Christian Dries | Rezension | 10.05.2023
Primadonnendämmerung
Rezension zu „Briefwechsel 1954–1978 und weitere Materialien“ von Hans Blumenberg und Hans Jonas

Editionen philosophischer Briefwechsel haben – ich wiederhole mich – zweifellos Konjunktur.[1] Vermutlich auch deshalb, weil aus Nachlässen druckfertig gemachte Korrespondenzen sich nicht nur eingängiger lesen als etwa Vorlesungsmanuskripte oder unveröffentlichte Monografien, sondern zugleich unsere Neugier befriedigen. Sie erlauben – zwischen Alltagsrauschen und historischem Datum oszillierend – den Nachvollzug biografischer Wege und Umwege sowie die lebensweltliche Einbettung theoretischer Entwürfe und Neuanläufe, ebenso wie den Schlüssellochblick ins mehr oder weniger Private, kurz: Sie lassen Geistesgrößen menschlicher erscheinen.
Der unlängst von Hannes Bajohr herausgegebene Briefwechsel zweier bedeutender Philosophen des 20. Jahrhunderts, die mehr als nur den Vornamen miteinander teilen, bildet da keine Ausnahme. Die vorzügliche Ausgabe bietet alle Briefe Hans Blumenbergs (1920–1996) an Hans Jonas (1903–1993) und vice versa aus den Archiven in Marbach und Konstanz[2] nebst einem umfänglichen, auf „Faktenvermittlung“ (S. 10) konzentrierten und dabei angenehm unprätentiösen Kommentar, der keine längst eingeweihten Leserinnen und Leser voraussetzt. Das Nachwort des Herausgebers (S. 287–327) lässt in seiner Mischung aus Information, Kenntnisreichtum und unaufdringlicher Einordnung ebenfalls nichts zu wünschen übrig. Hinzu kommt ferner, dass der ausgewiesene Blumenberg-Spezialist Bajohr dem Briefwechsel instruktive Materialien beigegeben hat, hauptsächlich andernorts publizierte, aber auch viele unveröffentlichte Texte und Notate Blumenbergs. Sie machen ein gutes Drittel des Bandes aus und tragen wesentlich dazu bei, das Verhältnis Blumenberg-Jonas nicht nur biografisch, sondern auch theoretisch fassbar, ja sogar für aktuelle Debatten fruchtbar zu machen.
Unerfülltes Werben
Blumenberg und Jonas lernten sich am 23. August 1953 kennen, auf dem „Elften Internationalen Kongreß für Philosophie“ in Brüssel, einer semi-industriellen Großveranstaltung, der Blumenberg einen wunderbar erichkästnerhaften, beinahe zeitlos gültigen Kongressbericht in der Westdeutschen Zeitung widmete (S. 199–202). Bis 1978 pflegten sie hernach einen freundschaftlichen, wenn auch durch Jonas’ notorische „Schwerfälligkeit im Schreiben“ (S. 88) und die „Mühle des heutigen Semesterbetriebs“ (S. 97) überschaubar gebliebenen Briefwechsel, ergänzt durch einige wenige persönliche Begegnungen in Deutschland. Die eher sporadische Korrespondenz tat der gegenseitigen Anerkennung, ja im Fall Blumenbergs gar Bewunderung für den anderen, über weite Strecken keinen Abbruch.
Er sei „keine Primadonna“, schrieb Jonas einmal über sich (S. 112), doch für Blumenberg spielte er unter den Gegenwartsphilosophen lange Zeit die erste Geige. Im Münsteraner Sommersemester 1976 widmete er dem 17 Jahre Älteren schließlich sogar eine eigene Vorlesung mit dem Titel „Das Werk von Hans Jonas“ – für den derart Geehrten „das Schönste, das mir in meinem vorrückenden Alter […] beschert werden konnte“ (S. 171). So sehr diese letzte große Geste, die Blumenberg unter den lebenden Kollegen sonst nur noch Helmuth Plessner erwies, den Abschluss ihres Verhältnisses markierte, so deutlich korrespondierte sie mit dessen Anfang. Denn schon 20 Jahre früher hatte Blumenberg versucht, den nach Zwischenstationen in Israel und Kanada schließlich in den USA lebenden und lehrenden Jonas in den „Stromkreis des deutschen Geisteslebens“ (S. 44) einzuspeisen, ja ihn buchstäblich in die Bundesrepublik zu re-importieren, indem er ihn zunächst in Kiel als Nachfolger seines eigenen, nach Köln berufenen Doktorvaters Ludwig Landgrebe (1902–1991) ins Spiel brachte und später dann für eine sogenannte Halbprofessur in Marburg.
