Wolfgang Streeck | Essay |

Erschöpft oder verhungert? Staat und Politik im Übergang zum Neoliberalismus

Kommentar zu „Der erschöpfte Staat. Eine andere Geschichte des Neoliberalismus“ von Ariane Leendertz

Auch jemandem, der die amerikanische Politik nicht nur von außen, sondern über mehr als ein Jahrzehnt auch von innen aufmerksam verfolgt hat, war die politische Bedeutung des housing and urban development, als Problemzone und Politikfeld ebenso wie als Bundesministerium, nicht notwendig geläufig. Es ging, das glaubte man verstanden zu haben, um die inner cities. Aber wie fast alles in den USA ist auch das, was auf den ersten Blick wie Stadtplanung und Städtebau aussehen mag, durchsetzt vom Erbe der Sklavenhaltergesellschaft, das nur allzu oft zwischen harmlos-technokratischen Wortfassaden verborgen bleibt. Während die Rede von inner cities bei Landesunkundigen Bilder von Bürgersteigen, Warenhäusern, Theatern und Restaurants heraufbeschwört, sind in den Vereinigten Staaten die heute nicht mehr so genannte „Ghettos“ gemeint, als solche spät besungen von niemand Geringerem als Elvis Presley. Dass sie 1968 brannten, wie so vieles andere auch im Übergang der USA zu einem Rückentwicklungsstaat, führte nicht dazu, dass sich, so lernt man bei Leendertz, irgendetwas zum Positiven geändert hätte. Zuflucht der Schwarzen aus den Jim Crow-Staaten des Südens mit ihrem gebrochenen Versprechen einer geteilten Zukunft nach dem Ende des Bürgerkriegs, waren die Innenstädte des Nordens nach der Abwanderung der „weißen“ Mittelschicht in die Vorstädte zu geografischen und sozialen Orten rassifizierten Elends geworden, zu besichtigen in den housing projects des New Deal, die spätestens in den 1960er-Jahren begonnen hatten, buchstäblich zu zerfallen.

Ariane Leendertz‘ Buch behandelt den unrühmlichen Untergang der urban policy der Great Society am Ende des New Deal und im Übergang zum Neoliberalismus der Reagan-Ära – einer Politik, die eine Lebenschancen ausgleichende Gesellschaftspolitik weit über den Wohnungs- und Städtebau hinaus, also zugleich Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik hätte sein müssen, aber nicht sein konnte und durfte. Im Mittelpunkt von Leendertz‘ Untersuchung steht das Schicksal des für urban policy zuständigen Ministeriums, des Departments für Housing and Urban Development – die Aushöhlung seines Etats, die Beschneidung seiner Kompetenzen, die Herabstufung seines Rangs im Regierungsapparat und schließlich sein Versinken in einem Sumpf von Korruption, begleitet von malevolent neglect eines Präsidenten, für den der Staat bekanntlich nicht die Lösung war, sondern das Problem. Letzte Versuche rasch wechselnder Minister, das bei der neuen Mehrheit verhasste Amt auf die Tiefe der Zeit zu bringen – was es ohnehin zum Gegenteil dessen gemacht hätte, was es hätte sein sollen oder jedenfalls sein müssen – fruchteten nicht; sie scheiterten an der Weigerung von Präsident und Kongress, in der Zeit der Star Wars für die Ziele, um derentwillen das HUD einmal gegründet worden war, auch nur symbolische Finanzmittel zu erübrigen.

