Hartmut von Sass | Rezension |

Eine Apologie der Moderne

Rezension zu „Große Versprechen. Die westliche Moderne in Zeiten der globalen Krise“ von Detlef Pollack

Detlef Pollack:
Große Versprechen. Die westliche Moderne in Zeiten der globalen Krise
Deutschland
München 2025: C.H.Beck
191 S., 18 EUR
ISBN 978-3-406-82889-8

Die Moderne hat schon seit längerer Zeit einen schweren Stand. Die Liste der Vorwürfe ist umfangreich; und längst ist es mehr als eine Vermutung, dass es ‚die‘ Moderne überhaupt nicht (mehr) gibt: entweder weil sie lediglich die Summe ihrer Variationen bezeichnet, sodass die „multiple modernities“[1] zur stehenden Wendung promoviert worden sind; oder aber, weil eine neue Phase Einzug erhalten hat, die seit den 1970er-Jahren für veränderte politische und soziale Konditionen steht. Ob die deshalb ausgerufene und in Detlef Pollacks Essay Große Versprechen wohl bewusst mit keinem Wort erwähnte ‚Postmoderne‘ ein glückliches Etikett war, ist so unklar, wie die Antwort auf die gar nicht so alte Frage, ob wir je modern gewesen seien.[2]

Richtet man den Blick weg von der Moderne hin zur Reflexion auf sie, wird sofort deutlich, dass der Diagnose zur Lage der Nationen häufig Therapieangebote für ihr angebliches Kernproblem folgen. Damit das getan werden kann, muss es diesen Kern jedoch erst einmal geben. Und so ist die Versuchung groß, die Komplexität der Moderne auf einen einzigen Mechanismus herunterzubrechen, von dem her alle sonstigen Details lesbar werden sollen. Genau diesem Manöver verdanken sich die Genre-bildenden ‚Ein-Wort-Analysen‘: von der Risikogesellschaft über die des Erlebnisses, der Entscheidung und etwas zeitlich versetzt des Abstiegs, aber auch der Resonanz bis zur Gesellschaft der Singularisierung. Gönnt man sich etwas Polemik, könnte man sagen: All diese Ansätze sind geradezu ‚legendär‘ – in ihrem Erfolg, aber eben auch in ihren Voraussetzungen.[3] Das ist nicht der einzige Grund, warum die dann im Namen des Wissenschaftlichen angebotenen Lösungsvorschläge problembehaftet erscheinen. So kann man fragen, ob ihre Kompetenzen nicht überschritten werden, wenn die Soziologie politische Ratschläge erteilt. Neben der Teilnahme an einem ganz anders strukturierten Spiel kommt der gut begründete Verdacht hinzu, die Analyse sei schon durch jene Lösungsangebote methodisch und schließlich normativ überformt (vgl. S. 11).

Eine solche zur Policyberatung avancierte Ein-Wort-Soziologie findet sich in Detlef Pollacks Essay Große Versprechen nun gerade nicht. Und auch in den Chor der Modernekritik wird nicht eingestimmt, zumal immer wieder an die umfänglichen Errungenschaften der Moderne erinnert wird. In einem Vortrag hat Pollack kürzlich den entscheidenden Punkt noch treffender ausgedrückt, als er es im Buch getan hat: Die Würde des Einzelnen wird überhaupt erst denkbar, sobald formgebende Infrastrukturen wie Recht(-sprechung), Freiheit als Regulativ, die Abkopplung des Politischen von Kirche und Adel, aber auch Regelungen der Arbeit, die Entstehung von Freizeit zur Selbstentfaltung, das Ideal der Gleichheit und die Ermöglichung freier, aber regulierter Märkte im moderierten Wettbewerb etabliert sind.[4] Die personale Würde wird folglich erst „unantastbar“, als die Moderne sich Bahn bricht. Das ist ihr zuvor unvorstellbares Verdienst jenseits aller berechtigten, aber allzu oft ideologischen Kritik.

