Hannah Mormann | Rezension |

Nachhaltigkeit als Frage der Organisation

Rezension zu „Dilemmata der Nachhaltigkeit“ von Anna Henkel et al. (Hg.)

Anna Henkel, Sophie Berg, Matthias Bergmann, Holli Gruber, Nicole C. Karafyllis, Dimitri Mader, Ann-Kristin Müller, Bernd Siebenhüner, Karsten Speck, Daniel-Pascal Zorn (Hg.):
Dilemmata der Nachhaltigkeit
Deutschland
Baden-Baden 2023: Nomos
362 S., 84 EUR
ISBN 978-3-7560-0363-1

Das Thema Nachhaltigkeit ist seit geraumer Zeit allgegenwärtig und die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen scheinen sich sowohl in der Wirtschaft als auch in der Wissenschaft institutionalisiert zu haben. In der Einleitung zum Sammelband Dilemmata der Nachhaltigkeit wird auf die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen verwiesen und auf deren Widersprüchlichkeiten aufmerksam gemacht: Etwa würden Wasserkraftwerke zwar Elektrizität auf erneuerbarer Basis produzieren (SDG 7), jedoch gleichzeitig Ökosysteme und Biodiversität (SDG 15) gefährden und die landwirtschaftliche Produktion (SDG 2) einschränken (S. 10). Die Herausgeber:innen blenden keinesfalls aus, dass die Nachhaltigkeitsziele der UN neben verschiedenen ökologischen und wirtschaftlichen Aspekten auch soziale Anliegen wie Geschlechtergleichstellung (SDG 5) und Gesundheit und Wohlergehen (SDG 4) umfassen, jedoch liegt ein Schwerpunkt der versammelten Beiträge auf Themen wie Klimaschutzdebatten, Bioökonomie, Digitalisierung in der Landwirtschaft und der Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume.

Das Format eines Sammelwerks birgt das Risiko, dass – wie auch im Beitrag von Armin Grunwald thematisiert (S. 270) – ein buntes Stimmengewirr rund um das Thema Nachhaltigkeit zum Programm wird. Sophie Berg, Anna Kristin Müller, Bernd Siebenhüner und Karsten Speck stellen dies auch in ihrem Beitrag fest, wenn sie 1020 Förderprogramme auf Bundes- und Landesebene in Deutschland im Zeitraum 2005 bis 2019 untersuchen, die das Wort „nachhaltig“ verwenden – und zumeist unscharf definieren (S. 283). Vielstimmigkeit und Interpretationsoffenheit spiegelt sich in der Fülle der Beiträge wider, doch gelingt es den 18 Beiträgen über die Bestimmung und den Umgang mit Nachhaltigkeitsdilemmata einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu schaffen. 27 Forscher:innen aus unterschiedlichen Disziplinen (Soziologie, Philosophie, Recht, Bildungsforschung und Medizin) steuern ihre theoretisch-konzeptuellen Überlegungen und empirischen Einsichten zur nachhaltigen Entwicklung in der über 360 Seiten starken Publikation bei, die auf das vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur sowie der Volkswagen-Stiftung von 2019–2023 geförderte Projekt „Dilemmata der Nachhaltigkeit zwischen Evaluation und Reflexion. Begründete Kriterien und Nachhaltigkeitswissen“ zurückgeht.

