Tobias Adler-Bartels | Rezension | 10.04.2025
Gegen den Westen nichts Neues
Rezension zu „Das Deutsche Demokratische Reich. Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört“ von Volker Weiß

Der Historiker und Journalist Volker Weiß ist einer interessierten Öffentlichkeit durch seine zahlreichen Veröffentlichungen und zeitkritischen Interventionen sowie als kluger Beobachter der Wandlungen und Häutungen der deutschen (Neuen) Rechten bekannt. In seiner opulenten Dissertationsschrift über den jungkonservativen Vordenker Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925) rekonstruierte Weiß, wie es in den rechtsintellektuellen Konstellationen der frühen Weimarer Jahre zu einer (meta-)politischen und chronopolitischen Umpolung des altkonservativ-reaktionären Denkens kam und der radikale (Jung-)Konservatismus zu einer ‚modernen‘ Bastion im antimodernen beziehungsweise antiliberalen Abwehrkampf avancierte.[1] Die Fortsetzung dieses metapolitischen Projekts in der Bundesrepublik war dann Thema seines Buches über „Die autoritäre Revolte“ der Neuen Rechten, in dem er zum einen die intellektuellen Netzwerke und personalen Konstellationen dieses klandestinen Milieus skizzierte und zum anderen deren programmatische Fundamentalkritik des Universalismus und Amerikanismus in den Blick nahm.[2] Das neueste Werk „Das Deutsche Demokratische Reich. Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört“ steht ganz im Zeichen der jüngsten (geo-)politischen Entwicklungen. Es nimmt zum einen die Kontroversen der (Neuen) Rechten nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in den Blick und widmet sich zum anderen dem Stellenwert rechter Begriffs- und Geschichtspolitiken.
Der russische Einmarsch in die Ukraine war für die etablierten Deutungsmuster der rechten und rechtsextremen Szene durchaus eine (intellektuelle) Herausforderung, wie Weiß in den ersten beiden Kapiteln zeigt, schließlich galt die Sowjetunion für die politische Rechte des Kalten Krieges gemeinhin als ‚evil empire‘ (Ronald Reagan). Mit seinen geschichtspolitischen Narrativen zur Rechtfertigung der ‚militärischen Spezialoperation‘ machte Wladimir Putin jedoch der deutschen und europäischen Rechten ein attraktives Angebot: Er stellte das russische Vorgehen in den größeren Rahmen eines langanhaltenden Kampfes gegen den vermeintlich dekadenten Westen und dessen Liberalisierungs- und Demokratisierungsagenda sowie einer legitimen imperialen Selbstbehauptung. Die Referenzen dieses Deutungsangebotes blieben, wie Weiß zeigt, gleichwohl bewusst vage. Während etwa Putin in seinen langatmigen historischen Ausführungen stets das altrussische Imperium aufruft und Lenin als einen Zerstörer dieser traditionellen Ordnung geißelt, rekurriert sein Adjutant Dmitri Medwedew in seinen öffentlichen Beiträgen explizit auf sowjetische Narrative, um den Kampf gegen den Westen ideell zu untermauern. Grundlegend bleibt jedoch stets ein klares Freund-Feind-Denken, das darauf abzielt, die westlichen Gesellschaften (weiter) zu spalten, wie Weiß mit Blick auf die subtilen Strategien der öffentlichen Meinungsmanipulation durch das russische Regime betont. Neben dem Einsatz geklonter und entsprechend manipulierter Nachrichten-Websites beinhalten sie auch die gezielte Verbreitung von Desinformation durch eigene Webauftritte in den jeweiligen Landessprachen sowie den systematischen Einsatz von Propaganda in sozialen Netzwerken.