Natürlich ging es dabei stets auch um die – für Blumenberg selbst bedeutsame – Frage, ob der aus Deutschland Vertriebene Jonas, dessen Mutter in Auschwitz ermordet worden war, im Land der Täter wieder heimisch werden könnte. Als Zeitdokument ist der diesbezügliche Schriftverkehr, mit dem der Band beginnt, keine Offenbarung; man kennt Vergleichbares aus der Feder anderer NS-Verfolgter. Dennoch vermitteln gerade Blumenbergs frühe Sendschreiben einen besonderen Eindruck von der Schwere der Last all jener, die sich mit Gedanken der Rückkehr, aber auch des Bleibens im Exil trugen. Kaum lässt sich daher im fast schon flehentlichen Werben um Jonas auch das Fragezeichen überlesen, das hinter Blumenbergs eigenem Entschluss stand, in der jungen, noch immer tiefbraun eingefärbten Bundesrepublik zu bleiben. Denn von einer „gelungene[n] Überwindung der ideologischen Restbestände der schrecklichen Vergangenheit“ (S. 45), die Blumenberg Jonas per Brief in Aussicht stellt, konnte in den 1950er-Jahren sicher keine Rede sein. Blumenbergs emphatische Bejahung der Frage, „ob Menschen Ihres und meines persönlichen und familiären Schicksals hier ein positives Lebensgefühl, ein gerades Verhältnis zu Menschen und Aufgaben wiedergewinnen können“ (S. 45), darf kühn genannt werden und ist als Überzeugungsversuch zugleich Autosuggestion. Das Scheitern der für Blumenberg „persönlich bedeutsamen Mission“ (so Bajohr, S. 299) war ein schwerer Schlag, der noch im letzten, gleichsam abschließenden Brief an Jonas zur Sprache kommt (vgl. S. 192).
Immerhin geizte der heftig Umworbene, der sich mehr als einmal entzog, durchaus nicht mit Zuneigungsbekundungen: Blumenbergs intensive Besprechung seines nach dem Krieg neu aufgelegten und um einen zweiten Teil ergänzten Gnosis-Buchs (S. 211–248), mit dem Jonas 1928 bei Martin Heidegger und Rudolf Bultmann in Marburg promoviert worden war,[3] fand er „meisterhaft“ (S. 66), die Legitimität der Neuzeit[4] erklärte er gar zu „dem von mir geschätztesten Buch deutscher Philosophie in mehr als einem Jahrzehnt“ (S. 151). Das war jedoch vermutlich auch ein wenig vom schlechten Gewissen diktiert, hatte sich Blumenberg doch kurz zuvor bei ihm beschwert, Jonas habe
„die Erwartungen anderer, was die Resonanz auf Zusendungen angeht, noch niemals auch nur der flüchtigsten Aufmerksamkeit für wert befunden […]. Als ich Ihnen 1966 mein Buch ,Die Legitimität der Neuzeit‘ schickte, haben Sie wie in allen Fällen sonst nicht einmal den Eingang bestätigt.“ (S. 149 f.)