Das Buch besteht aus drei Teilen: Reflexive Perspektiven, empirische Fälle und Herausforderungen für Wissenschaft und Forschung. Auffällig ist, dass zwar eine große Bandbreite sozialwissenschaftlicher Nachhaltigkeitsforschung repräsentiert, jedoch kaum ein Bezug zur soziologischen Organisationsforschung hergestellt wird.[1] Dies springt deshalb ins Auge, weil erstens viele Beiträge die Kluft zwischen Worten und Taten im Kontext von Nachhaltigkeit explizit thematisieren. Dabei hat die Auseinandersetzung mit der Diskrepanz zwischen Reden und Handeln in der Organisationsforschung eine lange Tradition und bietet daher interessante Anschlussmöglichkeiten für die sozialwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung. Zu anschlussfähigen Ansätzen zählen etwa das mittlerweile klassische Konzept der Entkopplung[2] oder theoretische Arbeiten zur Heuchelei.[3] Beiträge wie Die Technologie der Torheit von James G. March[4] könnten darüber hinaus konkrete Antworten auf die Fragen geben, wie Organisationen Raum schaffen können für kreative Auseinandersetzungen mit dem Ziel der Nachhaltigkeit und wie für Ideen und die notwendige Motivation gesorgt werden könnte, Nachhaltigkeitsideale trotz ihrer Unerreichbarkeit dauerhaft weiterzuverfolgen. Stefan Staehle und Jörn Zitta stellen in ihrem Beitrag ähnliche Überlegungen an, wenn sie das designtheoretische Prinzip der Annäherung im Kontext von Nachhaltigkeit mit dem Konzept der Problemlösung kontrastieren. Ein drittes übergreifendes Thema betrifft den Umgang mit Zukunft, das unter anderem in den empirischen Beiträgen von Holli Gruber sowie Claudio Bozzaro und Dominik Koesling behandelt wird. Statt der Gliederung des Sammelbandes zu folgen, teile ich meine Besprechung ausgewählter Beiträge also in drei organisationssoziologisch relevanten Themenschwerpunkte: Reden und Handeln, Annäherung statt Problemlösung und Umgang mit Zukunft.

Reden und Handeln

Sarah Kessler und Henrike Rau unterstreichen, dass „Divergenzen zwischen Worten und Taten“ grundlegend für das menschliche (Umwelt-)Verhalten sind (S. 129). Sie unterscheiden in ihrer Studie über Klimawandeldebatten in TV, Print- und sozialen Medien verschiedene Klimakulturen (Elitekultur, öffentliche Kultur und diverse Subkulturen), die von unterschiedlichen Wahrnehmungen (unter anderen Skepsis und Leugnung) bezüglich der Betroffenheit und der Selbstwirksamkeit jener, die an ihnen teilhaben, geprägt sind. Dass Verantwortung für den Klimaschutz von vielen bisher nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen, sondern einzelnen mehr oder minder wirkmächtigen Akteuren zugeschrieben wird, stellen die Autorinnen in ihrem Beitrag als wichtigen Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung von Nachhaltigkeitsmaßnahmen heraus. Diese empirische Einsicht ist insofern interessant, als sie der Rhetorik von Initiativen wie den SDGs widerspricht, die den universalistischen Charakter der Nachhaltigkeitsziele geradezu präsumiert. Kessler und Rau heben in ihrer qualitativen Studie zur Medienberichterstattung über den Klimawandel in Deutschland hervor, dass sowohl differenzierte als auch alltagsnahe bzw. -taugliche Ansprachen unterschiedlicher Klimakulturen notwendig seien.

Während Nachhaltigkeit im wirtschaftlichen Diskurs inzwischen eine wichtige Rolle spielt und das Versprechen von grenzenlosem Wachstum zunehmend hinterfragt wird, bleiben politische Maßnahmen und Programme dennoch dem Wachstumsparadigma verhaftet. Diese These erläutern Jana Holz und Philip Koch in ihrem Beitrag am Beispiel der Forstwirtschaft, einem zentralen Sektor der Bioökonomie. Unter Bioökonomie wird die wirtschaftliche Tätigkeit zur Güterproduktion verstanden, bei der biobasierte Rohstoffe und Energieträger statt fossiler Materialien verwendet werden. Sie bricht mit dem Modell der linearen Durchflusswirtschaft, in der Ressourcen lediglich verbraucht werden, zugunsten einer Kreislaufwirtschaft. Letztlich, so argumentieren Holz und Koch, bleiben bioökonomische Ansätze jedoch im Wachstumsparadigma verankert. Statt eines Kreises entsteht eine Aufwärtsspirale hin zu immer größerem Naturverbrauch. Rhetorisch werde diese Entwicklung aber verschleiert, indem in der Bioökonomie zwischen einer starken und einer schwachen Nachhaltigkeit unterschieden wird. Die starke Variante verlangt, dass natürliche Ressourcen auf Dauer erhalten werden und ihr Vorrat somit konstant bleibt; von schwacher Nachhaltigkeit ist hingegen bereits dann die Rede, wenn Natur verbraucht wird, um Waren zu produzieren, die zum Wohlstand der Menschen beitragen (S. 212). Aktuell scheint sich das letztere Nachhaltigkeitsverständnis durchzusetzen und mit ihm das Narrativ einer Win-win-Situation, in der ökonomische und ökologische Anliegen gleichermaßen realisierbar erscheinen, mithin ineinander aufgehen. Das Dilemma der Bioökonomie, so die Schlussfolgerung von Holz und Koch, liege grundsätzlich darin, die Artenvielfalt erhalten und die Natur schützen zu wollen – bei gleichzeitigem Beharren auf (grünem) Wirtschaftswachstum.

