Jens Bisky | Veranstaltungsbericht | 27.06.2023
Der Soziologe als Erzieher
Wolfgang Streeck las in der Bibliothek des Konservatismus aus dem „Manifest der Kommunistischen Partei“
Als Wolfgang Streeck am 15. Juni in der Bibliothek des Konservatismus sprach, präsentierte ihn deren Direktor, Wolfgang Fenske, vor allem als Mann der starken Meinungen. Wie es sich gehört, listete Fenske die Stationen der akademischen Karriere Streecks auf und erwähnte die beiden jüngsten Bücher Gekaufte Zeit sowie Zwischen Globalismus und Demokratie, doch besonders gewürdigt wurden nicht die wissenschaftlichen Arbeiten, sondern die „profilierten Meinungen“ des Soziologen, der über viele Jahre das Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung geleitet hatte. Streeck habe vor „unkontrollierter Massenzuwanderung“ und „amerikanischem Imperialismus“ gewarnt, sich skeptisch gegenüber der Europäischen Union geäußert, er habe den Nationalstaat und dessen Grenzen gelobt und sich seit 2018 an der Initiative „Aufstehen“ der Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht beteiligt. Als ob das alles nicht schon genüge, trete er jetzt auch noch in der Bibliothek des Konservatismus auf. So hob Fenske das Ungewöhnliche des Abends heraus und bot an, Streecks Erscheinen in den Lebenslauf eines notorischen Dissenters einzuordnen. Dass der Gast viel gelesene Kolumnen für den Blog der Zeitschrift New Left Review verfasst, blieb unerwähnt.
Die Bibliothek des Konservatismus residiert seit 2012 in einem Charlottenburger Bürohaus von belangloser Architektur, gelegen schräg gegenüber der Industrie- und Handelskammer zu Berlin. Sie ist ein wichtiger Diskussionsort derer, die man „Neue Rechte“ nennt, wobei nach beidem genauer zu fragen wäre: Was meint da „neu“, was meint da „rechts“? Den Kern der Büchersammlung bildet die Privatbibliothek des Publizisten Caspar von Schrenck-Notzing, der seit 1970 die Zeitschrift Criticón herausgab. Eng arbeitete er mit Armin Mohler zusammen, der nach Kriegsende die Bezeichnung „konservative Revolution“ populär machte und der Rechten ureigene Traditionsbestände sicherte. Die Bibliothek mit ihren 30.000 katalogisierten Titeln wird über eine Stiftung finanziert, deren Vorsitz Dieter Stein, der Gründer der Wochenzeitung Junge Freiheit, innehat. Die Bibliothek konnte in den zurückliegenden Jahren einige prominente Gäste für Vortrags- und Diskussionsabende gewinnen. Hier sprachen etwa der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin, die Politikerin Erika Steinbach, die von der CDU zur AfD wechselte, oder der Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Die Geschichte der Bibliothek des Konservatismus könnte alle irritieren, die im Handgemenge der Gegenwart dazu neigen, die Kontinuitäten rechten Denkens und zäher rechter Organisationsanstrengungen zu übersehen. Wer solche Phänomene nicht berücksichtigt, sich stattdessen mit den beliebten sozialpsychologischen Deutungen der jüngsten Konjunktur rechter Überzeugungen bescheidet, wird die Erfolge der AfD allenfalls oberflächlich erklären können.
Über das Verhältnis des Konservatismus zum Kapitalismus sollte Wolfgang Streeck sprechen. Könne, so die Frage, ein Konservatismus, dem es ums Bewahren gehe, kapitalistisch sein oder könne er es nicht. Dass Streeck prokapitalistischen Überzeugungen das Wort reden würde, schien angesichts seiner Bücher und Aufsätze ausgeschlossen. Interessant war daher allein, wie er Konservatismus und Antikapitalismus zusammenbringen würde. Er tat es in der Rolle eines soziologischen Erziehers, der anhand weniger Thesen, Fragen und Geschichten aus dem eigenen Leben die vielfältigen konservativen Strömungen auf eine die destruktiven Kräfte kapitalistischen Wirtschaftens mäßigende, begrenzende Funktion verpflichten wollte. Diese Beschwörung eines gemäßigten Konservatismus wirkte einerseits sympathisch, andererseits seltsam aus der Zeit gefallen. Über die „internationale Krise des Konservatismus“, die Thomas Biebricher in seiner jüngst erschienenen Studie Mitte/Rechts analysiert hat, wurde allgemein, nicht konkret und aktuell gesprochen, dafür viel über Wünschbarkeiten.