Flaschenpost für die Klimabewegung
Am Ende herrschte Kommunikationsverweigerung. Die Einladung des gemeinsamen Verlegers Siegfried Unseld zum Mittagessen mit dem damals frisch gekürten Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 1987 schlug Blumenberg barsch aus: Da er schon oft mit Jonas gegessen habe, wisse er, „wie es aussieht, wenn er isst“, so Blumenberg in einem Brief an Siegfried Unseld, den Bajohr in seinem Nachwort zitiert (S. 289). Zu diesem Zeitpunkt war Blumenbergs frühe Begeisterung, ebenso wie der briefliche Austausch, längst erloschen. Besonderen Anteil daran hatte Das Prinzip Verantwortung, Jonas’ 1979 erschienener Spätling. Das Buch – klassisch-akademisch komponiert, im Stil oft „altfränkisch“[5] anmutend und nicht zuletzt wegen seiner, wenn auch schwachen, theologischen Hintergrundstrahlung eigentlich alles andere als eingängig – hatte seinen Autor in dessen alter Heimat, vor allem in umweltbewegten Kreisen, schlagartig berühmt gemacht und ihm den Titel eines Vordenkers der Öko-Bewegung eingetragen. Blumenbergs Reaktion darauf fiel nachgerade allergisch aus, Ausdruck einer philosophischen Entfremdung, die über Jahre gewachsen war (Blumenbergs berüchtigte Notengebung für Gelesenes tendierte von 1 auf 4) und sich in bisweilen bissigen Kommentaren und Notizen niederschlug. Nicht alle davon trafen Jonas direkt, manche eher das von ihm inspirierte grüne Milieu,[6] zielten aber immer auch auf ihn; Diagnose: ungenügend. Es sind vor allem diese (oft sehr knappen) Texte aus der Materialbeigabe, die dem Briefband ungeahnte Aktualität verleihen. Denn die Kritik am späten Jonas kann man auch als Kommentar zur Klimabewegung der Gegenwart lesen, die Jonas just als eine Art grünen Herbert Marcuse für sich entdeckt hat,[7] eine Flaschenpost an die Letzte Generation. Vor diesem Hintergrund lässt sich das längst erloschene Gespräch beider Denker mit Blick auf ihre Divergenzen wieder in den „Stromkreis“ rezenter Debatten um die Herausforderungen des Anthropozäns einspeisen.
„Verrat am Selbstbehauptungsprinzip der Neuzeit“
Was also hatte Blumenberg am Prinzip Verantwortung (und seinen umweltbewegten Rezipienten) auszusetzen? Wenig anfangen konnte er mit der im Buch anklingenden „Zeitgeisttendenz“ (S. 282), vor allem aber unterstellte er ihm „Verrat am Selbstbehauptungsprinzip der Neuzeit“, wie Bajohr in seinem Nachwort schreibt (S. 288): Während Blumenberg den Menschen in seiner Ausgesetztheit als hochgradig technikbedürftiges Wesen begreift, bürdet Jonas ihm in Blumenbergs Augen eine untragbare, mithin hybride Last auf, nämlich nichts weniger als die Anwaltschaft für die gesamte Schöpfung. Freilich sieht auch Blumenberg, dass der problematische Charakter moderner Technologien die traditionelle Ethik, die „von der Gleichartigkeit der Bedingungen für alle ethischen Subjekte in Raum und Zeit“ ausgeht, infrage stellt – und damit auch das „ethische Weltvertrauen“ moralisch handelnder Subjekte (S. 251). So müsse jede moderne Ethik heute
„umgekehrt eher mit einem Phänomen rechnen, das man als moralische Entropie bezeichnen könnte: die in die Natur eingreifenden Wirkungen des menschlichen Handelns verschlechtern die Voraussetzungen für die jeweils nächste Generation der Handelnden ständig, so daß diese es nicht nur schwerer haben, den Status zu halten, sondern auch hinsichtlich der Zweckmäßigkeit des Kraftaufwandes immer leichter zu resignieren disponiert sein werden“ (ebd.).
Die von Jonas unter großen metaphysischen Verrenkungen entwickelte „Ethik der Fernverantwortung“[8] hält Blumenberg dennoch für hypertroph – zum einen, weil sie auf einem „Mißverständnis des kategorischen Imperativs“ (S. 282) fuße, zum anderen aufgrund ihrer fragwürdigen theologischen Letztbegründung.
Zwar habe Immanuel Kant „die Möglichkeit der Selbstzerstörung des Menschen durch sein Handeln“ nicht gesehen, so Blumenberg. Sein Sittengesetz als Gesetz der Selbsterhaltung menschlicher Freiheit aber bleibe davon unberührt,
„denn man wird sagen dürfen, daß die Existenz des Menschen insoweit auch zu den Bedingungen der Möglichkeit seiner Freiheit gehört, daß also die biologische Selbsterhaltung des Menschen und der Natur als der Bedingungen seiner Lebenserhaltung impliziert ist in einem Sittengesetz, dessen Ableitungsprinzip die Selbsterhaltung der Freiheit ist“ (S. 252).
Jonas hatte dieser Ableitung widersprochen (zur menschlichen Freiheit gehört auch die Freiheit der Selbstauslöschung), „aber das ist doch falsch“, meinte Blumenberg, „denn eine Freiheit, deren Gesetz das Ende der Bedingungen der Freiheit zuläßt, widerspricht sich darin allemal selbst“ (ebd.). Auch wenn Kant von den Risiken der technologischen Moderne und ihren in fernste Zukünfte reichenden Nebenfolgen also noch nichts wissen konnte, genügt Blumenberg zufolge nach wie vor der kategorische Imperativ – „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“[9] – zu ihrer ethischen Regulierung.