„Während doch dringend gehandelt werden müsse, werde nur geredet“ (S. 265). Für Armin Grunwald betrifft diese Kritik die Geistes- und Sozialwissenschaften in besonderer Weise. Er plädiert in seinem Beitrag dafür, dass die Entwicklung zu einer nachhaltigeren Gesellschaft „eines zweigleisigen Vorgehens aus zielorientiertem Management und reflexiver Bedeutungsarbeit“ bedarf (S. 262). Nachhaltigkeitsmanagement könne nur in einem Modus des als ob operieren, das heißt Bedeutungskontroversen zu nachhaltiger Entwicklung müssen zumindest zeitweise als hinreichend geklärt gelten, um konkrete Transformationsschritte festlegen zu können. Einen solchen Managementansatz zu verwenden sei naheliegend, wenn das Ziel nachhaltiger Entwicklung als spezifische Form der Bewirtschaftung von natürlichen wie sozialen Ressourcen konzeptualisiert wird. Genauso wichtig sei aber, dass unterschiedliche Akteure mit ihren eigenen Diagnosen, wissenschaftlichen Theoriegebäuden, weltanschaulichen Positionen, Alltagswissen, Werten, Erfahrungen, Zukunftserwartungen oder -befürchtungen in einer Arena kollektiver Bedeutungsarbeit zusammenwirken (S. 269). Grunwald weist in seinem Beitrag auf die Notwendigkeit funktionaler Arbeitsteilung zwischen Management und Bedeutungsarbeiter:innen hin: „Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung ist keine reine Managementherausforderung, sondern fordert ständige Selbst- und Fremdvergewisserung, was nachhaltige Entwicklung bedeutet […]“ (S. 275). Dass die Bedeutungsarbeit von der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Dilemmata profitiert, wird auch von anderen Autor:innen dargelegt. Zu ihnen zählt Mandy Singer-Brodowski, die – wie auch Ann-Kristin Müller und Sophie Berg in ihrem Beitrag zur Forschungsförderung – den Modus der „transformativen Nachhaltigkeitsforschung“ untersucht, mit dem „gesellschaftliche Veränderungen hin zu Nachhaltigkeit nicht nur (beschrieben), sondern aktiv katalysiert“ werden sollen (S. 294). Singer-Brodowski erinnert jedoch daran, dass unter anderen Niklas Luhmann vor einer solchen Vermischung der wissenschaftlichen mit der politischen Sphäre warnte, und behandelt das sich daraus ergebende handlungspraktische Dilemma für Forscher:innen in ihrem Beitrag beispielhaft (S. 297).

Laura Scheler analysiert den Einsatz von Decision Support Tools (DSTs) – Informationssysteme, die Entscheidungsprozesse in Organisationen optimieren sollen. Damit knüpft sie an eine gesellschaftliche Debatte an, die Digitalisierung als Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung begreift. Am konkreten Beispiel digitaler Gesundheits- und Fruchtbarkeitsüberwachung bei Milchkühen untersucht sie Versuche der Vereindeutigung von Informationen und reflektiert kritisch über das geringe Bewusstsein für verbleibende Uneindeutigkeiten im Kontext von Nachhaltigkeit. In Milchviehbetrieben würden DSTs Krankheiten anhand hinreichender Indikatoren erkennen und Tiere insofern bloß als biologische Systeme erfassen. Das Ziel der Reduzierung von Krankheiten und Verletzungen zeuge darüber hinaus von einer engen Auffassung davon, was Tierwohl bedeutet. So würden Emotionen, natürliche Lebensweisen und artgerechte Umgebungen im untersuchten Fall gar nicht in den Blick geraten. Scheler plädiert dafür, immer dann besonders hellhörig zu werden, „[w]enn (Forschungs-)Projekte Nachhaltigkeit durch Big Data versprechen“ (S. 203). Ihrem Fazit nach liegt der wesentliche Beitrag der sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung darin, Dilemmata in Bezug auf Nachhaltigkeit überhaupt zu benennen, sodass Alternativen angemessen abgewogen werden können. Gegenüber einem informationstechnischen Ansatz, bei dem solche Dilemmata und eventuell fatale Folgen für Tier und Mensch gar nicht erst in den Blick geraten, verdeutlicht der Fall der Gesundheits- und Fruchtbarkeitsüberwachung von Milchkühen, welche konkreten Folgen ein sozialwissenschaftlich informierter Ansatz haben kann.

