Dirk Braunstein, Hannah Schmidt-Ott | Interview |

„Die Protokolle zeugen von Kälte und Empathielosigkeit“

Dirk Braunstein im Gespräch mit Hannah Schmidt-Ott

In den frühen 1950er-Jahren versuchte das Institut für Sozialforschung den Mentalitäten der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft auf die Spur zu kommen. Beim sogenannten „Gruppenexperiment“ wurden Personen im Rahmen von Gruppendiskussionen befragt. Große Teile des erhobenen Materials blieben jedoch unveröffentlicht. Das auf zwölf Jahre angelegte, DFG-geförderte Langzeitprojekt Die postnazistische Gesellschaft. Das ‚Gruppenexperiment‘ des Instituts für Sozialforschung: Erschließung, Edition, Forschung will das gesamte Materialkorpus nun erstmals zugänglich machen und beforschen. Dirk Braunstein, Leiter des Archivs des Instituts für Sozialforschung, koordiniert das Projekt. Herr Braunstein, zu Beginn ganz grundsätzlich gefragt: Was zeichnet das Gruppenexperiment als Forschungsmethode aus?

Speziell war zunächst das Erkenntnisinteresse: Man wollte die nicht-öffentlichen Meinungen erfassen – also jene Einstellungen, die nicht offen geäußert werden. Dieses „kollektive Latente“, so die Annahme, würde in der angeregten Diskussion – entgegen aller Abwehrmechanismen und Rationalisierungen – zutage gefördert. Wobei die Rede von der „Methode“ fast eine Übertreibung ist. Der Begriff „Gruppenexperiment“ war bewusst gewählt: Das Verfahren wurde tatsächlich noch erprobt, die Forschenden bildeten sich in dieser Praxis erst aus und nahmen Schwierigkeiten und Irritationen ausdrücklich in Kauf.

Im Hintergrund standen gruppendynamische Ansätze, wie sie etwa in den USA um Kurt Lewin[1] entwickelt worden waren. Das exilierte Institut kannte diese Arbeiten und bezog sich explizit auf amerikanische Verfahren. Im Deutschland der frühen 1950er-Jahre ging es zum einen darum, zu verstehen, wie Meinungen entstehen, durch welche Konstellationen und Mechanismen, und zum anderen darum, wie sich der „Durchschnittsdeutsche“ äußert, wenn er nicht in einem Einzelinterview von oben herab befragt wird. Man lud also Gruppen zu einmaligen Treffen ein und regte sie an, über bestimmte Themen zu sprechen: Dazu gehörten der Nationalsozialismus, Holocaust, Krieg und Schuld ebenso wie die bundesdeutsche Gegenwart und Zukunft.

Konkret arbeiteten die Forschenden mit einem Grundreiz, dem sogenannten Colburn-Brief: einem fingierten Brief eines wahlweise britischen oder US-amerikanischen, fiktiven Sergeanten, der als Besatzungssoldat in Deutschland gewesen war und zurück in der Heimat seine Erfahrungen schildert. Der Text ist bewusst ambivalent gehalten – neben vielen positiven Beobachtungen enthält er kritisch gemeinte Zuschreibungen, etwa im Hinblick auf den Umgang mit Schuld. Die Gruppen sprangen vor allem auf diese als negativ empfundenen Passagen an. Das war beabsichtigt: Das Gespräch sollte nicht dahinplätschern, sondern gezielt um politische Themen und Konflikte kreisen.

Auf dieser Grundlage wurden im Winter 1950/51 in Norddeutschland, Hessen und Bayern 129 Diskussionen mit in der Regel acht bis 16 Personen durchgeführt. Es handelte sich um eher zufällig rekrutierte, mal natürliche, mal zusammengesetzte, teilweise relativ homogene Gruppen – etwa Frauen, die man im Müttergenesungswerk ansprach. Repräsentativ war das Sample nicht; entscheidend war hingegen, typische Kommunikationssituationen zu erzeugen, in denen sich latente Einstellungen und unausgesprochene Überzeugungen artikulieren konnten.