Mit dem Bekenntnis, abenteuerlustig und neugierig zu sein, begann Streeck seinen Vortrag. Ihn interessiere, wie in dieser Republik verschiedene Fraktionen der Gesellschaft miteinander auskommen und sprechen können, ohne sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Allein die „Kraft des Arguments“ solle gelten. Nach diesem Vorspruch hielt Streeck das Manifest der Kommunistischen Partei hoch, die handliche Ausgabe mit den Holzschnitten Frans Masereels. Er las daraus die berühmte Passage über die „revolutionäre Rolle“ der Bourgeoisie vor, der Marx und Engels bekanntermaßen bescheinigten, sie habe „alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört“. Nachdem, so Streeck weiter, „die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt“ worden sind, nach dieser Ernüchterung, könne die Frage nach der Freiheit in einer komplexen, modernen Gesellschaft gestellt werden.
Er konstatierte eine „Selbstzerstörung des bürgerlichen Konservatismus“ durch das „Fraternisieren des Bürgertums mit der unbürgerlichen ,schöpferischen Zerstörung‘ der bürgerlichen Gesellschaft“. Der Kapitalismus entwerte alle Traditionen, die der Konservatismus für ihn erfinde und zwinge zur „immer neuen Erfindung von Ewigkeitswert beanspruchenden, dennoch immer kurzlebigeren Traditionen“. Was als Bewahrenswertes beschworen werde, verändere sich in Wirklichkeit ungeheuer schnell. Dieser Widerspruch beraube den Konservatismus seiner Glaubwürdigkeit. Das treibe jene, die im unaufhörlichen Wandel nach Beständigkeit suchen, in die Hände reaktionär millenaristischer politischer Bewegungen. Wer sich die CDU, die britischen Konservativen oder die Reste konservativer Parteien in Frankreich anschaue, werde vergeblich nach „ewiger Substanz“ suchen.
Der bürgerliche Konservatismus habe sich nicht mit dem „progressiven Befreiungspotenzial der kapitalistischen Moderne“ verbündet, sondern mit der „autoritären Realität des Kapitalismus“. Er habe die autoritären Elemente des vorkapitalistischen und vordemokratischen Erbes zu erhaltenswerten Traditionen erklärt und deren Weiterleben im Kapitalismus für ebenso notwendig wie wünschenswert. Beispiele dafür seien Vorstellungen vom „Unternehmer als Führer“, „Paternalismus als Führungsprinzip“, die „Belegschaft eines Betriebs als Gefolgschaft“, „Loyalität und Dankbarkeit der Arbeiter im Betrieb“, der „Betrieb als Familie“. Solche reaktionären Konzepte sind von der ökonomischen Entwicklung, angesichts zerlegter Betriebe, fluktuierender Belegschaften, wechselnder Eigentümer, flexibler Kapitalmärkte weitgehend überholt worden. Der Konservatismus habe zur Tradition ernannt, was der Kapitalismus sowohl brauche als auch immer wieder zerstöre. Es sei daher, so die von Streeck herausgestellte Paradoxie, eine ständige Neubestimmung vermeintlich gewachsener Tradition erforderlich.
„Auch vorher schon ständig auf dem Rückzug“ überschrieb Streeck seine zweite These. Er knüpfte seine Überlegungen an die Frage, wie der Konservatismus denn entscheide, welche Traditionen erhaltenswert seien. Welche der zahlreichen Vergangenheiten suche er sich aus? Die permanenten Veränderungen verlangen, so Streeck, nach neuen Sozialordnungen. Sozialordnungen hingegen seien „klebriger, langlebiger“ als Technologie. Daher brauche man Leitbilder. Die libertäre Lösung bestehe darin, jedem zu erlauben und zu ermöglichen, das zu tun, was er wolle. Damit hatte Streeck die Schwierigkeiten benannt, mit denen ein glaubwürdiger Konservatismus rechnen müsse, und die Aufgabe umrissen. Auch deutete er an, dass er den Wohlfahrtstaat der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für eine bewahrenswerte Tradition halte. Damals seien die Menschen in der Bundesrepublik noch ohne Tafeln ausgekommen. Heute dagegen betritt ein Viertel der Grundschulkinder in NRW morgens die Schule, ohne vorher gefrühstückt zu haben.