Unterstützt wird diese Agenda durch Akteure im vorpolitischen Feld, die enge Verbindungen zur rechtsintellektuellen Szene in Deutschland aufweisen. So bemüht sich der bekannte Vordenker Alexander Dugin schon viele Jahre um einen „Brückenschlag zwischen deutschem und russischem Nationalismus“ (S. 45).[3] Als allgegenwärtiger Stichwortgeber für den Kampf gegen den liberalen Westen fungiert auch in Russland Carl Schmitt; dessen politisch-theologische Figur des Katechon dient nicht nur als Namensgeber für eine russische Denkfabrik (katehon.com), sondern muss auch als Blaupause für Überlegungen des einflussreichen außenpolitischen Beraters Sergei Karaganow herhalten, der das Atomwaffenarsenal der Russischen Föderation in einem Strategiepapier zur ‚konstruktiven Zerstörung‘ als ein Mittel beschreibt, „um die Ankunft der Endzeit nochmals hinauszuzögern“ (S. 42). Durch die akribische Darstellung der Verbindungen zwischen den rechtsintellektuellen Netzwerken in Putins Russland und den (neu-)rechten Bewegungen in der Bundesrepublik macht Weiß deutlich, dass Russland die deutsche Rechte als eine ‚fünfte Kolonne‘ im antiwestlichen Machtkampf benötigt. Ersichtlich wird das etwa mit Blick auf die Aktivitäten des AfD-Politikers Hans-Thomas Tillschneider, den 2021 in Moskau verstorbenen Journalisten Manuel Ochsenreiter oder den weitgehend unbekannten Publizisten Dimitrios Kisoudis. Kisoudis – der seit dem Februar 2022 als Grundsatzreferent im Büro des AfD-Vorsitzenden Tino Chrupalla arbeitet und unter anderem einen Band mit Gesprächen Carl Schmitts mit Klaus Figge und Dieter Groh herausgegeben hat[4] – beruft sich in seinem 2015 erschienenen Buch „Goldgrund Eurasien“ auf die geopolitischen Überlegungen Schmitts und Karl Haushofers, um die antiwestliche Positionierung Russlands zu rechtfertigen, und zieht zugleich Oswald Spengler sowie Vertreter der sogenannten Konservativen Revolution heran, um den Gedanken eines vom Westen geschiedenen Mitteleuropas unter deutscher Dominanz zu begründen.[5]
Die unverhohlene Faszination für das autoritäre Regime in Moskau, die in weiten Teilen der deutschen Rechten vorherrscht, äußert sich demnach im gemeinsamen Feindbild des (dekadenten) Westens und hat ihren ideellen Unterbau in idealisierten preußisch-russischen Traditionen. Anhand einer instruktiven Literaturschau der kontroversen Debatten in (neu-)rechten Publikationen wie beispielsweise Sezession, Tumult, Compact oder Neue Ordnung macht Weiß jedoch deutlich, dass diese intellektuelle Allianz nicht notwendig auf eine vorbehaltlose Unterstützung des russischen Angriffskriegs hinausläuft. So rief etwa die neonazistische Partei „Der dritte Weg“ ihrer rassistischen Pseudologik folgend dazu auf, den Kampf der Kameraden in der ‚weißen‘ Ukraine gegen die ‚gelbe Gefahr‘ aus dem Osten aktiv zu unterstützen. Dies blieb jedoch eine Minderheitenposition – die Mehrheit der rechten Szene positionierte sich dagegen auf Seiten des russischen Aggressors, sei es aus offener Sympathie für deren politische Agenda oder aus eher opportunistischen Erwägungen. Ob die Friktionen und unterschiedlichen Positionen der deutschen Rechten zu Russland jedoch durch die – etwas grobschlächtige – Unterscheidung von „Rheineuropäern“, die von der Wiedergeburt eines (groß-)deutschen Reiches im europäischen Abendland träumen, und „Eurasiern“, die vermeintlich nüchtern die geopolitischen Realitäten anerkennen und dabei auf die Achse Berlin-Moskau setzen, angemessen auf den Begriff gebracht werden, wie Weiß behauptet, muss sich wohl erst noch beweisen.