Annäherung statt Problemlösung

Stefan Staehle und Jörn Zitta greifen auf die Einsichten des deutschen Designtheoretikers Horst Rittel (1930–1990) zurück, wenn sie Nachhaltigkeit im Kontext der Stadt- und Quartiersplanung als „wicked problem“ charakterisieren, das nicht abschließend definiert und auch nicht gelöst werden kann (S. 154). Hier lassen sich Parallelen zum aktuellen Managementdiskurs über Grand Challenges ziehen; ein Konzept, mit dem nicht nur das Management, sondern auch die Managementforschung ihren Zuständigkeitsbereich um Themen wie Klimawandel und soziale Ungleichheiten in den vergangenen Jahren stark erweitert haben. Die fortwährende Aktualität von Horst Rittels designtheoretischem Ansatz aus den 1970er-Jahren besteht darin, dass er mit der üblichen Vorstellung von Problemlösung als Planungs- und Gestaltungsprozess bricht – zugunsten des Konzepts der Annäherung an verschiedene Bedürfnisse. Wie sich Rittels Motto, „soziale Probleme werden nie gelöst (solved). Bestenfalls erreicht man jeweils einen Lösungsbeschluß wieder neu“ (S. 159), auf konkrete Nachhaltigkeitsmaßnahmen anwenden lässt, eruieren Staehle und Zitta am Beispiel eines Forschungsprojektes zur Umgestaltung eines ehemaligen Werksgeländes in der Stadt Kaiserslautern.

Das Prinzip der Annäherung beleuchten auch Matthias Bergmann und Thomas Jahn in ihrem Beitrag über Herausforderungen für die transdisziplinäre Forschungspraxis im Kontext von Nachhaltigkeit. Die Unschärfe des Nachhaltigkeitsbegriffs würde zu einem mehrfachen Integrationsproblem für die Forschung führen: der Integration sozialer, ökologischer, ökonomischer und politischer Sachverhalte und Problembezüge, aber auch die Integration unterschiedlicher Werte und Wissensformen (S. 349).

Mit seinen Ausführungen über Systemaufstellungen, einer Methode, um Dilemma-Entscheidungen und ihre Trade-offs zu visualisieren, illustriert Georg Müller-Christ eine praktische Anwendung des Annäherungskonzepts im Kontext von Nachhaltigkeit und darüber hinaus. Systemaufstellungen werden den Leser:innen informativ als Visualisierung der sichtbaren wie unsichtbaren Elemente in Systemen vorgestellt, die „in ihrer dreidimensionalen Darstellung (Blickrichtung und Position im Raum) schon mit wenigen Elementen sehr viel mehr Komplexität abbilden können als Texte oder Graphiken“ (S. 345). Müller-Christ rückt mit Systemaufstellungen ein konkretes Tool in den Fokus, das dazu beitragen kann, dass sich Führungskräfte und andere von vorherrschenden Win-win-Hoffnungen im Nachhaltigkeitsmanagement verabschieden und stärker auf das Prinzip der Annäherung setzen.

Als ähnlich praktisch orientierten Beitrag würde ich auch die „Konzeptskizze“ von Gerhard de Haan und Saskia Grüßel einordnen, die danach fragen, wie Schüler:innen mit widersprüchlichen Informationen und Situationen im Kontext nachhaltiger Entwicklung adäquat und eigenständig umgehen können, und dabei die Notwendigkeit der Entwicklung von Resilienz herausstreichen.