Eine Möglichkeit des Konservativismus sei es, sich auf das „gegebene Wesen des Menschen“ zu berufen, das allen Gesellschaftsformen zugrunde liege. Dann laute allerdings die Frage, wie dieses Wesen zu bestimmen sei. An dieser Stelle verwies Streeck noch einmal auf Marx und Engels, das heißt auf deren Vorstellung, der Mensch erzeuge sich selbst in der Geschichte. Gegen eine ontologische Auffassung vom Wesen des Menschen setzte Streeck dieses praxeologische Verständnis. Er verdeutlichte diese nicht-konservative, humanistische Anthropologie, indem er aus den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ zitierte und steuerte die ihm besonders wichtige Einsicht an, wonach der Mensch ein Tier sei, das sich nur in Gesellschaft vereinzeln könne. Wo immer es ging, habe er sich diesen Satz über die Tür gehängt. Was das Wesen des Menschen ausmache, sei von einem stets geschichtlich vermittelten Modell, einer Vorstellung von Zukunft bestimmt, nicht von der Vergangenheit. Der Mensch erschaffe sich in seiner gesellschaftlichen Praxis. Für Streeck liefert gerade dieser Befund ein machtvolles Argument gegen jede konservative Anthropologie.
In einem weiteren Schritt erinnerte er daran, dass es auch einen linken Konservatismus gebe. Dieser sei antiliberal, vor allem antilibertär. Dieser Traditionalismus von links betont die gesellschaftliche Produziertheit des Individuums. Streeck empfahl, Adam Smith zu lesen, und dessen Theorie der Arbeitsteilung zur Kenntnis zu nehmen, der zufolge nicht der Unterschied der Menschen die Arbeitsteilung begründe, sondern diese umgekehrt den Unterschied der Menschen hervorbringe. Auch habe Smith in The Theory of Moral Sentiments die Verbindung der Menschen durch eine gemeinsame Kultur, durch die Einbindung der Rationalität in eine gemeinsame Moral untersucht. Das widerspreche einer kapitalistischen, einer libertären Weltdeutung. Ayn Rand hätte mit der These über eine kollektiv verbindliche Moralität wohl nichts zu tun haben wollen. Als Konservativen pries Streeck sogar den Soziologen Karl Polanyi, der seinen Konservatismus durch den Abschied vom Kapitalismus erkauft habe. Nur in einer Gesellschaft, die vom Kapitalismus Abschied genommen habe, sei laut Polanyi die „Disziplinierung durch humane Werte“ möglich. Polanyis Buch The Great Transformation, besonders das Kapitel über „Freedom in a Complex Society“, sei von Belang, weil die Notwendigkeit der ethischen Untermauerung einer guten Gesellschaft unter Linken oft vergessen oder vernachlässigt werde.
Lesen solle man außerdem Amitai Etzioni. Der Soziologe war in den 1970er-Jahren Streecks Lehrer an der Columbia-Universität und setzte in den 1980ern dem triumphierenden Neoliberalismus eine Theorie des Kommunitarismus entgegen, die davon ausgeht, dass Freiheit nur in einer Gesellschaft möglich sei, „die sich beherrschen kann“.
Nach diesen neugierig schweifenden Lektüreempfehlungen – Marx, Smith, Durkheim, Weber, Polanyi, Etzioni – fragte Streeck nach einer gegenwärtigen, nach einer konservativen Position zur „großen Beschleunigung“, zu Klimaerwärmung und Artensterben. Konservativ könne nur sein, wer sich dieser „großen Beschleunigung“ entgegenstelle. Müsste der Konservatismus angesichts der Naturzerstörung nicht revolutionär werden, also eine konservative Revolution gegen die zerstörerischen Folgen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise initiieren? Dabei dachte Streeck nicht in erster Linie an Sparappelle, sondern an Entschleunigung. Die gemeinte Verlangsamung sei kaum mit systemwidrigen Aufforderungen zu Bescheidenheit zu erlangen, vielmehr würden Investitionen in kollektive Güter benötigt, in die Infrastruktur. Streeck berichtete, dass bei ihm im Wohnzimmer das Wasser gestanden habe, sein Haus überflutet worden sei. Ein kleiner Deich hätte genügt, die Überschwemmung zu verhindern.
Er wünschte sich abschließend einen Konservatismus als „Praxeologie statt als Retroutopie“, erst ein nicht mehr rückwärts gewandter Konservatismus könne in der Gegenwart ankommen. Nach seiner Ansicht, deswegen sei er in die Bibliothek des Konservatismus gekommen, werde in der Zeit beschleunigten Wandels und technokratischer Versuchungen, undemokratischer Planungen, ein konservativer Flügel in der demokratischen Republik dringend gebraucht, und zwar als „loyale Opposition gegenüber dem Zeitgeist“. Mit Lust an der Provokation legte Streeck den Konservativen eine Maxime ausgerechnet Lenins ans Herz: „Zweimal messen, einmal abschneiden“. Es müsse eine politische Kraft geben, die angesichts der technokratischen Panik zu ruhigem Nachdenken aufrufe.
