmen der Schwächsten gehört werden müssen.[11] Angesichts jüngerer Debatten rund um epistemische Ungerechtigkeit betonen die Autor:innen, dass das Zuhören in einer vielfältigen modernen Gesellschaft eine voraussetzungsreiche Praxis ist, die, und diese Begrifflichkeit stammt von Nadine Gordimer, der „rationalen Empathie“ (S. 124) bedarf.

Daran besteht kein Zweifel. Doch welche Bedingungen ermöglichen es, dass sich diese affektiven Sozialbeziehungen entwickeln und marginale Erfahrungen tatsächlich artikuliert werden können? Die Frage nach den konkreten Voraussetzungen eines „demokratischen Ethos“ (S. 129) zählt zu den schwierigsten, die das Buch aufwirft, und der Blick hätte, wie von Trimçev selbst an anderer Stelle gefordert, noch stärker „auf die Frage nach der institutionellen Dimension von Shklars Denken“ gelenkt werden können.[12] Erwähnt seien auch die Schwierigkeiten, vor die sich eine demokratische Politik gestellt sieht, die Erfahrungsberichte von Opfern von Gewalt und Missachtung aus moralischen Gründen und auch ob ihres „epistemischen Nutzen[s]“ (S. 208) gebührend zu Wort kommen lassen will. Diese bestehen, kurz gesagt, nicht nur darin, dass manche Betroffene nicht sprechen können (S. 143), sondern auch darin, dass manche nicht sprechen wollen, weil sie die Opferrolle als erniedrigend empfinden und es daher vorziehen, zu schweigen. Wie Shklar selbst einmal sagte: „Die meisten von uns würden lieber die Realität uminterpretieren als zuzugeben, dass wir Ungerechtigkeiten hilflos ausgeliefert sind.“[13]

Auf solche Spannungen innerhalb des Shklar’schen Werks weisen die Autor:innen nur selten hin. So wird beispielsweise auch die von Rousseau inspirierte Idee, dass wir Menschen ein „intuitives Ungerechtigkeitsgefühl“ (S. 118) besitzen, von ihnen etwas zu schnell als „aktive Protestform wie auch epistemische Ressource für politische Veränderung“ (S. 150) verteidigt. In dem Band taucht nirgends Friedrich Nietzsche als Advocatus Diaboli auf. Dabei steht doch die Annahme, dass Menschen über ein solches moralisches Vermögen verfügen, das uns Übel erkennen lässt und unser Mitgefühl evoziert, in Konflikt mit der Beobachtung, dass Grausamkeit ein „ganz normales Laster“ ist und sogar, wie auch Shklar wusste, genossen werden kann: „Unsere beharrliche Grausamkeit kommt in den Schrecken des Bürgerkrieges ebenso offensichtlich zum Ausdruck wie in dem Vergnügen daran, andere auszulachen. Außerdem genießen es die meisten von uns, sich einmal richtig auf Kosten der Opfer zu amüsieren.“[14] Wie kann das sein, wenn doch die Grausamkeit unser moralisches Bewusstsein erschüttert? Um dieses Problem zu konfrontieren, würden die Autor:innen zurecht auf den erwähnten negativen Egalitarismus verweisen und argumentieren, dass Ungleichheiten und soziale Distanz zwei der Hauptquellen sind, aus denen das Laben am Leiden anderer herrührt. Grausamkeit gedeiht aufgrund ungleich verteilter Macht und geht, wie der israelische Moralphilosoph Avishai Margalit argumentiert hat, mit einer Weigerung einher, die Realität des geteilten Menschseins anzuerkennen.