Leendertz‘ Studie schildert die neoliberale Transformation der USA als Leitgesellschaft und Führungsmacht des Westens von oben: aus der Perspektive der Regierungsfähig-, oder besser -unfähigkeit des amerikanischen Staatsapparats und der Regierbarkeit der amerikanischen Gesellschaft am Ausgang der 1970er-Jahre, erzählt anhand des Dramas des Departments für Housing and Urban Development. Auch wenn Leendertz sich auf die Geschichte des HUD und der urban policy im langen Übergang von Johnson zu Reagan beschränkt hätte, wäre ihr Buch ein augenöffnender Beitrag zum Verständnis der amerikanischen Politik der Nach-Nachkriegszeit. Dabei aber hat sie es nicht belassen. Verwoben in ihre Erzählung vom Niedergang der urban policy als Parabel für das Ende des New Deal finden sich mindestens zwei weitere, höchst anspruchsvolle und vielfältig miteinander verbundene Themen: die Doppelkarriere des Begriffs der Komplexität sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der politischen Rhetorik und der Übergang der politischen Ökonomie der Vereinigten Staaten in eine neue Epoche, in der der staatlich administrierte Kapitalismus der Nachkriegszeit zugunsten eines auf neue Weise liberalen, eben neoliberalen, runderneuerten Kapitalismus pure and simple verabschiedet wurde. In beider Hinsicht scheint es mir lohnend, den von Leendertz mehr oder weniger explizit angebotenen Deutungen die eine oder andere Interpretation in kritisch weiterführender Absicht hinzuzufügen.

Das Scheitern der policy science

Was die Sozialwissenschaft der 60er- und 70er-Jahre angeht, so erscheint sie bei Leendertz in Gestalt der sich damals in den USA herausbildenden policy science: einer Disziplin, die sich auf die Untersuchung von der Politik definierter gesellschaftlicher „Probleme“ kapriziert hatte – mit dem Ziel, zu ihrer „Lösung“ beizutragen und in dem Glauben, dass Staat und Regierung dies von ihr erwarteten. Ihren verschiedenen Spielarten war gemeinsam, dass sie mit Hilfe theoretischer Modelle und meist quantifizierter empirischer Beobachtungen Aussagen darüber zu machen versuchten, welche Krisen momentan vor der Tür standen und mit welchen Eingriffen staatliche Politik sie zu vermeiden oder, wenn schon eingetreten, zu beheben vermochte – nicht unähnlich der sich zu dieser Zeit auf dem Weg zu ihrer vollkommenen Mathematisierung befindlichen Ökonomie. Leendertz beschreibt, wie die sich immer wiederholende Erfahrung des Scheiterns – „Probleme“, mit denen die Wissenschaft nicht gerechnet hatte, traten auf, die „Lösungen“, die sie anbot, lösten nichts oder wurden gar selber zu Problemen – die Theorie zunehmend demoralisierte, bis sie schließlich das Handtuch warf, indem sie die Welt für zu „komplex“ erklärte, um mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten theoretisch verstanden und, darauf aufbauend, praktisch-technokratisch regiert zu werden.

Leendertz, so lese ich sie, verzichtet darauf, der Frage nachzugehen, was genau es war, woran die policy science zugrunde ging. Im Rückblick bietet sich der Gedanke an, dass deren Problem nicht zuletzt ein naiver, wenn man so will, „unterkomplexer“ Problembegriff gewesen sein könnte: die Vorstellung nämlich, dass die Probleme einer Gesellschaft und ihre Lösungen für alle ihre Mitglieder – oder besser: für alle ihre sozialen Klassen – dieselben seien. Tatsächlich stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass die Probleme der einen die Lösungen der anderen sein können und dass bei asymmetrischer Machtverteilung, wie sie in Gesellschaften und Staaten als „Herrschaftsverbänden“ (Max Weber) normal ist, die jeweils Herrschenden ihre Probleme nicht selten dadurch lösen, dass sie sie den jeweils nicht Herrschenden aufdrücken, die dann versuchen müssen, sie wie heiße Kartoffeln an ihre Peiniger zurückzureichen. Nur weil die policy science die Gesellschaft als Einheit dachte, mit gemeinsamen Interessen, die sich für alle Gesellschaftsmitglieder mehr oder weniger von selbst verstanden, konnte sie sich statt der politischen eine technokratische Lösung gesellschaftlicher Probleme vorstellen, als eine Frage von Technik statt einer von Herrschaft. Implizit verengte sie dabei das Zielgebiet der wissenschaftlich beratbaren Politik auf die als technisch beherrschbar imaginierten Massenbürger. Die Eliten, als Regierende nahezu definitionsgemäß unregierbar, mussten nicht zuletzt auch deshalb aus dem Zielkatalog der Politik herausgenommen werden, weil nach Lage der Dinge nur sie als Auftraggeber problemlösender Politik fungieren konnten. Damit aber wurde diese zugleich entpolitisiert und entdemokratisiert, umdefiniert als Nutzung instrumenteller Vernunft von oben: Gesellschaft als Gegenstand, beherrschbar durch gezielt einsetzbare Reize zur Erzeugung berechenbarer Reaktionen, eine Welt nicht des Handelns oder Ver- und Aushandelns, sondern des Verhaltens.