In den westlichen Demokratien fehle ein solcher Gegenpol, dem er wahrscheinlich nicht angehören würde, dessen Existenz er sich dennoch wünsche. Die „Abwesenheit konservativer Praxeologie“ sei nicht gut für eine Gesellschaft. Wenn diese Gegenkraft fehle, würden die, die sie zu vertreten hätten, sich leicht in Gegenden treffen, in der sie „zum Gegenstand der Beobachtung des sogenannten Verfassungsschutzes“ werden und damit mundtot gemacht werden können. Konservativ wäre, wer „Wert und Würde des Erreichten so lange gegen seine Verächter verteidige, wie dies mit guten Argumenten möglich sei.“ Er würde darauf bestehen, dass „in der Geschichte gespeicherte Erfahrungen“ nutzbar gemacht werden: „gegen den libertären Individualismus“ wie „gegen elitäre Technokratie“. „Moral sentiments“ und „eingelebte Lebensformen“ seien gegen Rationalisierung zu verteidigen, nicht in Feindschaft gegen Progressivismus und Libertärianismus, aber im Widerspiel zu unbedingtem Fortschrittsoptimismus und individueller Willkürfreiheit.
In einer Tour de Force hatte Streeck, ausgehend vom Loblied auf die revolutionäre Bourgeoisie und der Diagnose eines durch Fraternisierung mit dem Kapitalismus sich selbst zerstörenden bürgerlichen Konservatismus, das Wunschbild einer loyalen, auf Argumente und Diskussion setzenden konservativen Opposition entworfen und mit pädagogischer Geduld dem Publikum erklärt, worauf es zu achten habe, wolle es seinem Leitbild entsprechen. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er sich nicht zu diesen Konservativen gesellen würde. Fragen ließe sich, ob nicht eine den Wohlfahrtsstaat der alten Bundesrepublik zurücksehende, die veränderte Situation analysierende Sozialdemokratie konservativ in Streecks Sinne agieren müsste. Spätestens seit der Finanzkrise wird viel über die Bedeutung sozialer Haltepunkte und Bindungen, über öffentliche Güter und Infrastrukturen diskutiert. Der Zeitgeist ist, sofern er sich ermitteln lässt, keineswegs euphorisch prokapitalistisch.
Auffällig war, dass an diesem Abend kaum ein Wort über die AfD, über Rechtspopulismus, die Experimente mit einer „illiberalen Demokratie“ verloren wurde, obwohl die gegenwärtigen Diskussionen um Konservatismus notwendig um diese Phänomene kreisen. In der Öffentlichkeit dient die Selbstbezeichnung als „bürgerlich konservativ“ in der Regel dazu, die eigene Enthemmung und Vulgarität, die Appelle an Ganovenmoral zu verschleiern. Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering hat das am Beispiel von Gauland- und Höcke-Reden analysiert.[1]
Der Vortrag wäre wohl besser in der Konrad-Adenauer-Stiftung gehalten worden, denn Streeck kritisierte, wenn er denn politisch konkret wurde, vor allem die CDU. Christdemokraten hätten sich wahrscheinlich auch leichter von den Marx-Zitaten und dem Hinweis auf Lenin provozieren lassen als das Publikum in der guten besuchten Bibliothek des Konservatismus. In den Regalen dieser Bibliothek finden sich durchaus Texte, die eine ebenso ausführliche wie aufschlussreiche Auseinandersetzung mit Marx belegen. Der Soziologe Hans Freyer etwa hat in seiner völkischen Mobilmachungsschrift Revolution von rechts 1931 die wesentlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts mit Marx und großem Respekt vor dessen Abrechnung mit der bürgerlichen Gesellschaft analysiert. In der Diskussion wurde Streecks grundsätzliche Beschreibung der gegenwärtigen Krisen, Probleme und Aufgaben keineswegs in Frage gestellt oder gar dementiert. Es wäre interessant gewesen, hätte jemand darauf verwiesen, dass sich Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus nicht zuletzt darin unterscheiden, welche Entwicklungen sie für krisenhaft halten, welche Probleme sie identifizieren und wie sie ihre Problembeschreibungen anlegen.