In ihrem Kampf gegen den liberalen Westen rufen die rechten Bewegungen unheilvolle Traditionen der deutschen Geistesgeschichte auf, wie Weiß immer wieder betont. Sei es die Geopolitik Carl Schmitts mit ihren multipolaren Großraum-Konzeptionen, die Dekadenzerzählungen von Oswald Spengler, die ätzende Polemik gegen den Liberalismus eines Arthur Moeller van den Brucks oder die larmoyant-(n)ostalgischen Reminiszenzen an die Geschichte (Ost-)Preußens – im gegenwärtigen Kampf der Rechten gegen den Liberalismus sowie gegen den Westen scheinen immer wieder die rechtsintellektuellen Konstellationen der Weimarer Republik durch. Entsprechend verwundert es wenig, wenn eine sogenannte „Bibliothek des Konservatismus“ ihr aktuelles Studienprogramm als „Jungkonservative Seminare“ bezeichnet. Der Zugriff der Rechtsintellektuellen auf die deutsche Geschichte geht dabei stets mit revisionistischen Umschreibungen oder Umdeutungen einher, wie Weiß betont. Eines der vermutlich markantesten Beispiele für eine solche Geschichtsklitterung ist die provokante These, dass der Nationalsozialismus eine ‚linke‘ Bewegung gewesen sei, wie es erst jüngst wieder die AfD-Vorsitzende Alice Weidel im Gespräch mit dem rechtslibertären Tech-Milliardär Elon Musk behauptet hat. In einem eigenen Kapitel widmet sich Weiß der Re- und Dekonstruktion dieses rechten Mythos und widerlegt so durch akribische Quellenkritik die in rechten Kreisen oftmals kolportierte Annahme, Joseph Goebbels selbst habe den Nationalsozialismus als eine ‚linke‘ Bewegung bezeichnet. Im Rekurs auf den geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand räumt Weiß zudem mit der Legende auf, dass es sich – wie rechte Kreise immer wieder behaupten – bei der NSDAP um eine ‚Arbeiterpartei‘ gehandelt habe.
Im Zuge weiterer Erörterungen zur „Genese des ‚Deutschen Sozialismus‘“ (S. 162) werden jedoch kleinere Irritationen in der Komposition des Werkes offenbar. So rückt Weiß Joseph Goebbels Aufsatz „Unser Sozialismus“ (1932) in den Fokus und klärt die Leser:innen erst zwanzig Seiten später darüber auf, dass dieser Begriff bereits lange vor dem Nationalsozialismus Eingang in die Sprache der Rechten gefunden hat. Diese Genealogie des rechten ‚Sozialismus‘ kann zudem nicht restlos überzeugen, weil die Ausführungen von Weiß die Adaption des Begriffes fast ausschließlich als Ausdruck einer antikommunistischen Grundhaltung interpretieren. Die Konjunkturen eines ‚deutschen‘ beziehungsweise ‚nationalen Sozialismus‘ sind jedoch keineswegs nur eine „Begriffspiraterie aus dem Spätwilhelminismus und der Weimarer Zeit“ (S. 236). Das verdeutlich etwa ein Blick auf die Diskussionen um einen konservativ-korporatistischen ‚Staatssozialismus‘ oder auch ‚christlichen Sozialismus‘, die bereits vor dem Kaiserreich im Lager der preußischen Sozialkonservativen geführt wurden.[6] Der so verstandene (konservative) ‚Sozialismus‘ richtete sich nicht in erster Linie gegen die Arbeiterbewegung, sondern diente als polemischer Abgrenzungsbegriff gegen Liberalismus und Kapitalismus, war sowohl für bürgerliche als auch proletarische Kreise anschlussfähig und bildete unter anderem einen Referenzpunkt in Spenglers Überlegungen zu „Preußentum und Sozialismus“ (1919). Hinter der rechten Aneignung des Sozialismus-Begriffs stand also nicht nur antikommunistischer Furor, vielmehr wurden in diesen Debatten die Potenziale einer antiliberalen Querfront ausgelotet.