„Komplexität“ als szientistische Erklärung für gescheiterte Steuerung reflektiert eine Auffassung von Gesellschaft als Gegenstands- statt als Handlungsbereich, letzterer im Vergleich zu ersterem nicht einfach nur ein Plus an Faktoren und Variablen, sondern ein Aliud. Dass die technokratische Befriedung der amerikanischen Gesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre nicht gelang, hatte damit zu tun, dass soziale Mobilisierung, kollektive Identitäts- und Interessenbildung – also Politik in einem emphatischen Sinn – im Weltverständnis der policy science nicht vorkommen; sie lassen sich nicht berechnen, sondern müssten verstanden werden. Policy science sah sich gefragt, Wege zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung zu finden, ohne dass das, was zur Befriedung der gewachsenen Ansprüche der Massen auf Gerechtigkeit und Gleichheit gebraucht worden wäre, verfügbar war, wegen der ebenfalls gewachsenen Ansprüche der Nichtmassen mit ihrer ausgeprägten Fähigkeit zur Selbstverteidigung. So blieb nur die – aussichtslose – Suche nach einer wissenschaftlich angeleiteten Politik als Ersatz für demokratische Macht- und Mittelteilung, als preiswertere Lösung des auf ein Slumsanierungsproblem herunterdefinierten klassenpolitischen Verteilungsproblems innerhalb der Grenzen der Möglichkeiten beziehungsweise Unmöglichkeiten von Umverteilung, die nicht zuletzt durch die Summen definiert wurden, die Jahr für Jahr für den im Rückblick immer sinnloser erscheinenden Vernichtungsfeldzug in Vietnam aufgewandt wurden.

Nicht-regierbare Komplexität

Die Schlussfolgerung liegt nah, dass die Sozialwissenschaft der 1970er- und 1980er-Jahre ihr Wachstum auch dadurch erkaufte, dass sie ihr Scheitern als Steuerungswissenschaft einer exzessiven „Komplexität“ der Welt in die Schuhe schob und damit darauf verzichtete, gegen den technokratischen Strom zu schwimmen, in dem sie sich nur allzu gern hatte treiben lassen. Ich weiß nicht, ob Leendertz diese Diagnose teilen würde. Was sie allerdings auf beeindruckende Weise herausarbeitet, ist die große Attraktivität des akademischen Komplexitäts-Jargons für die anti-politischen, anti-demokratischen und anti-staatlichen neoliberalen Ambitionen, die die heraufziehende Reagan-Ära und die anschließenden drei Jahrzehnte neoliberaler Dominanz nach dem Ende des Kommunismus 1990 und im Kontext der US-amerikanischen New World Order auszeichneten.