Moralischer Elitarismus
Auch die von Jonas als Theodizee nach Auschwitz vorgebrachte und seine Ethik grundierende, höchst spekulative These eines sich selbst restringierenden, leidenden und besorgten, daher selbst gefährdeten Gottes, der den Menschen – als Mitgift ihrer Freiheit – die Treuhand über die Schöpfung anvertraut,[10] überzeugte Blumenberg nicht: „Daß eine Schöpfung der Bewahrung durch eines der Geschöpfe bedürfen könne, erscheint doch wenig durchdacht“ (S. 276), zumal der Mensch (als gutes Ebenbild Gottes) schließlich selbst genau das tue, „was Jonas seinen Gott tun läßt: er wagt etwas Ungewisses, ein Geschöpf“ (S. 249). Und das ist nach Blumenberg auch gut so. Den sowohl abenteuerlustigen (sprich: schöpferischen) als auch impotenten Gott hielt Blumenberg daher für einen „Kunstmythos“ (ebd.), den Menschen als Anwalt göttlicher Schöpfung für eine im Wortsinn verkehrte Vorstellung.
Ein Gebot zur Entfesselung prometheischer Schaffenskraft, von rücksichtsloser Umweltzerstörung ganz zu schweigen, folgt daraus natürlich auch für Blumenberg nicht. Umgekehrt befindet er aber (den Molekulargenetiker und Nobelpreisträger Joshua Lederberg zitierend): Eine womöglich riskante Forschung zu unterlassen, sei noch nie ein probates Mittel gewesen, sie zu verhindern. „Was fällig ist, wird dann eben in Wüsten betrieben.“ (S. 271) Gegen Jonas’ „Heuristik der Furcht“ – den Vorzug der schlechten vor der optimistischen Prognose[11] – setzt Blumenberg stattdessen auf das neuzeitliche Credo „Man muß, obwohl man nicht weiß, ob man darf.“ (S. 254) Weit mehr als das missglückte Experiment fürchtet er nämlich den Zivilisationsbruch durch ökologisch motivierte Vereitelungen technologischer Fortschritte. Denn der „Vorbehalt der bloß möglichen Totalfolge“ geht in seinen Augen fehl, „wenn das Motiv selbst verbunden ist mit dem Gedanken, die Nicht-Handlung könne auch und noch sehr viel wahrscheinlicher Totalfolgen haben, z. B. die Wiederkehr des absolut unvernünftigen Zustandes des homo homini lupus, des omnia omnibus“ (ebd.). Schon die weniger apokalyptische Vorstellung eines ,grünen‘ Rückbaus der Moderne hält Blumenberg für abwegig: „Nichts wäre naturfeindlicher als die Transportleistung, die nötig wäre, um die Bewohner einer mittleren Großstadt zum einfachen Leben zurückkehren zu lassen.“ (S. 274) Entsprechenden Forderungen unterstellt er einen gewissen „Parasitismus“, mindestens aber verkappten „Elitarismus“, denn jene, „die es dennoch tun, können es nur ohne Gefahr für sie selbst durch die anderen tun, wie diese anderen es nicht und nicht zu tun entschlossen bleiben“ (ebd.).
Sowieso habe die eschatologische Rede vom hausgemachten Ende der Menschheit „nur rhetorische Genauigkeit“ (S. 264). Wenn überhaupt, so könne sich die Menschheit „allenfalls dezimieren, und sie kann denen, die überleben, so übel mitspielen, als würden sie in die Steinzeit zurückgeworfen – ein Angebot, um das sich wiederum andere dringlich bewerben, denen alles nicht ,einfach‘ genug sein kann“ (ebd.). Von der Vernichtung der Schöpfung zu reden sei deshalb
„schon keine rhetorische Hyperbel mehr. Es ist Berechnung, angelegt auf Gehirne, denen die Welt nichts anderes ist als ihr philisterhaftes Nebenan und Drumherum. Niemand sollte gescholten werden, daß er diese Behaglichkeit oder gar ,Gemütlichkeit‘, im Wortsinne, nicht verlieren oder vorzeitig verlassen möchte. Der Wunsch zum Bleiben – auf Gegenseitigkeit – sollte aber nicht hochgespielt werden zu einer Verantwortung, in der es um mögliche Widerpartschaft gegen einen wie immer zu benennenden Schöpfer geht, den zu schonen einem seiner Geschöpfe zugefallen wäre.“ (S. 265)
Rücksichtslose Rücksicht?