Umgang mit Zukunft

Holli Gruber verknüpft das Schlagwort Nachhaltigkeit mit dem Begriff der Zukunftsfähigkeit – ein Thema, das besonders im Diskurs über Herausforderungen und Transformationsmöglichkeiten von Land und Landwirtschaft betont wird. Am Fall der Boden- und Flächennutzung in ländlichen Räumen illustriert Gruber ein Polylemma – es gilt zwischen mehreren Möglichkeiten auszuwählen, die dem Prinzip der Nachhaltigkeit kurz- oder langfristig allesamt zuwiderlaufen. Dabei würden Akteure wie Grundstückeigentümer:innen, Landwirt:innen, Lokalpolitiker:innen, Regionalplaner:innen und Umweltschützer:innen in komplexen Entscheidungssituationen ihre jeweiligen Vorstellungen von Zukunftsfähigkeit mitverhandeln. Diese kommen etwa in widerstreitenden Auffassungen des Bodens und seiner Beschaffenheit zum Ausdruck, nämlich unter anderem als Naturschutzgebiet, als Bauland oder als Ressource für den Nahrungs- und Futtermittelanbau. Interessanterweise stellt Gruber heraus, dass in gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatten zwar Bodenversiegelung, Bodenknappheit, Bodenverdichtung thematisiert, doch „das Verhältnis zum Boden und der Boden an sich kaum reflektiert“ werden (S. 185). In dieser Hinsicht kann die Soziologie, das illustriert Gruber in ihrem Beitrag auf exemplarische Weise, die Klimadebatte bereichern, weil sie – im Anschluss an Bruno Latour und andere – Materialität für die Untersuchung sozialer Prozesse systematisch einzubeziehen vermag.

Den Widerspruch zwischen Gegenwarts- und Zukunftsinteressen thematisieren Claudia Bozzaro und Dominik Koesling in einem informativen Beitrag über Antibiotika. Es handele sich hierbei um eine Medikamentengruppe, die einerseits dafür sorgte, dass die durchschnittliche Lebenserwartung um 23 Jahre verlängert werden konnte, und andererseits dazu führte, dass jährlich 1,27 Millionen Menschen aufgrund von Antibiotikaresistenzen sterben (S. 227). Bozzaro und Koesling bearbeiten in ihrem Beitrag das medizinethische Problem der „(Un-)Möglichkeit einer nachhaltigen Antibiotikanutzung“ (S. 232) und verhandeln so die Frage nach intergenerationeller Gerechtigkeit. Die Nutzung von Antibiotika – ebenso wie eine etwaige Nicht-Nutzung – in der Jetztzeit würde die Möglichkeit einer effektiven Anwendung von Antibiotika in der Zukunft erheblich beeinflussen. Im Unterschied zu vielen anderen Gebieten gebe es in der Antibiotikaforschung seit Jahrzehnten keine signifikanten Fortschritte, weshalb auch Maßnahmen in Form von Sanitärversorgung oder Infektionskontrollen als öffentliche Gesundheitsförderung von besonderer Bedeutung seien. Der von Bozzaro und Koesling beforschte Fall proklamierter Nachhaltigkeit, nämlich eine entsprechende Antibiotikanutzung, macht ebenfalls deutlich, dass Nachhaltigkeit kein Problem ist, das auf bestimmte Weise gelöst werden könnte, sondern vielmehr in der andauernden Herausforderung besteht, verschiedene Lösungspfade gleichzeitig zu verfolgen.

Während sich Bozzaro und Koesling mit der medizinischen Profession im Kontext von Nachhaltigkeit auseinandersetzen, richtet Markus P. Beham seinen Blick auf die Rolle von Jurist:innen. Beham behandelt das Recht als Instrument zur Umsetzung politischer Zielsetzungen, nämlich den von der UN formulierten Nachhaltigkeitszielen, die wiederum selbst dem Dilemma des Umweltschutzes bei gleichzeitiger wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung unterliegen. Anschaulich wird vorgeführt, dass die normative Konzeption der SDGs bereits heute im rechtlichen Querschnitt zwischen Völkerrecht, Europarecht und innerstaatlichem Recht erfolgt. Es seien nicht mehr bloß die klassischen Verfechter der Nachhaltigkeitsziele wie NGOs, Umweltaktivist:innen oder die Vereinten Nationen, sondern Regierungen, multinationale Unternehmen sowie Jurist:innen aller Rechtsgebiete, die ihren Beitrag zur Umsetzung der SDGs leisten müssen (S. 322). Die von Beham thematisierten Veränderungen seien notwendig, damit die juristische Profession auch künftig ihre gesellschaftliche Funktion für die „Qualitätskontrolle bestehender und zukünftiger Rechtsnormen“ (S. 318) erfüllen kann. Behams Ausführungen halten insbesondere für die professionssoziologische Forschung interessante Anschlussmöglichkeiten parat.