Schon Hayek hatte sich in seiner Argumentation für die Ersetzung staatsinterventionistischer durch marktdurchsetzende und marktbedienende Politik einer Komplexitätstheorie bedient, die technokratische Hoffnungen auf ein Gleichziehen der Komplexität der Theorie mit derjenigen der Welt für naiv erklärte. (Dass die Welt zu „komplex“ sei, um regiert zu werden, war nur eine von mehreren Begründungen für die von Hayek propagierte neoliberale Wende; als Mont Pelérin-Pragmatiker war ihm deren theoretische Rechtfertigung letzten Endes egal, solange sie nur praktisch zustande kam.) Für die sich formierende neoliberale politische Fronde war die Komplexitätstheorie – im Jargon von heute: das Komplexitäts-„Narrativ“ – insofern ein gefundenes Fressen, als Regierungen, zuerst die US-amerikanische, dann andere in ihrem Gefolge, sie als Argument für Nicht-Regierung als Weg zur Erholung des von den Regierbarkeitsproblemen des New Deal, mit Leendertz, „erschöpften“ Staates nutzen konnten. Nicht-Regierung wurde zu Regierung: die Überantwortung der Steuerung der für den demokratisch-kapitalistischen Staat unregierbaren sozialen Welt an diese selber, nach Maßgabe marktwirtschaftlich verteilten statt politisch zentralisierten, „angemaßten“ Wissens und ohne noch so verbesserte modellwissenschaftliche Anleitung. Für den Staat bedeutete das, dass er lediglich sicherstellen musste, dass sich niemand in frevelhafter Selbstüberschätzung oder aus naivem Glauben an „soziale Gerechtigkeit“ durch Einmischung in den Lauf des Marktes dem Mysterium der Herausbildung einer spontanen Ordnung in den Weg stellte.

Für eine Politik, der die Mittel zur Schließung der Bruchlinien des New Deal-Kompromisses zwischen Kapitalismus und Gesellschaft entweder ausgegangen oder nie zur Verfügung gestellt worden waren, kam die wissenschaftliche Entdeckung der Komplexität als Ursache von Unregierbarkeit und Regierungsversagen gerade recht, indem sie eine politische, nämlich auf politische Machtverhältnisse abstellende, Erklärung durch eine szientistische ersetzte und Machtprobleme zu Kognitionsproblemen umdefinierte. Die Zeit des „Solutionismus“, mit Leendertz‘ glücklich gewähltem Begriff, war theoretisch, noch wichtiger aber praktisch, abgelaufen – nicht nur, weil „die Wissenschaft“, während sie auf die Entwicklung leistungsfähigerer Datenverarbeitungsmaschinen hoffte, ohnehin keine irgendwie überzeugenden Rezepte liefern konnte, sondern auch weil unter den gegebenen, von der policy science als Naturkonstanten vorausgesetzten und von der politischen Praxis als unveränderbar hingenommenen politisch-ökonomischen Bedingungen solutionistische Lösungen schlicht nicht als realpolitisch umsetzbar erscheinen konnten. Allerdings hieß dies nicht, dass man alle Hoffnung fahren lassen musste. „Erschöpft“, oder besser: ausgehungert, war der Staat nur als Sozialstaat oder, in den USA, als New Deal-Staat – nicht aber, wie sich zeigen sollte, als Repressionsstaat, der denen oben Lösungen zuwachsen ließ, die für die unten Probleme waren, als Durchsetzer reduzierter Ansprüche von unten an Demokratie und egalitäre Politik und steigender Ansprüche von oben an shareholder value, Profitraten und Dividendenausschüttungen. Eintritt der Neoliberalismus.