Warum entschieden sich die Forschenden am IfS dafür, kollektive Mentalitäten im Nachgang des Nationalsozialismus mittels Gruppenexperiment zu beforschen?

Die Studie wurde vom U.S. High Commissioner for Occupied Germany, also der Militärregierung der US-amerikanischen Besatzungszone, finanziert. Die Alliierten wollten im Grunde wissen: Wie steht es um das politische Bewusstsein der Deutschen nach 1945? Sind sie überhaupt demokratisierungsfähig, wie verhalten sie sich zur nationalsozialistischen Vergangenheit, wie zur Gegenwart und Zukunft? Es ging also um politische Aufklärungsarbeit im eigenen Interesse, aber auch um eine Einschätzung, welche Voraussetzungen für einen demokratischen Neuaufbau tatsächlich vorhanden waren.[2]

Das Gruppenexperiment bot sich an, weil offene Befragungen und standardisierte Fragebögen in der Bevölkerung hochgradig diskreditiert waren – nicht zuletzt durch die Erfahrungen mit Entnazifizierungsverfahren, die viele als Zumutungen einer Siegerjustiz wahrnahmen. Man wollte zudem keine sozial erwünschten, aufgehübschten Antworten produzieren, die sich daran orientierten, welche Positionen als akzeptabel gelten. Das Misstrauen zeigte sich bereits bei der Erhebung einfachster sozialstatistischer Daten wie Geburtsort, Konfession oder Familienstand. Wenngleich keine Klarnamen erfragt wurden, verweigerten viele Beteiligte die Bögen regelrecht. Die Forschenden reagierten darauf, indem sie die Fragebögen möglichst unauffällig gestalteten – es gab die interne Anweisung, sie deutlich kleiner zu gestalten, damit sie nicht wie typische Fragebögen wirkten, sondern wie beiläufig ausgeteilte Zettel.

Was fanden sie heraus?

Die Befunde waren ernüchternd. Franz Böhm, damals Vorsitzender des Stiftungsrats des Instituts für Sozialforschung und als CDU-Politiker Mitglied des Bundestags, spitzte sie in einem Kommentar[3] drastisch zu. Er beschreibt eine Bevölkerung, die sich „mit Händen und Füßen“ dagegen wehrt, die schlichte Wahrheit über Krieg, Besatzung und Konzentrationslager zur Kenntnis zu nehmen. Urteile würden nicht aus Fakten gebildet, sondern umgekehrt die Fakten so lange verbogen, bis sie zu bereits vorhandenen Urteilen passen. Böhm spricht von einem „nichtöffentlichen Meinungsschatz“, dessen Maximen einen machiavellistischen Charakter hätten, und diagnostiziert ein „Herrendenken“, das ursprünglich den Renaissancehöfen vorbehalten war und nun „bei Müller und Schulze angelangt“ sei. Kurz gesagt: Das Gruppenexperiment machte sichtbar, wie tief verwurzelt autoritäre, ressentimentgeladene und faktenresistente Denkweisen in weiten Teilen der Bevölkerung noch um 1950/51 waren und wie stark sie sich der Demokratisierung entzogen.

Weshalb wurden die Ergebnisse der Forschung nur in Teilen publiziert?

Man hatte Bedenken, dass die Ergebnisse von der Öffentlichkeit nicht gut aufgenommen würden; Adorno befürchtete „einen zu großen Schock“ bei den Lesern.[4]

Ist das eine zufriedenstellende Begründung dafür, dass man die Ergebnisse einfach hat liegen lassen?

