Peter Bescherer, Josephine Garitz | Rezension | 02.07.2024
Ostdeutsche Gravitationskraft
Rezension zu „Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD“ von Susan Arndt
Schon der Titel des schmalen Bandes weist daraufhin, dass es Arndt ganz persönlich um die Auseinandersetzung mit ostdeutscher Identität geht. Biografisch und essayistisch interveniert sie damit in eine Debatte, die zwar schon lange geführt, aber insbesondere seit dem dreißigjährigen Jubiläum des Umbruchs von 1989 nochmals deutlich an Fahrt aufgenommen hat. Diese Herangehensweise ist nicht neu, auch Steffen Maus Lütten Klein von 2020 vermischt soziologische Analyse mit persönlichen Erinnerungen und erst kürzlich sorgte Dirk Oschmanns Streitschrift Der Osten: eine westdeutsche Erfindung medial für Aufregung. Ausgehend von den eigenen biografischen Erfahrungen ringen die Autor:innen mit der Frage, was das eigentlich ist, eine ostdeutsche Identität, und welche Rolle sie für gesellschaftliche Teilhabe, aber auch für das Erstarken des autoritären Populismus spielt. Arndt operiert ebenfalls in diesem Feld und versucht schon im Titel klarzumachen, wie sie sich positioniert: Sie wendet sich klar gegen eine pauschale Abwertung von Ostdeutschen als Rechtsextreme und gleichzeitig gegen jegliche Argumentationen, die die Wahl der AfD als etwas anderes verstehen als die Entscheidung für Diskriminierung und Autoritarismus und sie mit äußeren Umständen entschuldigen. Die Autorin arbeitet sich am Ost-West-Diskurs ab und problematisiert Geschichte wie Transformation der DDR, ohne die die rechten Wahlerfolge nicht zu verstehen seien. Arndt unterstreicht, dass der Blick auch auf den tief verankerten Rechtsextremismus in der alten BRD gerichtet und die vom Westen blockierte innerostdeutsche Aufarbeitung der DDR-Diktatur vorangetrieben werden müsse. Diese wichtigen Forderungen werden nur andeutungsweise erhoben, während der Kontrast zwischen Ost- und Westdeutschland das zentrale Strukturprinzip des Buches bleibt.
Die Geschichte der Autorin und „ihres“ Landes beginnt im zweiten Kapitel bei den Überlegenheitsnarrativen, die BRD und DDR als Grenzländer des Blockkonflikts prägten: Wirtschaftswunder, Demokratie und Freiheit hier, Antifaschismus, Sozialismus und Solidarität dort. „Während die ostdeutschen Überlegenheitserzählungen kaum mit individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen korrelierten, hatte die Bundesrepublik diesbezüglich größere Schnittmengen zu bieten.“ (S. 29) Viele DDR-Bürger:innen blickten denn auch sehnsuchtsvoll gen Westen – und stießen dort auf Herablassung gegenüber den Menschen statt Kritik am SED-Staat. In eine „Schieflage der Zerrissenheit“ (S. 30) gedrängt habe auch Arndt selbst in einen opportunistischen „Überlebensmodus“ (ebd.) geschaltet. Anlässe zum Aufbegehren gab es reichlich. Wie der Staat hinter der sozialistischen Selbstbeschreibung die real-existierende Diskriminierung schlichtweg ignorierte, so waren auch Familie, Schule und Alltag von autoritärer Erziehung, einem gestörten Vergangenheitsdiskurs, Geschlechterungleichheit, sexueller Gewalt und Militarisierung geprägt. Einzelne Erlebnisse – die tödliche Flucht eines Freundes oder der vergebliche Versuch, einen rassistischen Vorfall bei der Polizei anzuzeigen – haben dazu beigetragen, dass die Autorin sich vom eigenen Land entfremdete. Erst 1989, als Aktivistin im Neuen Forum, fühlte sie sich das erste Mal mit der DDR verbunden. Dem hoffnungsvollen Aufbruch folgten jedoch Enttäuschung über den Wahlerfolg der „Allianz für Deutschland“ im Jahr 1990 und krasse Erfahrungen mit Treuhand-Ausverkauf, Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit, während es „im Westen […] weder eine Transformation noch einen solchen sozialen Umbruch“ gegeben habe (S. 73). Dass die Anforderungen an den Systemwechsel so ungleich verteilt waren, habe die ostdeutschen Abwehrkräfte gegen die Krisen des neuen Jahrtausends, insbesondere die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise 2007/08, geschwächt. Unsichtbar für den Westen oder allenfalls als eine Schablone für Pauschalzuschreibungen fehlte vielen Ostdeutschen der „Mut zu einer ambivalenten biografischen Erzählung, die auch von Opportunismus und Mittäter:innenschaft erzählte“ (S. 81). Ostdeutsche Identität sei demnach im Wesentlichen eine Folge westdeutscher Diskriminierung. Genau dieses Verlierergefühl, so Arndts Erläuterung, greife die AfD auf – und stehe damit (nicht nur) der Autorin im Weg, die sich ihr „Ostdeutschsein zurückholen“ (S. 87) möchte; also stolz auf ihre Ost-Biografie sein möchte, ohne der AfD das Wort zu reden und ohne als „Ossi“ entindividualisiert zu werden.