Neoliberalismus in Theorie und Praxis

Was aber ist Neoliberalismus? Verdienstvollerweise ist Leendertz nicht davor zurückgeschreckt, sich zur Benennung des politisch-ökonomischen Nachfolgemodells des staatsinterventionistischen Kapitalismus dieses im angepassten sozialwissenschaftlichen wie im herrschenden politischen „Diskurs“ kurz vor seiner Ächtung stehenden Begriffs zu bedienen. Allerdings scheint ihr Ansatz hier eher ein ideen- als ein sozial- oder gar kapitalismusgeschichtlicher zu sein: Neoliberalismus als neue Theorie guter beziehungsweise schlechter Regierung, ausgedacht und durchgesetzt von problemlösenden Eliten als Ersatz für den nicht mehr problemlösenden Sozialliberalismus, eine Doktrin wie andere Doktrinen auch, mehr oder weniger konsistent und letzten Endes eben auch eine Problemlösung, wenn auch anderer Art. Wenn mit Reagan der Staat das Problem statt die Lösung war, bot sich an, die Lösung darin zu suchen, den Staat in seiner nach der Großen Depression und dem Zweiten Weltkrieg gewordenen Gestalt zu demontieren und einer neuen Staatsauffassung an die Macht zu helfen. Darüber, ob das, was dabei dann von Fall zu Fall herauskam, in den USA und anderswo, wirklich „Neoliberalismus“ war und ist, kann man, wie bei jeder ihre Verwirklichung betreibenden Idee, diskutieren; die „Komplexität“ der Welt wird dafür sorgen, dass ein neoliberales Programm wie andere Programme immer nur teilweise, zeit- wie ortsabhängig, Realität werden kann. Spezialisten in vergleichender politischer Ökonomie bietet dies reichlich Gelegenheit, Dissertationen, Artikel und Bücher darüber zu verfassen, ob ein gegebenes Regierungsprogramm, eine bestimmte Politik oder ein Land „wirklich“ neoliberal sind oder nur teilweise, und welcher Neoliberalismus der neoliberalste ist. Zugleich können Journalisten und „politisch Interessierte“ sich ausmalen, wie ein Blair oder ein Schröder mit ihren „Beratern“ zusammensitzen und von ihnen wissen wollen, was sie noch tun oder lassen müssen, damit das, was sie tun, der neuen Idee noch genauer entspricht.

Die Logik kapitalistischer Entwicklung

Hier ist nun die Stelle, an welcher der Soziologe kritische Fragen an die dezidierte Historikerin als Repräsentantin ihrer Disziplin richten möchte. Waren, vereinfacht formuliert, der Zusammenbruch des alten Regimes und die Durchsetzung einer neuen Ordnung – oder am Ende eben doch wieder Unordnung – wirklich so kontingente, für sich stehende, kontextfreie Ereignisse, die auch ganz anders hätten ausfallen können? Oder unterliegt der Fortschritt vom Sozial- zum Neoliberalismus grundsätzlich doch einer systemischen Logik, einer objektiven, in der realen Welt wirksamen Dynamik, deren Berücksichtigung es ermöglichen könnte, das so akribisch Beschriebene in einen Erklärungszusammenhang einzubringen, der so unwahrscheinliche Prämissen wie die Herrschafts- und Klassenneutralität gesellschaftlicher Steuerungsprobleme und ihrer Lösung, die Einheit der zu steuernden Probleme über alle Klassen und Schichten hinweg und die Rolle von Staat und Regierung als treuhänderisch-expertokratische Sachwalter gesellschaftsweiter Interessen unnötig macht oder sie gar, von mir aus dialektisch, selber als Teil des zu lösenden Problems behandelt? Eine historische Logik, in anderen Worten, deren Einbeziehung es ermöglichen würde, die neue neoliberale Weltordnung als auf den Zerfall der alten sozialliberalen Weltordnung folgenden Abschnitt eines längeren Entwicklungsprozesses zu verstehen, statt als vom Himmel eines Reagan’schen Weltbildes gefallenes Zufallsereignis? Wie wäre es, konkreter formuliert, wenn die zeitgeschichtliche Rekonstruktion einer politisch-ökonomischen Zeitenwende wie der nach dem Ende der Nachkriegszeit sich als Leitfaden ihrer Erzählung auf so etwas wie eine Theorie der kapitalistischen Entwicklung einlassen würde? Eine Theorie der „schöpferischen Zerstörung“, orientiert gerne auch an Schumpeter statt an Marx und Engels, die die aus der kapitalistischen Entwicklung resultierenden gesellschaftlichen Konflikte als der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und ihrem Fortschrittsdrang inhärent begreift, als eine sozusagen selbsttragende Dynamik, die für die soziale Ordnung, in der sie wirksam ist, ständig neue „Probleme“ aufwirft, nicht zufälliger, sondern erkennbar systemischer Art, mit denen staatliche Politik dann irgendwie fertigwerden muss, wenn die Gesellschaft kapitalistisch produktionsfähig und damit kapitalismuskompatibel stabil bleiben soll.