Immerhin fragten in Berlin-Charlottenburg einige nach den Leistungen des Kapitalismus. Ohne Ludwig von Mises zu nennen, wurde dessen Vorstellung aufgerufen, der freie Markt sei ein Inbegriff von Demokratie, entscheide das tägliche „Plebiszit der Konsumenten“ doch über Erfolg oder Misserfolg der konkurrierenden Unternehmen. Ein Diskutant wies die Unterstellung zurück, Konservative hingen Retroutopien nach. Im Gegenteil, was sie auszeichne, sei das Fehlen von Utopien. Er fragte Streeck nach Thilo Sarrazin, der mit dem Wunschdenken aufgeräumt und in seinem Realismus darauf hingewiesen habe, dass auch die besten Schulen Erfolge allein mit intelligenten Menschen erzielen. Und intelligente Menschen könne man nur biologisch produzieren. Wenn es keine intelligenten Menschen gäbe, hätten auch die teuersten Schulen keinen Sinn.
Streeck war aus der SPD ausgetreten, nachdem Sarrazin vorgeschlagen hatte, jeder promovierten deutschen Akademikerin, die vor dem dreißigsten Lebensjahr ein Kind zur Welt bringt, eine Prämie zu zahlen, damit intelligente Kinder produziert werden. Mit solchen Leuten wolle er nichts zu tun haben. Ein progressiver Kopf könne derlei nicht hinnehmen. Nach diesem Kriterium hätte Streecks Mutter, wie er sagte, sozusagen bei Herrn Sarrazin noch einzahlen müssen. Sie hatte nicht einmal Abitur, wusste nicht, wie eine Universität von innen aussieht. Gebe man, darauf legte Streeck Wert, Menschen eine Chance, könne aus ihnen etwas werden. Die Gesellschaft habe gerade den Auftrag, solche Chancen zu organisieren. Ein Putzmann etwa könnte, wenn er vor dreißig Jahren bessere Chancen gehabt hätte, heute möglicherweise elektronische Bauteile entwerfen. Selbst wenn eine biologisch gegebene Intelligenzverteilung existiere, enthebe das die Gesellschaft nicht der Aufgabe, den Leuten Möglichkeiten zu verschaffen, das Beste aus sich zu machen. Sanft, klug und klar verteidigte Streeck dieses „egalitäre Programm“, außerdem zeigte er sich mit guten Gründen skeptisch gegenüber Intelligenztests und deren Ergebnissen. Auch leuchtete ihm nicht ein, warum jemand, der nichts im Kopf habe, im Vergleich zum Direktor eines Max-Planck-Institutes so aberwitzig wenig verdiene. An dieser Stelle applaudierten einige im Publikum demonstrativ, es war der Höhepunkt des Abends. So lehrreich und unmissverständlich wurde es nicht wieder, selbst dann nicht, als Dieter Stein auf die niedrige Geburtenrate hinwies. Er sprach vom „demographischen Niedergang“, für den die „Zerstörung der Familie“ und der „Individualismus“ verantwortlich seien. Damit waren zwei für rechte Mobilisierung derzeit zentrale Punkte benannt: Familienpolitik, einschließlich des Rechts auf Abtreibung, und Migrationspolitik. Streeck meinte, er teile die Diagnose, die Diskussion leide seiner Ansicht nach allerdings unter (zu großer) Einheitlichkeit. Dass auf der Fifth Avenue mehr Ärzte aus Somalia zu finden seien als in ganz Somalia, scheine ihm makaber. Da hätte man gern mehr und Genaueres gehört, fordert die europäische Migrationspolitik doch täglich Tote, werden im Namen des Lebensschutzes doch Rechte von Frauen nicht nur im Nachbarland Polen zunehmend eingeschränkt und Schwangere verschärfter Überwachung unterworfen.
Am Ende des fast zwei Stunden dauernden Abends schien die allgemeine Definition dessen, was konservativ war, ist und sein sollte, weniger ergiebig als die Diskussion über konkrete politische Fragen. Eine solche Debatte würde rasch den ideologischen Dissens und die Unterschiede politischer Positionierungen erkennen lassen, die bei einem Vortrag, der gegenwartsdiagnostisch akzentuiert einen Konservatismus imaginiert, wie er sein könnte, eher unsichtbar bleiben.
Fußnoten
- Heinrich Detering, Was heißt hier 'wir'? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten, Stuttgart 2019.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Politische Ökonomie Staat / Nation Wirtschaft
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