Margalit kommt – trotz der Ähnlichkeiten im Denken – in dem Band ebenfalls nicht zu Wort. Das führt zu einem weiteren Punkt. Ihm zufolge bedarf die negative philosophische Rechtfertigung, der zufolge die körperliche und „seelische“ Grausamkeit das schlimmste Übel ist, das wir Menschen einander antun können, des Konzepts einer unbedingt zu achtenden Menschenwürde.[15] Dieser Begriff bleibt im Buch unterbeleuchtet, obgleich er in Shklars Werk relativ häufig Verwendung findet. So heißt es etwa in dem Aufsatz „Rechte in der liberalen Tradition“, dass es nur eine die verschiedenen Liberalismen einigende Gesinnung gebe, nämlich „die Überzeugung, dass menschliche Würde persönliche Gedanken- und Handlungsfreiheit verlangt“.[16] Es mangelt an Studien zur Rolle und zum Potenzial des Würdebegriffs in Shklars politischem Denken. Die Bedeutung der Thematik ist auch deshalb gegeben, weil die Kritik an ihrem teils holprigem Versuch, die Grausamkeit als summum malum zu begründen, nicht unberechtigt ist.[17] Sehr gute analytische Grundlagenarbeit hat Bajohr in einem Aufsatz zu den Quellen liberaler Normativität geleistet, in dem er in Shklars Liberalismus sogar ein „erstaunlich kantisches Potential“ entdeckt.[18] Das wirft wiederum die Frage auf, inwiefern sich dieser Aspekt mit Shklars im Buch oft hervorgehobenem Skeptizismus gegenüber „universalen Begründungen“ (S. 117) und Idealen der Gleichheit als „Begründungsfundament“ (S. 115) in Einklang bringen ließe.[19]

Ein letzter Kritikpunkt sei erwähnt. Shklar ist vorgeworfen worden, die Ungleichheit ökonomischer Machtmittel und die daraus resultierenden Verhältnisse von Abhängigkeit und Furcht nicht ausreichend im Blick zu haben. Dabei sind es natürlich keineswegs nur politische Gewalt und Unterdrückung, die wir zu fürchten haben, sondern auch Arbeitslosigkeit, Armut und Krankheit sowie die Machtmissbräuche von Wirtschaftsmagnat:innen, vor denen uns ein demokratischer Staat, freilich auch mit den Mitteln des Zwangs, zu schützen hat. Vernachlässigt der Liberalismus der Furcht ökonomische Ungleichheit und damit verbundene Ungerechtigkeiten? Bajohr und Trimçev lesen Shklar als Sozialdemokratin und betonen sowohl ihre Verteidigung „wohlfahrstaatliche[r] Umverteilung“ (S. 12) als auch ihre Kritik an „ungerechten Arbeitsbedingungen“ (S. 122), wollen bei ihr aber keine „,versteckte sozialistische Ader“ (S. 213) entdecken können. Denn das hieße, in ihrer Selbstbezeichnung als Liberale eine bloße „Schutzbehauptung“ zu sehen und ihre Skepsis gegenüber sozialistischen Bewegungen der Vergangenheit zu ignorieren. Dabei schließen sich sozialistische und liberale Grundsätze keineswegs gänzlich aus, wie auch die Autor:innen in einer Fußnote bemerken (S. 283, FN 9). Man denke, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, etwa an Mary Wollstonecraft, Thomas Paine, John Stuart Mill und Franz Oppenheimer oder in jüngerer Zeit an Lea Ypi und Thomas Piketty.[20] Liberaler Sozialismus muss kein Oxymoron sein. Wer Grausamkeit und hochkonzentrierte Macht fürchtet, kann, gerade in unserer Zeit, von politischer Ökonomie nicht schweigen. Es dürfte sich lohnen, der Frage nachzugehen, inwiefern Shklars Kritik der Ungleichheit sowie ihrer Idee eines demokratischen Ethos sozialistische Tendenzen innewohnen, die mit Blick auf die Grausamkeiten der kapitalistischen Produktionsverhältnisse radikalisiert werden könnten. Bajohr und Trimçev sagen sogar selbst, dass der Liberalismus der Furcht mit sozialistischen Positionen in dem kompatibel sei, „was er ablehnt“ (S. 214). Nun, das ist nicht wenig. So könnte man in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass die von Shklar in Wählen und Verdienen erwähnte Idee eines Rechts auf Arbeit auf die französischen Sozialisten Charles Fourier und Louis Blanc zurückgeht (und vom anarchistischen Kommunisten Pjotr Kropotkin wiederum scharf kritisiert wurde); oder man könnte den demütigenden Paternalismus eines Wohlfahrtsstaats analysieren, der nicht nur fördern, sondern auch fordern will. Auch die Vision „ökonomischer Unabhängigkeit“,[21] die die Freiheit von Furcht in der Wirtschaftssphäre impliziert, ist anspruchsvoll, weil Shklar sie als Grundbedingung elementarer Selbstachtung in einem demokratischen Gemeinwesen versteht. Diese Stichworte mögen bereits genügen, um – wie es bei Axel Honneth heißt – die „Leuchtkraft und Radikalität“ ihres Liberalismus von unten anzudeuten.[22] Dessen Aktualität steht außer Frage angesichts drohender und gegenwärtiger Grausamkeiten, denen gerade die Schwächsten dieser schmerzerfüllten Welt unerbittlich zum Opfer fallen, und der antidemokratischen Regression unserer Tage. Es sei nur an folgende Sätze erinnert: „Wir sagen: ‚Nie wieder!‘, aber irgendwo wird in diesem Augenblick jemand gefoltert und abermals ist die unmittelbare Furcht zur am weitesten verbreiteten Form sozialer Kontrolle geworden; hinzu kommen noch die Schrecken der modernen Kriegsführung, die wir ebenfalls nicht vergessen dürfen.“[23]