Ich könnte mir vorstellen, dass gestandene Historikerinnen und Historiker, konfrontiert mit der Zumutung, Kapitalismus als theoretischen Begriff statt als nominalistische Bezeichnung zu verwenden, befürchten könnten, sich damit auf Gedeih und Verderb ein deterministisches Weltbild einzuhandeln, in dessen Bann es nur noch um dogmatische Ableitungen statt um die Aufdeckung für sich stehender unbekannter Tatsachen („unmittelbar zu Gott“) gehen kann. Dazu besteht freilich kein Anlass; mehr Kontingenz als genug bliebe übrig in einer Perspektive, der es nicht um die Vorhersage von sich zu Entwicklungen verdichtenden Ereignissen geht, sondern um einen Interpretationsrahmen, der die Logiken und Triebkräfte identifiziert, die historische Prozesse und Akteure motivieren, ausstatten und eingrenzen. So könnte, und müsste, man verstehen, worum bei der Ablösung einer kapitalistischen Ordnung durch eine andere gekämpft wird, ohne dass man vorhersagen könnte, wie die in diesem Zusammenhang stattfindenden Kämpfe im Einzelnen verlaufen und ausgehen. (So funktioniert bekanntlich auch die Darwin’sche Evolutionstheorie, die den Historikern der Naturgeschichte, den Biologen, eine Entwicklungslogik vorgibt, Vorhersagen individueller Resultate des „komplexen“ Zusammenspiels von Mutation und Selektion aber ausschließt.) Was ich mit einer Paraphrase eines berühmten Diktums des jungen Max Horkheimer behaupten und zur Diskussion stellen möchte, ist, dass wer vom Kapitalismus nicht reden will, auch vom Neoliberalismus schweigen sollte[1] – schon allein deshalb, weil es außerhalb des Kapitalismus keinen Neoliberalismus gibt und geben kann. Um zu wissen, dass Neoliberalismus eine Version des Kapitalismus ist, braucht man, anders als Leendertz zu meinen scheint, keine „weitere[n] empirische[n] Arbeiten“.[2]