In der zweiten Hälfte ist die Darstellungsform des Buches diskursiver. Weiterhin entlang biografischer Erfahrungen und Stationen schreibt Arndt im dritten Kapitel über Formen und Praktiken von Diskriminierung. Sie erinnert an feministische Grundüberzeugungen, für die die DDR trotz der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Frauen taub war und die sich nur in ihren Nischen bilden konnten. Intersektionale Irritationen (schwarzer Feminismus) kommen ebenso zur Sprache wie peinliche Situationen, die die Autorin als Studierende, aber auch als Lehrende mit dem eigenen Rassismus konfrontierten. Aus solchen Gegebenheiten zieht sie den Antrieb für weitere Lektüren zur Geschichte von Kolonialismus und Rassismus, über die sie hier berichtet. In diesem Lernprozess wird sie sich zum einen ihrer Verantwortung für historische Ungerechtigkeit und zum anderen ihrer weißen Privilegien bewusst. Insbesondere Rassismus in der Sprache wird vor diesem Hintergrund zum Gegenstand von Arndts wissenschaftlicher Arbeit, die grundsätzlich nicht politisch-neutral verfahren könne: Versuche zur Änderung von Leselisten und Sprache seien stets politisch; sie unverändert zu lassen aber auch.
Diskriminierung und autoritärer Populismus seien, so die Überzeugung der Autorin, keine Probleme des Ostens. Davon ausgehend entwickelt sie im vierten Kapitel ihre Erklärung der ostdeutschen AfD-Wahlerfolge. Im Wesentlichen verweist sie auf die „Mitte der Gesellschaft“, wo Bekenntnisse für eine deutsche „Leitkultur“ und gegen Einwanderung die Krise des Flüchtlingsschutzes angebahnt und der Häutung der AfD zur rechtsextremen Partei ein Gelegenheitsfenster verschafft hätten. Die AfD wird – wie man es anderswo schon gelesen hat – auch von der Autorin als völkische und neoliberale Partei charakterisiert, die ihren Wähler:innen im Falle einer Regierungsbeteiligung nur Nachteile einbringt. Gewählt werde sie, so der Kern der Ausführungen, aufgrund populistischer Dramatisierung und Täuschung, wegen simpler Antworten auf schwierige Fragen (Migration!), bröckelnder Brandmauern und der Normalisierung rechter Weltbilder. Die populistische Ansprache gelinge, weil den AfD-Wähler:innen der Wertekompass fehle und die Partei rechten Ressentiments einen politischen Ausdruck gebe. Die Autorin bewegt sich in ihrer Argumentation auf einem schmalen Grat. Denn zum einen spricht sie vom „ostdeutschen Resonanzraum“ (S. 152), der sich der AfD aufgrund von Diktaturerfahrung und dem damit einhergehenden „offiziell verordneten Unterrichtausfall“ „im Reflektieren von Rassismus und Sexismus“ (S. 143) böte. Zum anderen hebt sie immer wieder hervor, dass die in Westdeutschland dominante Erzählung vom „‚Die-da-im-Osten-sind-schuld‘-Sonderweg“ (S. 153) davon ablenke, dass es sich bei der AfD um ein gesamtdeutsches Phänomen handele, dessen Führungspersonal zu großen Teilen westdeutscher Herkunft sei, und am wichtigsten: Immer noch zwei Drittel der Ostdeutschen wählen eben nicht die AfD. Das problematische Drittel, so die Autorin anknüpfend an ihre eigenen Erfahrungen als Ostdeutsche, treibe nicht zuletzt „die tradierte westdeutsche Arroganz […] in die Fänge des AfD-Populismus“ (S. 152). Erkennbar sei darin der sozialpsychologische Mechanismus, wonach Aufwertung durch die Abwertung anderer bestärkt werde: „die rassistische Propaganda der AfD“ sei eine Möglichkeit für Teile der ostdeutschen Bevölkerung „eigene Diskriminierungserfahrungen in Richtung jener abzulassen, die fragil und strukturell ungeschützt sind“ (S. 151). Zwar betont Arndt, dass Sexismus und Rassismus auch in der westdeutschen Geschichte historisch verankert und tradiert seien und damit bis weit in die „Mitte der Gesellschaft“ Anknüpfungspunkte für AfD-Ideologien vorhanden seien, gleichzeitig führt sie diese im Gegensatz zur DDR-Prägung jedoch nicht weiter aus.