Letztlich ist es den Autor:innen nicht anzukreiden, dass die hier genannten Punkte in dem als Einführung gedachten Band nicht systematisch besprochen werden. Im Gegenteil. Hannes Bajohr und Rieke Trimçev ist mit ad Judith N. Shklar eine überaus kundige und lesenswerte Darstellung gelungen, die zum Weiterdenken anregt und Räume öffnet, um mit Shklar über sie hinauszugehen. Wer in ihr Werk einsteigen möchte, wird von diesem Buch enorm profitieren. Mehr kann man sich von einem aktualisierenden Essay nicht erhoffen.

  1. Judith N. Shklar, After Utopia. The Decline of Political Faith [1957], mit einem Vorw. vers. von Samuel Moyn, Princeton, NJ / Oxford 2020, S. 218–219 (meine Übersetzung, A.U.).
  2. Judith N. Shklar, Rechte in der liberalen Tradition [1992], in: dies., Der Liberalismus der Rechte, übers. von Dirk Höfer und Hannes Bajohr, Berlin 2017, S. 20–64, hier S. 20.
  3. Judith N. Shklar, Der Liberalismus der Furcht [1989], hrsg., übers. und mit einem Nachw. vers. von Hannes Bajohr, Berlin 2013.
  4. John Stuart Mill, Über die Freiheit [1859], übers. von Bruno Lemke, Stuttgart 2017, S. 20.
  5. Bernard Williams, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2013, S. 311.
  6. Jüngst erschienen auch ihre 1989 gehaltenen Tanner Lectures on Human Values in deutscher Übersetzung: Judith N. Shklar, Wählen und Verdienen, übers. von Hannes Bajohr, Berlin 2024. Siehe dazu auch Michael Hochgeschwender, Glanz und Elend des Liberalismus in den USA. Rezension zu „Wählen und Verdienen. Über die amerikanische Staatsbürgergesellschaft und das Streben nach Inklusion“ von Judith N. Shklar, in: Soziopolis, 05.11.2024.
  7. Judith N. Shklar, A Life of Learning, in: Bernard Yack (Hg.), Liberalism without Illusions. Essays on Liberal Theory and the Political Vision of Judith N. Shklar, Chicago, IL / London 1996, S. 263–279, hier S. 277.
  8. Siehe Giunia Gatta, Rethinking Liberalism for the 21st Century. The Skeptical Radicalism of Judith Shklar, New York 2018; Andreas Hess, The Political Theory of Judith N. Shklar. Exile from Exile, New York 2014; sowie Jan-Werner Müller, Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus, Berlin 2019.
  9. Judith N. Shklar, Nineteen Eighty-Four: Should Political Theory Care?, in: dies., Political Thought and Political Thinkers [1985], Chicago, IL / London 1998, S. 339–352, hier S. 341 (meine Übersetzung, A.U.).
  10. Samuel Moyn, Der Liberalismus gegen sich selbst. Intellektuelle im Kalten Krieg und die Entstehung der Gegenwart, übers. von Christine Pries, Berlin 2024.
  11. Vgl. Amadeus Ulrich, Furcht und Elend in der Demokratie: Zur Aktualität des politischen Denkens von Judith N. Shklar, in: Zeitschrift für politische Theorie 13 (2022), 1–2, S. 69–89.
  12. Rieke Trimçev, Ein „anderer Liberalismus“ für das 21. Jahrhundert – aber welcher? Neue Texte von und über Judith N. Shklar, in: Neue politische Literatur 66 (2021), S. 323–343, hier S. 333.
  13. Judith N. Shklar, Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl [1990], übers. von Christiana Goldmann, hrsg. und neu durchges. von Hannes Bajohr, Berlin 2021, S. 65.