Dies begründet auch Pollacks permanente Frontstellung gegenüber einer an Foucault orientierten Gesellschaftsanalyse, mehr noch aber gegenüber dem negativen Utopismus der Kritischen Theorie. Deren Vertreter:innen wirft der Autor immer wieder vor, die in der Tat bestehenden Verwerfungen der Moderne in ihren Ursprung rückzuverlagern, um auf diesem Weg das moderne Projekt als umfassendes Entfremdungsprogramm diskreditieren zu können (S. 40–43). Was er aber mit den so Kritisierten teilt, ist die Überzeugung, dass die sinnvoll-analytische Rede von der Moderne eine Theorie der Moderne erfordert (S. 15 f.). In Abwandlung von Lenins Revolutions-Diktum ließe sich also sagen: ‚Keine Moderne ohne eine Theorie von ihr.‘ Auf den Empörungsgestus soll dabei, so Pollack, mit „Gelassenheit“ reagiert werden, um die sofortige Bewertung der hier fokussierten Dynamiken durch eine umsichtige Wahrnehmung oft widerstreitender, auch dilemmatischer Entwicklungen zu ersetzen. An die Stelle einer die westliche Krisen-Moderne betreffende Fehlermeldung und -korrektur tritt hier folglich die Frage nach der Genese der Moderne überhaupt – nur so könne erhellt werden, was denn das moderne „Versprechen“ eigentlich auszeichnet (S. 152). Vor allem von den Sozialwissenschaften erhofft sich Pollack die dazu nötige Sachlichkeit. Doch so entsteht eine Spannung: Viele der wichtigsten Repräsentanten des Faches – von Hartmut Rosa über Steffen Mau bis zu Andreas Reckwitz – handeln sich aus den skizzierten Gründen Pollacks recht grundsätzliche Kritik am Lösungsanspruch ihrer Ansätze ein, während Pollack selbst in weiten Strecken gar nicht soziologisch vorgeht, sondern dem genetischen Gestus entsprechend vor allem historisch argumentiert. Was die Moderne sei, wird durch die Erinnerung daran, wie sie zu dem geworden ist, was sie heute ist, adressiert.

Die sonst für Pollacks Forschung zentrale systemtheoretische Analytik kommt nur im Aufbau des Buches zur Geltung. Luhmann hatte bekanntlich drei Dimensionen des Sinns unterschieden – den zeitlichen, sachlichen und sozialen (dazu S. 17) –, die für die folgenden Kapitel leitend sind. Entsprechend widmet sich Pollack dem veränderten Zeitregime der Neuzeit und betritt damit bestens vermessenes Terrain. Denn im Gefolge von Reinhart Koselleck ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass für das 17. und 18. Jahrhundert charakteristisch war, von der Naherwartung des unbeeinflussbaren Weltenlaufs und gegebenenfalls -endes umzustellen auf eine offene Zukunft, die gestaltbar wird, für die der nun im Zentrum stehende Mensch aber auch Verantwortung trägt. Durch das Ausräumen einiger gängiger Einwände gegen die unter Beschuss geratene Moderne wird im ersten Kapitel Pollacks geradezu apologetischer Zug besonders greifbar: Dem Vorwurf der Fortschrittsversessenheit hält er entgegen, schon die Frühaufklärung habe die Ambivalenzen ihres eigenen Erfolgs durchaus produktiv verarbeitet (S. 27). Wenn also, wie Pollack treffend formuliert (S. 30), die Moderne die Geschichte der Reaktionen auf sie selbst ist, gehört dazu auch, sich zum eigenen Steigerungsimperativ verhalten zu können. So habe es immer wieder moderate Phasen der Rücknahme gegeben; Ausbeutung und unversöhnliches Wachstum, so die Folgerung, sind demnach keine Notwendigkeiten, wohl aber vermeidbare Implikate der Moderne (S. 47).

Das dann folgende Kapitel geht der sachlichen Sinndimension nach, wobei das Theorem der funktionalen Differenzierung vor allem am Beispiel der Entflechtung von sacerdotium, regnum und ihrer „symbiotischen Konkurrenz“ (Rudolf Schlögl) vorgeführt wird (S. 52 f.). Dadurch, dass es keinen Primat einer Sphäre gegenüber den anderen gebe, wird der Markt zu seinen eigentlichen Potenzen gebracht, zumal ihn der kirchlich-absolutistische Staat nicht mehr einhegt, wohl aber später schützt (S. 63). Hier liegt für Pollack einer der wesentlichen Gründe für das Wachstum und die ungeheure „Erfolgsgeschichte“ der kapitalistischen Moderne (S. 114), die sich zwar durch die Ausdifferenzierung von Teilsystemen auszeichne, aber nichtsdestotrotz auf ihre erfolgreiche Interaktion angewiesen sei (S. 73). Den oft formulierten Einwand, dass wir womöglich in eine Phase eingetreten sind, die erneut vom Vorrang eines Systems gegenüber den nun ihrerseits durchökonomisierten anderen Systemen gekennzeichnet ist, übergeht Pollack. Stattdessen schließt er eine delikate Notiz zum Kolonialismus an. Im Verweis auf wirtschaftshistorische Studien wird herausgearbeitet, dass das koloniale Projekt zwar gewaltsam und in dieser Hinsicht desaströs gewesen sei, aber sein Einfluss auf den innereuropäischen Wohlstand weit überschätzt werde (S. 61).[5]