Das ist eine unserer Forschungsfragen. Spannend ist in diesem Zusammenhang die Korrespondenz Adornos mit René König. Als die Idee im Raum stand, eine solche Diskussion einmal in Gänze abzudrucken, hatte Adorno ihm ein Transkript zugeschickt. König sah es sich an und riet sehr deutlich ab: Ob man das wirklich veröffentlichen wolle, fragte er sinngemäß, die Rückschlüsse, die der Text zuließe, seien erschütternd.

Mein Eindruck ist, dass man die begonnene Demokratisierung und Reeducation nicht dadurch gefährden wollte, dass man der Öffentlichkeit vor Augen führte, wie fatal es um das „kollektive Latente“ stand. Es gab wohl die Sorge, dass eine ungeschönte Veröffentlichung weniger zur Aufklärung beitragen als laufende demokratische Prozesse massiv irritieren oder blockieren könnte.

Nur ein sehr kleiner Teil des Materials aus den Gruppendiskussionen ist tatsächlich publiziert worden. Dass Adorno in einer internen Besprechung sehr deutlich formuliert hat, die vorhandenen Vorarbeiten und Monografien seiner Mitarbeiter:innen seien „sämtlich zum Abdruck nicht geeignet“, weil sie in der Bevölkerung zu großen Schockreaktionen führen würden, heißt ja nicht, dass das Material nie in größerem Maßstab ausgewertet worden wäre. Im Gegenteil – es wurden durchaus monografische Studien geschrieben. Diese Manuskripte sind dann jedoch nicht veröffentlicht worden;[5] Adornos Studie Schuld und Abwehr ist hier eine Ausnahme.[6] Der Großteil der Diskussionstexte ist jedoch allenfalls ausschnittsweise in die veröffentlichten Analysen eingeflossen.

Woraus besteht – von den verschriftlichten Auswertungen abgesehen – das Material?

Einerseits besteht es aus den Tonbandaufnahmen der Gruppendiskussionen, die damals angefertigt und anschließend transkribiert wurden. Diese Transkriptionen bilden die ersten Versionen: Stenograf:innen hörten die Bänder ab und übertrugen die Mitschnitte in Text, wobei sich recht schnell herausstellte, dass die – heute nicht mehr erhaltenen – Aufnahmen technisch sehr schlecht und nur schwer verständlich waren. Entsprechend wiesen die ersten maschinenschriftlichen Fassungen zahlreiche Fehler auf.

Daraufhin wurden die Transkripte ein zweites Mal mit dem Tonband abgeglichen und handschriftlich korrigiert. Man wollte die gesprochene Sprache möglichst wortwörtlich erfassen. inklusive Versprechern, Ungenauigkeiten und grammatischer Unkorrektheiten. Diese Dokumente, bestehend aus maschinenschriftlicher Schicht und handschriftlichen Korrekturen, sind vollständig überliefert, jeweils in drei Exemplaren: dem Original und zwei Durchschlägen, die alle parallel korrigiert wurden, damit mehrere Personen gleichzeitig mit dem Material arbeiten konnten.

Hinzu kommt eine zweite große Materialgruppe: interne Verfahrensunterlagen – Korrespondenzen, Memoranden, Auswertungsnotizen, unveröffentlichte Monografien, Statistikbögen und andere Arbeiten aus dem Gruppenexperiment. Die Auswertung zog sich über mehrere Jahre hin, es gab eine eigene Arbeitsgruppe unter der Leitung Adornos, die ihre Sitzungen protokollierte und in Memoranden festhielt, wie weiter verfahren werden sollte. Bemerkenswert ist zudem, dass mit Herta Herzog eine zentrale Figur der frühen empirischen Sozialforschung aus den USA beteiligt war.

Insgesamt umfasst der überlieferte Materialbestand heute rund 33.000 Blatt – ein äußerst umfangreiches, weitgehend geschlossenes Korpus, das sowohl die Breite der empirischen Grundlage als auch die immense Forschungsarbeit sichtbar macht, die da geleistet wurde. Tatsächlich handelt es sich um die aufwendigste empirische Studie, die das Institut in seiner mittlerweile über hundertjährigen Geschichte durchgeführt hat.