Eine gewisse Querfront-Logik liegt auch dem paradoxen Phänomen „einer antikommunistischen DDR-Nostalgie“ (S. 178) innerhalb der westdeutschen Rechten zugrunde, die Weiß in seinem letzten ausführlichen Kapitel untersucht. Hier liegt auch der Ursprung des titelgebenden „Deutschen Demokratischen Reiches“ – eine Formulierung, die einer Rede Jürgen Elsässers am Tag der deutschen Einheit 2023 im thüringischen Gera entlehnt ist, in der der Herausgeber des rechtsextremen Compact-Magazins von der Wiedergeburt eines autoritären Reiches im Osten der Republik unter einem ‚Reichskanzler‘ Björn Höcke fabulierte. Diese krude „Melange aus Ostidentität und völkischem Nationalismus“ (S. 184) ist nur der krasseste Ausdruck einer gezielten Instrumentalisierung ostdeutscher Verlusterfahrungen durch rechte Akteure, in der der ominöse ‚Osten‘ als vages Gegenbild zum (dekadenten, liberalen, verweichlichten usw.) ‚Westen‘ fungiert. Vergangenheitspolitisch geht dies mit einer gewissen Entpolitisierung des sowjetischen Imperiums einher, das nunmehr als „Hort von Disziplin, konservativen Geschlechterrollen und weißer Vorherrschaft“ (S. 218) präsentiert wird. Die ideologische Konfusion wird auf die Spitze getrieben, indem es gerade Vertreter:innen der amerikanischen Alt-Right-Bewegung – wie die Bloggerin Nina Kouprianova („Nina Byzantina“) – sind, die das Bild der kommunistischen Sowjetunion reinwaschen und das heutige Russland als eine der letzten Bastionen der ‚weißen Rasse‘ beschreiben. Weiß legt plausibel dar, dass Putins Russland als Projektionsfläche für die antiliberalen und antidemokratischen Sehnsüchte der deutschen Rechten dient und entsprechend eine Kompensationsfunktion erfüllt, solange das avisierte Projekt eines neuen Deutschen Reiches ein Wolkenkuckucksheim bleibt.
Die enttäuschten Hoffnungen sowie verstetigten Ungleichheiten im unabgeschlossenen Vereinigungsprozess instrumentalisierte die AfD in den ostdeutschen Landtagswahlkämpfen durch das provokante Motto „Vollende die Wende!“, das die jüngeren Proteste gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung oder die Corona-Maßnahmen in eine Reihe mit der mutigen Revolution der demokratischen Bürgerrechtsbewegung stellte. Weiß‘ Analysen der – zumeist von westdeutschen Akteuren der Rechten initiierten – Proteste sowie der antiwestlichen Ressentiments in Ostdeutschland hätten jedoch davon profitiert, wären sie an die Entwicklungen der rechtsintellektuellen Debatten um die Frage nach dem Verhältnis der deutschen Nation zum ‚Westen‘ sowie zum ‚Hegemon‘ Amerika angebunden worden.[7] So bildete für große Teile der deutschen Rechten das ‚Provisorium‘ der Bundesrepublik von Anbeginn einen Ort der nationalen Unfreiheit, da, wie es der Politologe Reinhard Schwickert formulierte, das Grundgesetz als „politisch provisorische Gestalt von kriegerisch Besiegten die Verfassungsmelodie einer okzidental-kosmopolitischen Befreiung zum Erklingen bringt“. Dem unter dem Primat „okzidentaler Subordinations-Räson“ vollzogenen Prozess der deutschen Vereinigung konnten diese Kreise entsprechend wenig abgewinnen. Die „Eingliederung der DDR“ befestige, so die Annahme, lediglich das „nordatlantisch-westeuropäische Hegemonialgefüge“ und stehe so der „conditio germanica als nationalem Seinsprinzip“ im Wege, „die durch den geschichtlich-kulturellen Kontext einer national-staatlichen Selbstkonstitution (der Hauptmasse) des deutschen Volkes seit dem Untergang des alten, römisch-mittelalterlichen, Kaiserreiches vorgezeichnet ist“.[8] In den kontroversen Debatten um die ‚Westbindung‘ der Bundesrepublik in den 1990er-Jahren waren dies zwar marginale Positionen, gleichwohl scheinen die darin ausgedrückten Ressentiments immer wieder auch in den jüngeren Veröffentlichungen der (neu-)rechten Szene durch, die Weiß in den Blick nimmt.