Mit der Auswahl und Gewichtung einzelner Beiträge habe ich auch zum Ausdruck bringen wollen, dass insbesondere die „empirische(n) Fälle“ (S. 125ff.) im Sammelwerk einen Gewinn für Leser:innen darstellen, weil mit dem Fokus auf Dilemmata vom üblichen Win-win-Szenario im Nachhaltigkeitsdiskurs abgewichen und die Auffassung von Nachhaltigkeit als prinzipiell überschaubarer Managementaufgabe kritisch betrachtet wird. Doch auch die „reflexiven Perspektiven“ (S. 25ff.), also die theoretisch-konzeptuellen Beiträge zur Auseinandersetzung mit Dilemmata – auch in Abgrenzung zu anderen „Formen von Problemen und Schwierigkeiten, die sich in komplexen Situationen mit vielfältigen Voraussetzungen ergeben“ (Daniel-Pascal Zorn; S. 73) – enthalten interessante Denkanstöße. Hier sticht etwa Dimitri Maders Dilemma-Analyse als Reflexionsmethode hervor und die von Sebastian Suttner ausgeführten Einwürfe zum Verhältnis von Risiko und Nachhaltigkeit bei der Analyse der zeitlichen Dimension des Nachhaltigkeitsdilemmas. Ein Clou gelingt den Herausgeber:innen mit der Aufnahme des kritischen Beitrags von Stephan Lorenz, der Dilemmata – im Gegensatz zu allen anderen Autor: innen – als unproduktiven Startpunkt für die Nachhaltigkeitsforschung betrachtet: „Dilemmata bezeichnen […] Konstellationen, aus denen man nicht ungeschoren herauskommt, die per se Lose-lose-Konstellationen meinen und für die es keine positive Auflösung gibt; es kann nur negativ und verlustreich ausgehen“ (S. 97). Mein Fazit der Lektüre von „Dilemmata der Nachhaltigkeit“ hingegen ist, dass die Beschäftigung mit Dilemmata deshalb besonders ertragreich ist, weil damit kein eindeutiger Vorschlag unterbreitet oder die Vorstellung bedient wird, Probleme könnten vollständig gelöst werden, sondern weil sowohl Forscher:innen als auch Praktiker:innen in die Lage versetzt werden, im Gespräch zu bleiben und sich anzunähern, um verschiedene Ansätze im Kontext von Nachhaltigkeit auszuprobieren und zu reflektieren.

  1. Eine Ausnahme macht Laura Scheler, die auch einen spezifischen Beitrag zur Organisationsforschung leistet, indem sie mit landwirtschaftlichen Betrieben einen Organisationstyp in den Fokus rückt, der bisher eher unterbelichtet ist, weil etwa die von Scheler untersuchten Milchviehbetriebe weniger dem Bild klassischer Organisationen wie Behörden oder großen Unternehmen entsprechen (S. 195).
  2. John W. Meyer / Brian Rowan, Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony, in: American Journal of Sociology 83 (1977), 2, S. 340–363.
  3. Nils Brunsson, The Organization of Hypocrisy: Talk, Decisions and Actions in Organizations, Chichester 1989.
  4. James G. March, The Technology of Foolishness, in: Civiløkonomen 18 (1971), 4, S. 4–12.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nikolas Kill.

Kategorien: Arbeit / Industrie Daten / Datenverarbeitung Digitalisierung Gesundheit / Medizin Ökologie / Nachhaltigkeit Recht Wirtschaft Wissenschaft

Hannah Mormann

Dr. Hannah Mormann vertritt derzeit die Professur für Soziologie im Schwerpunkt Mikroorganisationssoziologie an der Universität Luzern. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Nachhaltigkeit, Professionen und Banken.

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