Kampfplatz Wirtschaft

Nur wer einen Begriff von Kapitalismus hat, kann verstehen, was Neoliberalismus war und ist, seit er in den 1980er-Jahren die Bühne betrat: eine Phase, zeitlich lokalisiert und begrenzt, der für den Kapitalismus konstitutiven Auseinandersetzung um die Bedingungen von Produktion und Reproduktion, von Konflikt und Integration in Gesellschaften, die die Stabilität ihres sozialen Systems von der eines Wirtschaftssystems abhängig gemacht haben, dessen Stabilität von einem ununterbrochenen Fortgang einer auf Unendlichkeit hin konzipierten Vermehrung vermehrungsfähigen Kapitals in privatem Eigentum abhängt. Mechanismus der für die kapitalistische Wirtschaft und damit für die kapitalistisch wirtschaftende Gesellschaft unentbehrlichen kontinuierlichen Kapitalakkumulation ist die private Aneignung der Differenz zwischen dem Wert des gesellschaftlich erarbeiteten Produkts und den Kosten seiner Produktion, letztere in Gestalt der Gegenleistung, die das seinen Profit nach Kräften mehrende Kapital an das Nichtkapital für seine fügsame Zusammenarbeit zu entrichten hat. Welchen Preis das Nichtkapital vom Kapital für seine Kooperation verlangen kann, ist letztendlich eine Machtfrage, die in Konflikten ausgetragen wird – in Markt- und Preiskämpfen als Machtkämpfen (Max Weber), deren jeweiliger Ausgang zwar kontingent ist, dennoch aber um einen Zentralwert herum streut, anders als das Wesen des Konflikts, das dasselbe bleibt, solange der Kapitalismus (noch) einer ist. Für die politische Ökonomie des Kapitalismus, einschließlich des Neoliberalismus, ist die Wirtschaft insofern keine Maschine, sondern ein Kampfplatz, die Arena eines kontinuierlichen Kräftemessens zwischen „Kapital“ und „Arbeit“, Kapitalismus und Gesellschaft – Ort laufender Machtproben zur Erkundung gegenseitiger Abhängigkeiten und Handlungsmöglichkeiten und der sich aus ihnen ergebenden relativen Preise der Produktionsfaktoren zum einen sowie der Aushandlung eines prekären, immer wieder zur Revision stehenden Sozialvertrags zwischen Kapital und Nichtkapital zum anderen, notwendig und zugleich zunehmend erschwert durch Schumpeters „schöpferische Zerstörung“ und, soweit möglich, laufend erneuert durch staatliche Politik.

Was bedeutet das für Theorie und Praxis des Neoliberalismus? Übergänge zwischen den Phasen kapitalistischer Entwicklung sind Momente der Neutarierung von Machtverhältnissen, moderiert durch staatliche Politik, der es darum gehen muss, einen Möglichkeitsraum im Parallelogramm der sich im Zuge der kapitalistischen Entwicklungsdynamik ständig neu konfigurierenden politisch-ökonomischen Kräfte zu finden, in dem die einen es (gerade noch) profitabel finden zu investieren und die anderen (gerade noch) bereit sind, für die Bereicherung der einen zu arbeiten. Der Übergang vom Sozial- zum Neoliberalismus kann so als Folge einer Verschiebung der politisch-ökonomischen Machtverhältnisse zugunsten des Kapitals und einer damit verbundenen Ausweitung seiner strategischen Handlungsfähigkeit verstanden werden, als Auslöser eines, am Ende erfolgreichen, Versuchs, den vom Kapital für die Arbeitsbereitschaft der Arbeit zu zahlenden Preis zu drücken. Dies nicht aus ideologischen Gründen oder zur Steigerung der Effizienz der gesellschaftlichen Wohlstandsproduktion, sondern um herauszufinden, ob das Kapital seine Lizenz zum Profitmachen – gewissermaßen seinen Jagdschein – unter veränderten Umständen vielleicht billiger bekommen könnte als im Sozialliberalismus und -kapitalismus der Nachkriegszeit. Auf Einzelheiten kommt es dabei nicht notwendig an – außer natürlich für die Geschichtswissenschaft, die mit Recht für sich beansprucht, die unterschiedlichen Methoden und Resultate, mit denen die laufende Anpassung des kapitalistisch-demokratischen Sozialvertrags unter jeweiligen Bedingungen erkämpft wird oder nicht, detailliert nachzuzeichnen und damit unentbehrlich zur Auffüllung und Verfeinerung der Rahmenerzählung beizutragen.