Das „Deutsche Demokratische Reich“ konfrontiert seine Leser:innen schonungslos mit dem rechten Narrensaum und ist zugleich aufgrund der vielen historischen Zeitebenen sowie den vielen behandelten rechten Bewegungen und Akteuren ein durchaus voraussetzungsreiches Werk. In diesem Zusammenhang ist es mehr als bedauerlich, dass der Verlag auf ein Personenregister verzichtet hat und so den dokumentarischen Wert dieser Untersuchung für die Rechtsextremismusforschung schmälert. Die einzelnen Kapitel und Unterkapitel stehen zudem etwas unvermittelt nebeneinander und werden eher durch den allgemeinen Zugriff auf die „Umschreibungen und Umdeutungen des Historischen“ (S. 11) zusammengehalten, die Weiß mit dem Konzept der Resignifikation erfasst.
Für diese Untersuchung der „strategischen Resignifikation des Historischen“ (S. 9) beruft sich Weiß unter anderem auf die Arbeiten des Wiener Sozialphilosophen Gerald Posselt, der auf den systematischen Zusammenhang dieser Überlegungen mit der rhetorischen Figur der Katachrese verwiesen hat.[9] Diese „Strategie subversiver Resignifikation“ (S. 238) ist aus dem Umfeld poststrukturalistischer Theorien bekannt und zielt dort auf die (mühsame) Anverwandlung von hegemonialen Begriffen und Vorstellungen in emanzipatorischer Absicht. Die Adaption des Resignifikation-Konzeptes für die rechte Metapolitik wirkt jedoch insgesamt etwas bemüht und kann systematisch nicht restlos überzeugen. Zwar sind die semantischen Kämpfe der rechten Akteure – analog zu denen der identitätspolitischen Linken – strukturell durch eine Anfechtung der hegemonialen Verhältnisse gekennzeichnet, gleichwohl verweist die konstitutive Antithetik der rechten begriffspolitischen Strategien zumeist auf konstruierte Feindbilder, die zudem in größere Verschwörungs- oder Verfallserzählungen eingebunden sind.[10] Für die hier im Fokus stehenden (historischen) Debatten wäre daher der Rekurs auf dezidierte Untersuchungen zu den rechten Begriffskämpfen gewinnbringender, um zu klären, was es bedeutet, wenn diese Akteure „Identität […] behaupten, wo Differenzen gegeben sind“ (S. 234). So hat Oliver Lepsius im Kontext der nationalsozialistischen Begriffspolitik vom Grundprinzip der „gegensatzaufhebenden Begriffsbildung“ gesprochen, die auf eine Überwindung der vermeintlich rationalistischen Begriffsdichotomien – beispielsweise von Sein und Sollen oder Wert und Wirklichkeit – zielte und dagegen ‚überpositive‘ Begriffe in Stellung brachte.[11] Auch die auf politische Sprachen und Begriffe fokussierte Ideologienforschung (Ideology Studies) betont die Abhängigkeit rechter und konservativer Strömungen von progressiven Feindbildern beziehungsweise dem ‚mirror-image‘ des Liberalismus;[12] semantische Prozesse der Resignifikation sind aus dieser Perspektive keineswegs ein exklusiv rechtes Phänomen, sondern ein konstitutives Moment des ubiquitären ideologischen Denkens.[13]
Indem sich Weiß zumeist auf klandestine Zirkel um rechte Zeitschriftenformate oder Blogs fokussiert, ruft das Werk unmittelbar Fragen zu den Resonanzräumen dieser Begriffs- und Geschichtspolitiken auf, schweigt sich aber zum digitalen Strukturwandel der rechten Öffentlichkeit(en) weitgehend aus. Das ist schade, findet hier doch eine grundlegende Veränderung statt, da die rechten Begriffsoperationen nicht mehr auf esoterische Kreise beschränkt bleiben, sondern mittels des Internets (verstärkt durch dessen von autoritären Regimen genutzten Manipulationspotenziale) viel weitere Kreise ziehen, während die etablierten gatekeeper der Medienöffentlichkeit immens an Bedeutung verlieren. An diesen Punkten lässt das Buch von Weiß seine Leser:innen etwas ratlos zurück, auch weil es sich zu der entscheidenden Frage ausschweigt, wie nämlich die (Zivil-)Gesellschaft oder staatliche Institutionen adäquat auf den rechten Zeitgeist reagieren können. Eine Anleitung zum Entschärfen solcher begriffspolitischen Minen, die nach Ernst Jünger „lautlos explodieren“,[14] ist das Buch damit zwar nicht – seine Lektüre aber kann und muss als eindringliche Warnung vor den verdeckten Operationen der inneren und äußeren Feinde einer Gesellschaft der Freien und Gleichen verstanden werden.