Der Hypokrisieverdacht, der alles Aussteigertum und jede prophetische Endzeiterwartung seit jeher begleitet, mag an Jonas selbst vorbeizielen. Verhängnisvoll aber findet Blumenberg, dass er „Unheilsprophezeiungen“ salonfähig mache. Letztere schrieben sich von vornherein einen Vorteil gut,
„indem sie sich als solche ausgeben, die, wenn sie recht behalten, nicht gehört worden sind und nachträglich gepriesen werden können als die, auf die man hätte hören sollen, oder als ständige Avantgarde bei der Verhinderung des Unheils, das sie prophezeien, für die sie sich dann auch dann das Verdienst anrechnen können, wenn ihre Tätigkeit auf die Kausalität für solche Verhinderung nicht befragt werden kann“ (S. 255).
Dabei sei Alarm keinesfalls immer richtig, so Blumenberg. Er nutze sich, zumal wenn „mit Kalkül auf das jedenfalls fällige Rechtbehalten“ angeschlagen, nicht nur rasch ab, sondern verbrauche vor allem „den Kredit der Warner für gerade die Fälle […], in denen er notwendig verfügbar gemacht werden muß“ (ebd.). Indem Jonas sich stets auf die Seite der negativen Prognose schlage, verkenne er, „daß es auch eine vorrangige Ethik der Erhaltung des Werts ernsthafter Warnungen geben muß“ (S. 256).
Für Blumenberg krankt die Heuristik der Furcht an einem epistemischen Paradox, aus dessen Zirkel sie zu allem Übel nur den Ausweg der Selbstbeschneidung des Fortschritts findet: „Wenn wir wüßten, was wir in zehn Jahren wissen werden, wüßten wir es eo ipso heute schon.“ (S. 269) Nur dann, so darf man Blumenberg verstehen, könnte der Mensch das von Jonas eingeklagte „Nein zum Nichtsein“ im Zweifelsfall auch „seinem Können auferlegen“[12] – bräuchte es dann aber gar nicht mehr, weil er es längst besser wüsste.
So schlägt sich Blumenberg gegenüber einer „futuristische[n] Ethik des minimalen Lebensrisikos“ (S. 259), die sorgenvoll in apokalyptische Zukünfte blickt, konsequent auf die Seite der Zeitgenossen, denn „auch die Gegenwärtigen haben Anspruch auf die Bedingungen des Überlebens. Sie können die Welt, in der sie schon sind, nicht nach Belieben so verändern, daß Rücksicht auf die Zukunft ihr einziger und absoluter Grundsatz sein könnte.“ (S. 274) Der Einwand führt geradewegs ins Zentrum gegenwärtiger Auseinandersetzungen zwischen apokalypseblinden Besitzstandswahrern,[13] Fortschrittsoptimistinnen und kapitalismuskritischen Klimaaktivisten. Auch für Letztere rentiert sich auf gewisse Weise ja die von Blumenberg beargwöhnte Unheilsprohphetie, „und man sieht die Folge, wieviel Phantasie, Leichtfertigkeit, Opportunismus in sie investiert werden kann“ (S. 256). Aber haben wir es auch in diesem Fall bloß mit „Weltmuffelei“, „törichte[r] Anmaßung“ und Heuchelei (S. 264 f.) zu tun, die sich selbst „zum ethischen Heroismus hochstilisiert“ (S. 256), am Ende gar „zu allem fähig“ macht (S. 266) und – mit dem eschatologischen Totschlagargument des Überlebens der Menschheit – zum Äußersten ermächtigt? Und hat demgegenüber nicht vielmehr Blumenbergs Apologie der Neuzeit einen Zeitkern, der schlecht gealtert ist? Das von ihm verworfene Prinzip Verantwortung erschien in Deutschland kaum 20 Jahre nach dem „Abschied von der Proletarität“, der erstmals auch den unteren Schichten der alten Bundesrepublik bescheidenen Wohlstand ermöglichte.[14] Verzicht und Anpassung[15] zu fordern, mochte in der Tat weltmuffelnd, anmaßend, ja reaktionär erscheinen, wo sich viele Menschen den letzten Pfennig vom Mund absparen mussten, um beispielsweise einen Kühlschrank zu erwerben. Wer jedoch neben der Wahl zwischen 30 Kühlschränken und ebenso vielen Joghurtsorten auch ein manifestes Klimaproblem hat, das keiner eschatologischen Endzeiterwartung entspringt, sondern überwältigenden naturwissenschaftlichen Evidenzen, wird Blumenbergs Hohelied auf die Segnungen der Moderne und des technologischen Fortschritts vielleicht mit weniger Inbrunst weitersingen wollen.