Wenn Susan Arndt sagt „Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD“, dann geht es ihr nicht nur um die biografische Reflexion ihrer eigenen Prägung, sondern vor allem darum, in einen Diskurs zu intervenieren, in dem die ostdeutsche Perspektive vielfach mit rechten Positionen in eins gesetzt wird. Demgegenüber möchte sie als „Ostdeutsche in [ihrer] Individualität gesehen werden“ und zugleich die AfD als „gesamtdeutsches Problem“ verstanden wissen und es bekämpfen (S. 87). Dazu brauche es „eine breite Front, um für Demokratie und Freiheit einzustehen“ (S. 161). Adressat:innen ihres Textes sind damit jene Menschen, die sie zur „Mitte der Gesellschaft“ zählt. Hier zeigt sich die ambivalente Argumentation der Autorin. Zum einen habe es dieser Teil der Gesellschaft in der Hand, klare Kante gegen rechtsextreme Parteien zu zeigen. Zum anderen argumentiert sie, dass die Mitte sich als „neutral“ und „normal“ missversteht, so dass diskriminierende Einstellungen geleugnet werden. Deswegen fordert Arndt von der Mitte, Diskriminierungen im Alltag konsequenter entgegenzutreten und damit der AfD den Nährboden zu entziehen sowie das stereotypisierende Sprechen über Ost- und Westdeutschland hinter sich zu lassen, um den Aufstieg der AfD in Ostdeutschland nicht noch weiter zu befördern. Wird Kritik an Diskriminierung nicht ernsthaft als Verstrickung reflektiert, sondern als Cancel Culture, Moralismus und Partikularismus abgetan, könne eine „klare Abgrenzung zur AfD sowie von deren Inhalten und Parolen“ nicht gelingen (S. 161). Anschaulich wird dieser Ansatz in den Küchentisch-Gesprächen zwischen der Autorin, ihrem Freund Udo aus Westdeutschland und der ostdeutschen Beate. Sie bilden den anekdotischen Rahmen, den Arndt ihrem Buch an Anfang und Ende gibt. Die erste Begegnung der drei eskaliert, weil Udos Überheblichkeit Beates rechtsextreme Tiraden nur verstärkt und Arndt selbst als Spalterin dasteht. Später gelingt es der Autorin, Udo die Folgen seiner Ossi-Stereotype zu verdeutlichen und ihm klarzumachen, dass sein Rant auf Antirassismus, Genderstern und Triggerwarnung ihn letztendlich zum Komplizen der Rechtsextremen macht.
Wie schon Arndts Erklärung für die Wahlerfolge der Rechten an die Perspektive eines liberalen Demokratieverständnisses gebunden bleibt (so als wäre mit „unserer Demokratie“ alles in Ordnung, wenn nur die AfD nicht wäre), muss auch diese Strategie-Demonstration als mindestens einseitig beurteilt werden. Die von Arndt nacherzählten Gespräche mit Udo und Beate erinnern stark an ein „Argumentationstraining gegen rechts“ und zielen darüber hinaus insbesondere auf Sprachgebrauch und kulturelle Repräsentation. Rassismus erscheint hier als Wissens-, Argumentations- und Sprachproblem, Antirassismus hingegen als Didaktik und Aufklärung. Beate und Udo wiederum kommt die Rolle als „Subjekt pädagogischer Einwirkung“[1] zu. Was fehlt, ist die konkrete Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen, die das „selbstschädigende Verhaftetsein“[2] in rassistischen Diskursen erst nachhaltig erschüttern kann.
Arndts kurzer essayistischer Band ist eine eindrückliche Reflexion ihrer eigenen Erfahrungen als Ostdeutsche. Man merkt der Autorin an, wie sie damit kämpft, nicht in stereotype Darstellungen zu verfallen und wie schwer es für sie ist, vom Osten loszukommen, auch wo sie doch eigentlich mehr über den Westen reden will. Gleichzeitig bleiben dabei insbesondere jene Passagen, in denen es um Handlungsmöglichkeiten und Strategien gegen das Erstarken der AfD geht, holzschnittartig und auf appellative Interventionen beschränkt. Der starke Fokus auf die ideologische Ebene von Rechtsextremismus und diskriminierenden Strukturen wie Rassismus und Sexismus führt dazu, dass die Rolle von Krisendynamiken wie Landflucht oder Bevölkerungsschwund nur am Rande thematisiert wird.
Fußnoten
- Klaus Holzkamp, Antirassistische Erziehung als Änderung rassistischer „Einstellungen“? Funktionskritik und subjektwissenschaftliche Alternative, in: Das Argument 36 (1994), 1, S. 41–58, hier S. 45.
- Ebd., S. 55.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Gesellschaft Politik Rassismus / Diskriminierung
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