Fußnoten
- Volker Weiß: Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus, Paderborn (u.a.) 2012.
- Volker Weiß: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017.
- An der nach einem bekennenden Faschisten des frühen 20. Jahrhunderts benannten Politischen Hochschule Iwan Iljin bietet Dugin neuerdings das Fach Westernologie an, dass sich – analog zur Disziplin der Orientalistik – als eine ‚Wissenschaft vom Westen‘ versteht und der geistigen Munitionierung im antiliberalen Weltbürgerkrieg dient. Vgl. Alexander Estis: Kenne deinen Feind, in: Süddeutsche Zeitung v. 5.3.2025, S. 9.
- Frank Hertweck / Dimitrios Kisoudis (Hg.), „Solange das Imperium da ist“. Carl Schmitt im Gespräch mit Klaus Figge und Dieter Groh 1971, Berlin 2010.
- Siehe dazu die von Weiß nicht (mehr) herangezogene jüngste Veröffentlichung von Kisoudis im einschlägigen Antaios-Verlag zu „Mitteleuropa und Multipolarität“ (2023).
- Vgl. etwa Stefan Breuer, Vom „Staatssozialismus“ zum „christlichen Sozialismus“: Adolph Wagner, Rudolf Todt, Adolf Stoecker, in: Ders., Ausgänge des Konservatismus in Deutschland, Darmstadt 2021, S. 107-137.
- Siehe dazu Darius Harwardt, Verehrter Feind. Amerikabilder deutscher Rechtsintellektueller in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main / New York 2019 sowie Florian Finkbeiner, Nationale Hoffnung und konservative Enttäuschung. Zum Wandel des konservativen Nationenverständnisses nach der deutschen Vereinigung, Bielefeld 2020.
- Reinhard Schwickert, Neue Wirklichkeit und alte Sinngestalt. Die Bonner Republik unter Bedingungen des Umbruchs in Europa, in: Volker Beismann / Markus Josef Klein (Hg.), Politische Lageanalyse. Festschrift für Hans-Joachim Arndt zum 70. Geburtstag am 15. Januar 1993, Bruchsal 1993, S. 307-324.
- Vgl. Gerald Posselt, Katachrese. Rhetorik des Performativen, München 2005.
- Dazu Felix Schilk, Die Erzählgemeinschaft der Neuen Rechten. Zur politischen Soziologie konservativer Krisennarrative, Bielefeld 2024.
- Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994.
- Dazu Tobias Adler-Bartels, Radical Conservatism and the Liberal Question. Hermann Wagener and Paul de Lagarde as Promotors of the Radicalization of 19th Century German Conservatism, in: Comparative Political Theory 3 (2023), S. 189-213.
- Siehe dazu etwa die Beiträge im Special Issue „Exploring Far-Right Utopias in Practice“ des Journal of Political Ideologies 29 (2024) 3.
- Brief von Ernst Jünger an Carl Schmitt, Berlin, 14.10.1939, in: Ernst Jünger – Carl Schmitt – Briefe 1930-1983 (hrsg., komm. u. mit einem Nachw. vers. v. Helmuth Kiesel), Stuttgart 1999, S. 7.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Demokratie Geschichte Gesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Politik Staat / Nation
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