Die Protokolle sollen nicht nur über ein Online-Portal zugänglich gemacht, sondern auch ausgewertet werden, von „Erschließung, Edition, Forschung“ ist die Rede. Was genau ist geplant?

Im Zentrum steht zunächst die Erschließung des Materials. Geplant ist ausdrücklich keine bloß elektronische Edition, die Dokumente als JPEG oder PDF ins Netz stellt. Stattdessen werden – je nach Materialart – unterschiedliche Erschließungstiefen angeboten. Für die Diskussionstranskriptionen, also das eigentliche Kernstück des Projekts, heißt das: Sie werden zum einen als Faksimiles zugänglich gemacht, zum anderen aber auch in ihren verschiedenen „Schichten“ aufbereitet – die maschinenschriftliche Ebene und die handschriftliche Korrekturebene werden getrennt ausgewiesen und können etwa in einer synoptischen Ansicht miteinander verglichen werden. Parallel dazu wird aus diesen Schichten ein fortgeschriebener Text generiert, in dem die Korrekturen bereits eingearbeitet sind. Und darüber hinaus wird es eine konstituierte Fassung geben, versehen mit Sachanmerkungen und bereinigt von offensichtlichen Rechtschreib- und Grammatikfehlern.

Als ich begonnen habe, mich mit dem Material zu befassen, wurde mir relativ schnell klar, dass eine klassische Buchedition – sagen wir, zwanzig oder mehr Bände Gruppenexperiment – nicht infrage käme. Das Material soll beforschbar sein; es eignet sich nicht, um abends im Ohrensessel behaglich darin zu schmökern. Zudem würde eine reine Druckedition faktisch denselben Zweck erfüllen wie das Archiv selbst: Man wüsste, dass es existiert, aber der Zugang wäre beschwerlich. Die digitale Edition hingegen soll Texte gewissermaßen on demand in der jeweils benötigten Darstellungsform erzeugen und sie zugleich nach vielen Kriterien durchsuchbar, bündelbar und neu kompilierbar machen.

Dafür arbeiten wir eng mit den Digital Humanities zusammen, konkret mit Patrick Sahle von der Bergischen Universität Wuppertal, der sowohl theoretisch als auch praktisch über große Erfahrung im Bereich digitaler Editionen verfügt, etwa im Rahmen des Luhmann-Projekts. Ein Schlagwort lautet hier XML: Die Texte werden so kodiert, dass die Maschine versteht, welche Strukturen, Markierungen und Annotationen wir ihr vorgeben. Dafür gibt es spezialisierte Transkriptions- und Editionssoftware, in deren Nutzung wir – die Mitarbeiter:innen des Instituts für Sozialforschung – zunächst selbst angeleitet werden müssen. Parallel dazu ist die Universitätsbibliothek Frankfurt unser zweiter wichtiger Kooperationspartner; sie übernimmt mit ihrem technischen Equipment und Know-how die Digitalisierung der Dokumente.

Der Forschungsantrag besteht aus zwei Teilen: Erstellung der digitalen Edition und eigene Forschung. Für beides sind Doktorand:innenstellen vorgesehen – zwei am Institut, eine in Wuppertal. Sie unterstützen einerseits die Erschließung, von der Transkription bis zur Annotation, und entwickeln andererseits Projekte, die sich unmittelbar aus der Beschäftigung mit dem Gruppenexperiment ergeben. Das könnte ebenso eine feministische beziehungsweise gendertheoretische Analyse der Protokolle sein wie eine psychoanalytisch informierte Untersuchung des sprachlichen Handelns in den Gruppendiskussionen.

Die Protokolle lassen tief in die deutsche Nachkriegsseele blicken. Was hat Sie bei der Lektüre am meisten überrascht?