Fußnoten
- Siehe Christian Dries, Zwischen allen Stühlen zuhause, in: Soziopolis, 3.11.2022.
- Die insgesamt 59 Briefe, darunter auch welche an und von Jonas’ Frau Lore, sollen – voraussichtlich 2025 – ebenso in Band V/2 der Jonas-Gesamtausgabe erscheinen. Siehe http://hans-jonas-edition.de [2.5.2023].
- Vgl. Hans Jonas, Der Begriff der Gnosis. Inaugural-Dissertation, Marburg 1928 (als Teildruck erstmals in Göttingen 1930 publiziert); ders., Die mythologische Gnosis. Mit einer Einleitung zur Geschichte und Mythologie der Forschung, Göttingen 1934; sowie ders., Gnosis und spätantiker Geist, Erster Teil: Die mythologische Gnosis. Mit einer Einleitung zur Geschichte und Methodologie der Forschung, Göttingen 1954; ders., Gnosis und spätantiker Geist, Zweiter Teil, erste Hälfte: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie, Göttingen 1954. Blumenbergs Rezension bezieht sich auf die beiden Nachkriegsausgaben.
- Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966.
- Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation [1979], mit einem Nachw. von Robert Habeck, Frankfurt am Main 2020, S. 13. Bei dem im Vorwort des Buchs erwähnten „überaus wohlwollende[n] Leser […] von bewiesener Stilkundigkeit“ (ebd.), von dem dieses Verdikt stammt, handelt es sich um Jonas’ alten Studienfreund Günther Anders (1902–1992).
- Ob Jonas es selbst so gewollt hätte, können wir nicht wissen, sein Verlag aber hat sich entschlossen, die alte Verbindung in der Neuausgabe von Das Prinzip Verantwortung sowohl optisch – der Umschlag imitiert in Schrift und Farbe das corporate design der frühen Grünen – als auch durch ein Nachwort von Robert Habeck mehr als deutlich zu machen. Dazu passt auch, dass das Buch erst 2020 erschien, das heißt nicht 30 Jahre nach der Erstausgabe, sondern zum Gründungsjubiläum der grünen Partei. Vgl. dazu – und zu Robert Habecks Nachwort – Christian Dries, Hans Jonas revisited, in: Soziopolis, 17.8.2020.
- Siehe https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosoph-hans-jonas-lieblingsdenker-klimabewegung-prinzip-verantwortung-100.html [2.5.2023].
- Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 65.
- Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 4, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 2005, S. 7–102, hier S. 51 (BA 52).
- Vgl. Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt am Main 1987. Ursprünglich 1984 als Dankesrede zur Verleihung des Dr. Leopold Lucas-Preises der Universität Tübingen gehalten, geht der Text auf einen New Yorker Vortrag aus dem Jahr 1965 zurück. Vgl. Francisco Quesada Rodríguez, „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (1984)“, in: Michael Bongardt / Holger Burckhart / John-Stewart Gordon / Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.), Hans Jonas-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2021, S. 187–190.
- Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 10, S. 65 ff.
- Ebd., S. 155.
- Der Ausdruck „Apokalypseblindheit“ geht zurück auf Günther Anders’ These vom „prometheischen Gefälle“ zwischen dem, was Menschen herstellen und dem, was sie vorstellen können, derzufolge viele moderne Technologien ebenso wie die technisch machbare Selbstauslöschung der Menschheit das menschliche (Fassungs-)Vermögen übersteigen. Vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], München 2018, S. 296 f.
- Vgl. Josef Mooser, Abschied von der „Proletarität“. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze / M. Rainer Lepsius, Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem (= Industrielle Welt, Band 34), Stuttgart 1983, S. 143–186.
- Zur Aktualisierung dieser Konzepte vgl. Philipp Lepenies, Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geist des Unterlassens, Berlin 2022; sowie Philipp Staab, Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft, Berlin 2022.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Migration / Flucht / Integration Ökologie / Nachhaltigkeit Philosophie Technik
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