  14. Ebd., S. 61.
  15. Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, übers. von Gunnar Schmidt und Anne Vonderstein, Berlin 1997, insbes. Kap. 5 und 8. Eine vortreffliche Diskussion der Ansätze von Margalit und Shklar bietet Jonathan Allen, The Place for Negative Morality in Political Theory, in: Political Theory 29 (2001), 3, S. 337–363. Siehe auch die beeindruckende Studie von Regina Schidel, Relationalität der Menschenwürde. Zum gerechtigkeitstheoretischen Status von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Frankfurt am Main / New York 2023.
  16. Shklar, Rechte in der liberalen Tradition, S. 20.
  17. Siehe David Enoch, Politics and Suffering, in: Analytic Philosophy, 20.10.2023 (online first); John Kekes, Cruelty and Liberalism, in: Ethics 106 (1996), 4, S. 834–844.
  18. Hannes Bajohr, Judith N. Shklar über die Quellen liberaler Normativität, in: Karsten Fischer / Sebastian Huhnholz (Hg.), Liberalismus. Traditionsbestände und Gegenwartskontroversen, Baden-Baden 2019, S. 71–97, hier S. 94.
  19. In Über Ungerechtigkeit schreibt Shklar: „Sollte die Demokratie eine moralische Dimension haben, dann ist es die, dass das Leben aller Bürger von Bedeutung ist und dass sich ihr Rechtsempfinden durchsetzen muss.“ (S. 60) Impliziert das nicht eine Vorstellung moralischer Gleichheit als Begründungsfundament?
  20. Siehe hierzu auch Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015; Hannes Kuch, Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus, Frankfurt am Main / New York 2023; sowie jüngst Matthew McManus, The Political Theory of Liberal Socialism, Abingdon / New York 2024. Siehe auch Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992. Dort definiert Habermas den Sozialismus, freilich keineswegs unkontrovers, als „Inbegriff notwendiger Bedingungen für emanzipierte Lebensformen […], über die sich die Beteiligten selbst erst verständigen müssen“ (S. 12).
  21. Judith N. Shklar, American Citizenship. The Quest for Inclusion, Cambridge, MA / London 1991, S. 67.
  22. Axel Honneth, Die Historizität von Furcht und Verletzung. Sozialdemokratische Züge im Denken von Judith Shklar, in: ders., Vivisektionen eines Zeitalters. Porträts zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2014, S. 248–262, hier S. 260.
  23. Shklar, Der Liberalismus der Furcht S. 40.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

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Amadeus Ulrich

Amadeus Ulrich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für politische Theorie und Philosophie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie am Forschungszentrum „Normative Ordnungen“. Er beschäftigt sich mit politischem Realismus, Theorien der Gerechtigkeit, dem Liberalismus der Furcht und der Kritischen Theorie. In seiner im Sommersemester 2024 eingereichten Doktorarbeit „The Tyranny of the Real“ entwickelt er eine immanente Kritik verschiedener Realismen in der politischen Philosophie und setzt sich dabei vor allem mit Judith N. Shklar, Bernard Williams und Raymond Geuss auseinander.

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