Überrascht war ich vor allem im negativen Sinne. Wir haben unserem Forschungsantrag – ich habe ihn zusammen mit meinem Institutskollegen Thomas Barth erarbeitet – eine vollständige Transkription einer Gruppendiskussion angehängt, um den Gutachter:innen eine Vorstellung vom Material zu geben. Bei der Suche nach einem geeigneten Beispiel stieß ich auf eine Diskussion arbeitsloser Frauen zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig, die am 9. November 1950 in Hamburg geführt wurde. Das wissen wir, weil die Zusammensetzung in den Protokollberichten genau vermerkt ist. Eine der Teilnehmerinnen, im Protokoll „Frau Bauer“ genannt – ein Deckname –, schildert dort eine Szene, die mich sehr beschäftigt hat.

Sie berichtet, ihr Mann habe ihr im Fronturlaub erzählt, er habe gesehen, wie jüdische Frauen „mit dem Säugling auf dem Arm“ erschossen wurden. Sie habe ihm das zunächst nicht glauben wollen, woraufhin er einen Kameraden gebeten habe, das Gesehene zu bestätigen. Aber selbst als zwei Zeugen von der Erschießung berichteten, hielt sie an der Überzeugung fest, deutsche Soldaten seien zu derlei nicht in der Lage. Nachträglich rationalisiert sie die Erschießung: Die Frauen hätten vermutlich ein Verbrechen begangen, vielleicht einen Deutschen getötet. In der Erzählung wird eine merkwürdige Verschiebung sichtbar: Die Sprecherin interessiert nicht die Ermordung von Jüdinnen, skandalös ist ihr, dass die Täter Kinder töteten. Dabei gilt ihre Empörung nicht dem Verbrechen selbst, sondern dem Umstand, dass es deutsche Soldaten verübt haben sollten; dem, weil es sich bei den Opfern um Säuglinge handelt, nicht mehr rationalisierbaren Regelbruch.

Die Sprecherin weiß nicht einmal genau, wo ihr Mann stationiert war; sie macht sich keine konkrete Vorstellung von Ort und Situation des Geschehens – fand es in einer Stadt statt oder am Waldrand, waren Zuschauer:innen zugegen oder nicht und so weiter? Die Abwehrleistung besteht darin, das Berichtete umzudeuten, bis es lediglich um die Frage nach der Anständigkeit deutscher Wehrmachtssoldaten geht, so als handelte der Tötungsbericht zentral von diesem vermeintlichen Problem. Diese Kälte, diese Empathielosigkeit – sowohl gegenüber den Opfern als auch im persönlichen Nahverhältnis – hat mich nachhaltig irritiert. Verleugnung, Rationalisierung und emotionale Distanz ziehen sich, in unterschiedlichen Variationen, durch sehr viele Diskussionen.

Das Projekt heißt: „Die postnazistische Gesellschaft“. Was bedeutet „Postnazismus“ hier konkret? Kann man aus den Protokollen nur etwas über die frühe Bonner Republik oder auch über die Gegenwart lernen?

Ich verstehe Postnazismus in unserem Vorhaben nicht als Epochenbegriff, sondern als analytischen Begriff, der erst noch sinnvoll ausgebildet werden muss. In gewisser Weise ist es ein Auftrag des Projekts, diesen Begriff auszuarbeiten. Worum es mir geht, ist die Spezifizität der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die sich besonders an Autorität und ihrer ideologischen Übersteigerung zum Herrschaftsmittel – also Autoritarismus – zeigt. Beide sind natürlich keine deutschen Erfindungen; der Nationalsozialismus ist es schon. Die Frage lautet: Was macht es mit einer Gesellschaft, dass sie einen derart ausgeprägten Autoritarismus hervorgebracht hat und sich anschließend gezwungen sah, mit diesem Erbe umzugehen?