Mit Blick auf den sozialen Sinn geht es schließlich im dritten Kapitel um das, was mit Rudolf Stichweh „Inklusionsrevolution“ genannt werden kann (S. 79). Damit ist eine zweischneidige Entwicklung im Blick – mit einer kritischen Pointe für die Zeitgenossen: Einerseits wird die Möglichkeit, auch politisch Einfluss zu nehmen, immer stärker ausgeweitet, wie Pollack eindrücklich an der Geschichte des westlichen Wahlrechts darlegt, das auf der rechtlichen Gleichstellung der Bürger und einer entsprechenden Öffentlichkeit als Forum sachlicher Konfliktaustragung beruht (S. 88). Dieser demokratische Zugewinn wird begleitet von der sozialstaatlichen Abfederung negativer Lebensumstände. Beides aber drohe, als bloße Selbstverständlichkeit hingenommen zu werden, ohne den demokratischen Sozialstaat noch wahrhaft wertschätzen zu wollen. Das moderne Individuum gerät dadurch in die Nähe einer ‚parasitären‘ Position, in der es sich auf die Institutionen verlässt, den Blick aber für Eigenverantwortung, Gemeinwohl und demokratische Partizipation zu verlieren drohe (S. 107).

Das längere letzte Kapitel ist im Stil eines politischen Kommentars verfasst und konzentriert sich auf drei gegenwärtige Problemherde. Die erste Debatte dreht sich um aktuelle militärische Auseinandersetzungen, die vor allem unter dem Vorzeichen moralischer, aber auch strategischer Dilemmata abgehandelt werden (S. 125). Die zweite Debatte befasst sich mit der Klimakrise. Pollack bemerkt hier semi-optimistisch, der Rückgang der CO2-Emissionen zeige die Lernfähigkeit des Westens und die Möglichkeit von Transformation auch unter spätkapitalistischen Vorzeichen. Der apokalyptische Ton einiger Umweltverbände sei hingegen verfehlt bis kontraproduktiv (S. 137). Als abschließendes Exempel für eine dilemmatische Moderne wird der Rechtspopulismus herangezogen, der vor allem auf ein kulturelles Bedrohungsgefühl zurückgeführt wird, nicht also auf primär ökonomische Marginalisierung (S. 109, 145). Hier ist Pollack in sehr Vielem zuzustimmen, aber ich vermag nicht zu erkennen, wo der Autor diesen breit diskutierten Problemfeldern neue Noten hinzufügt.

Das hauptsächliche Verdienst des Buches besteht darin, noch einmal engagiert klarzumachen, welch grandioses Versprechen an die Zukunft die Moderne gewesen ist und warum sie – trotz ihrer Anfälligkeit fürs Scheitern – im Blick auf individuelle Entfaltung, demokratisches Gemeinwesen und wirtschaftliche Prosperität auch unter heutigen Bedingungen und angesichts ihrer Alternativlosigkeit zu verteidigen ist (S. 7, 18, 158). Damit nimmt Pollack zwei Widersprüche in Kauf: Er wollte auf starke Normativitäten verzichten, aber die Emphase seiner Referenz auf die Moderne ist überall und besonders gegen Ende des Buches spürbar. Und: Eine Analyse der Moderne scheint eine Theorie von ihr nun gerade nicht zu erfordern; denn der Soziologe hat eine weithin genealogische Bestandsaufnahme vorgenommen, ohne eine ausgearbeitete Theorie der Moderne präsentiert zu haben. Aber – um eine Wendung von Bernhard Waldenfels[6] zu borgen: ‚Manchmal gibt es Widersprüche, deren Auflösung fataler ist als diese selbst.‘

  1. So Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus 129 (2000), 1, S. 1–29, bes. S. 18 f.
  2. Klassisch Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2015, vor allem S. 170 und 192.
  3. In Bezug zu Reckwitz‘ Ansatz kritisch Nils C. Kumkar / Uwe Schimank, Die Mittelschichtsgesellschaft als Projektion, in: Merkur 76 (2022), 1, S. 22–35.
  4. Siehe Detlef Pollack, Merkmale der westlichen Moderne im Vergleich zur Vormoderne, Vortrag am 27.11.2024 in Bielefeld, hier vor allem ab Minute 40:00.
  5. Die argumentative Funktion dieser Überlegung ist in der Tat delikat, aber auch in der Sache überaus umstritten; zu einer von Pollack abweichenden und kritisch abwägenden Sicht siehe Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 2002, S. 23 f., 36 f., 43, 78–88.
  6. Bernhard Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012, S. 412.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Demokratie Gesellschaftstheorie Moderne / Postmoderne Politik Sozialer Wandel Wissenschaft

Hartmut von Sass

Hartmut von Sass ist Professor für Systematische Theologie mit den Schwerpunkten Dogmatik und Religionsphilosophie an der Universität Hamburg. Er beschäftigt sich gerade mit unserem (normativen) Bezug zur Zukunft, mit Einzelemotionen und deren Zusammenhang und mit den Aussichten, Theologie praxeologisch zu verstehen.

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