Die Rolle der Politik

Was die politischen Praktiker selber betrifft, so wiederhole ich, dass es ein Fehler wäre zu glauben, dass es ihnen darum geht, ein bestimmtes ideologisches Konzept, wie es so schön heißt, „umzusetzen“. Sie machen mit der ihnen eigenen Intuition, was ihnen unter ihren jeweiligen lokalen Bedingungen der sozialen Stabilisierung dienlich erscheint, also der Erreichung eines Zustands, in dem die einen weiter investieren und die anderen ihnen, vielleicht auch mit knirschenden Zähnen, dabei weiterhin behilflich sind. (Das Max Planck‘sche Diktum, „Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen“, käme ihnen bizarr vor; für sie gilt eher Goethe: „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.“) Ziel muss sein, das Minimum an Gratifikationen für das Nichtkapital herauszufinden, das dieses gerade noch davon abhält, dem Kapital die Kooperation aufzukündigen – oder auch das Maximum, das das Kapital bereit ist, für die Kooperation des Nichtkapitals zu bezahlen, bevor es zum Investitionsstreik übergeht oder, besonders relevant für die Genese des Neoliberalismus, in ein anderes Land umzieht.[3] Da davon nichts Geringeres abhängt als der Fortbestand der kapitalismusdienlichen Sozialordnung, sind staatlicher Politik hierbei alle geeigneten Mittel recht: gutes ideologisches Zureden, materielle Anreize soweit verfügbar, Einsatz von Polizei- und richterlicher Gewalt – alles um dafür zu sorgen, dass am nächsten Tag die Maschinen noch da sind und alle wieder zur Arbeit erscheinen. Wenn der Politik dann jemand sagt, dass das, was sie da betreibt, Neoliberalismus sei, dann ist ihr das solange recht, wie niemand an der Bezeichnung Anstoß nimmt; wird irgendwann doch Anstoß genommen, wird das Typenschild ohne Abschiedsschmerz neu beschriftet. Theorien sind Schall und Rauch; es gilt das gebrochene Wort beziehungsweise die getane Tat.

Wer eine Fallstudie schreiben will, sollte eine gute Antwort auf die Frage bereit haben: What is this to be a case of? Leendertz‘ Untersuchung der neueren Geschichte des Department of Housing and Urban Development ist eine herausragend lehrreiche Fallstudie zur Entwicklung des Kapitalismus als politische Ökonomie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Phase seiner Befreiung aus seiner nachkriegszeitlichen, staatlich verwalteten demokratischen Verfassung, in kontingenter Anpassung an die US-amerikanischen Umstände von Ort und Zeit im Rahmen und nach Maßgabe der spezifischen historischen Logik kapitalistischer Entwicklung.

  1. „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Max Horkheimer, Die Juden und Europa, inn: ders., Gesammelte Werke Band 4, Frankfurt am Main 1988, S. 308 f. Erstveröffentlichung in Studies of Philosophy and Social Science (Zeitschrift für Sozialforschung), Bd. 8, 1939, S. 115–137
  2. „David Kotz nannte diese Ordnung aus der Perspektive der politischen Ökonomie ‚neoliberalen Kapitalismus‘. Inwiefern dies auch für die deutsche und europäische Zeitgeschichte ein sinnvoller Ansatz wäre, müssen weitere empirische Arbeiten zeigen.“ (Ariane Leendertz, Der erschöpfte Staat. Eine andere Geschichte des Neoliberalismus, Hamburg S. 430 f.)
  3. „The proprietor of stock is properly a citizen of the world, and is not necessarily attached to any particular country. He would be apt to abandon the country in which he was exposed to a vexatious inquisition, in order to be assessed a burdensome tax, and would remove his stock to some other country where he could, either carry on his business, or enjoy his fortune more at ease. By removing his stock, he would put an end to all the industry which it had maintained at the country he left... A tax which tended to drive away stock from any particular country, would so far tend to dry up every source of revenue, both to the sovereign and to the society. Not only the profits of stock, but the rent of land, and the wages of labour, would necessarily be more or less diminished by its removal.” (Adam Smith, Wealth of Nations, London 1776)

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Geschichte Gesellschaft Politik Politische Ökonomie Sozialpolitik Staat / Nation Wirtschaft Wissenschaft

Wolfgang Streeck

Wolfgang Streeck ist emeritierter Professor für Soziologie und Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Zuletzt erschien seine Monografie „Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“.

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