Das Gruppenexperiment zeigt, dass weder kollektive noch individuelle Schuld eingestanden wurde. Um nicht anerkennen zu müssen, dass die Katastrophe nicht als Schicksal über die Deutschen gekommen ist, sondern von ihnen verursacht wurde, wird die Verantwortung ausgelagert: „Die anderen waren es“, „Hitler war es“, „die deutschen Soldaten hatten ihren Befehlen zu folgen“ und so weiter. Diese Verschiebung von Verantwortung, dieses permanente Ausweichen prägt nach meiner Wahrnehmung die Bundesrepublik von Anfang an – und hat sich, in veränderter Form, bis heute gehalten.

Das wird etwa an aktuellen Autoritarismusdebatten deutlich: Autoritäre Einstellungen erscheinen als Pathologie der jeweils anderen – der AfD-Wähler:innen, bestimmter Milieus –, während sich Teile der bürgerlichen Mitte als im Grunde unbefleckt begreifen, als korrekt, sensibel, moralisch auf der richtigen Seite. Die Gruppendiskussionsprotokolle sind ein Zeugnis davon, welche Wirkkraft Mechanismen der Selbstentlastung, Externalisierung und moralischen Überhöhung entfalten können.

  1. Vgl. Kurt Lewin, Resolving Social Conflicts. Selected Papers on Group Dynamics, New York / Evanston / London 1948.
  2. Vgl. Dirk Braunstein / Fabian Link, Demokratisches Denken durch die Praxis der Soziologie. Die Reeducation-Konzepte des Instituts für Sozialforschung in den 1950er Jahren, in: Karin Amos, Markus Rieger-Ladich und Anne Rohstock (Hg.), Erinnern, Umschreiben, Vergessen. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis. Weilerswist 2019, S. 187–209.
  3. Franz Böhm, Geleitwort, in: Friedrich Pollock (Hg.), Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, Frankfurt am Main 1955, S. IX–XVII.
  4. Vgl. Michael Becker / Dirk Braunstein / Fabian Link, Postnazistisches Sprechen. Einführung in Peter von Haselbergs Beitrag zum Gruppenexperiment, in: Peter von Haselberg, Schuldgefühle. Postnazistische Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik. Eine Studie aus dem Gruppenexperiment am Institut für Sozialforschung. Hg. von ebd., Frankfurt am Main / New York 2020, S. 11–31.
  5. Unveröffentlicht sind bislang die Monografien von Diedrich Osmer: „Methode des Gruppenexperiments“; Gerhard Schmidtchen, „Quantitative Erfassung des Diskussionsmaterials“; Clemens Sauermann, „Analyse der Gruppensitzung in Kutzenhausen/Schwaben“; Jutta Thomae, „Zusammenstellung der Diskussionsgruppen“; Hans Sittenfeld, „Beschreibung des Teilnehmerkreises“; Gretel Adorno / Gerhard Schmidtchen / Hans Sittenfeld, „Quantitative Ergebnisse“; Helmut Beier / Volker von Hagen, „Die Struktur der Diskussion“; Rainer Koehne / Hermann Schweppenhäuser, „Aspekte der Sprache“; Karl Sardemann, „Für und gegen den Wehrbeitrag“; Kurt H. Wolff, „Zur deutschen Ideologie über Amerika“; Heinz Maus, „Das Mißtrauen gegen die Demokratie“.
  6. Vgl. Friedrich Pollock (Hg.), Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, Frankfurt am Main, S. 278–428; auch in Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 9.2, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1975, S. 121–324.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

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Dirk Braunstein

Dirk Braunstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Archivar am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Jüngst erschien das Buch von Peter von Haselberg: Schuldgefühle. Postnazistische Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik. Eine Studie aus dem Gruppenexperiment am Institut für Sozialforschung, das er gemeinsam mit Michael Becker und Fabian Link herausgegeben hat.

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Hannah Schmidt-Ott

Hannah Schmidt-Ott ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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