Matheus Hagedorny | Rezension | 09.10.2023
Unklarheit als Tugend
Rezension zu „Nicht wie ein Liberaler denken“ von Raymond Geuss
Der Liberalismus steht am selbst geschaffenen Abgrund, sein Dogma des freien Unternehmer*innentums legitimiert die Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen und die von ihm genährte Illusion des autonomen Einzelnen können nur die Wenigsten zu Lasten der Allermeisten aufrechterhalten. Doch seine durchdringende politische und ökonomische Wirksamkeit macht ihn in den Augen von Raymond Geuss zur „wirklich totale[n] Ideologie unserer Ära“, die das Kunststück fertig bringt, „als die Antiideologie schlechthin“ (S. 17) zu gelten, als der scheinbar einzige Gegenpol zum dräuenden Autoritarismus aller Couleur. Der Philosoph, der Titel seines neuen Buches lässt es vermuten, kann dieser Dichotomie, ebenso wie dem Liberalismus an sich, rein gar nichts abgewinnen.
Nicht wie ein Liberaler denken ist nicht nur das titelgebende Leitmotiv von Geuss‘ neuem Buch, sondern auch eine selbstauferlegte Maxime des emeritierten Professors für Philosophie, der sich als Vertreter einer realistischen Philosophie der Politik versteht. Sein Verdikt über den Liberalismus führt er auf seinen persönlichen Bildungsweg zurück. Mehr erzählend als argumentierend zeigt er, welche historischen und biografischen Zufälle es ihm gestattet haben, „den Werdegang eines Liberalen zu vermeiden“ (S. 232). Damit wirkt das Buch wie ein Anwendungsfall von Geuss‘ Konzeption des Realismus. Diese will politische Theorie nicht über die Spannung von ethischem Sollen und empirischem Sein entwickeln. Im Mittelpunkt steht stattdessen der unvollständig informierte Mensch, die pragmatische Funktionsweise von sich wandelnden Institutionen und die Kritik machterhaltender Ideologien. Der „autobiographische Anteil“ (S. 31) muss in der Philosophie eines Kontextualisten gar nicht stören. Im Gegenteil: er ist gleichermaßen Objekt und Mittel von Erkenntnis.
Der Weg zum Professor für Philosophie führte bei Geuss durch eine totale Institution: ein von ungarischen Exilanten geführtes und von vielen ungarischen Flüchtlingen besuchtes römisch-katholisches Internat am Rande von Philadelphia. Die antiliberalen Geistlichen machten den Heranwachsenden in den späten 1950er-Jahren mit einer „Art existentialistische[m] Katholizismus“ (S. 147) vertraut. Dass diese „Welt einer exilierten Habsburgischen Hochkultur“ (S. 46) nach der Machtübernahme der kirchenfeindlichen Kommunistischen Partei Ungarns an die amerikanische Ostküste verpflanzt wurde, war eine seltene Konstellation. Seine Lehrer waren an strenger Sexualmoral und sturer Glaubensfeste desinteressiert, dafür psychoanalytisch gebildet und mit historisch-kritischem Verständnis religiöser und literarischer Texte ausgestattet. Das war ein starker Kontrast zum rigorosen Thomismus der US-Katholiken und dem Mainstream protestantischer Glaubensgemeinschaften. So geprägt kam Geuss, als er seinen Bildungsweg an der Columbia University in New York fortsetzte, unter den Einfluss von Lehrern, die auf Distanz zu liberalen Grundsätzen wie persönlicher Autonomie, Toleranz und abstrakter individueller Gleichheit gingen.
Wer nun eine sich abzeichnende Karriere als Konservativer vermutet, irrt: Geuss ist weder Antikommunist noch Katholik, sondern Kapitalismusgegner und Atheist geworden. Vor diesem Hintergrund liest sich sein Bericht wie eine implizite Ehrenrettung der sozialen Hermetik, die heute unter dem Begriff Filterblase firmiert und im Ruf steht, eine Radikalisierungsmaschine zu sein, die den herrschaftsfreien Diskurs der demokratischen Öffentlichkeit zerstört. Wenig überraschend kann Geuss mit Habermas‘ Konzept einer „idealisierten freien Diskussion“ (S. 228) nicht viel anfangen. Ihm gilt die freie Diskussion mitnichten als Wahrheitsapparat. Mit einigem Recht geht er davon aus, dass politische Ideen ihren Einfluss kaum den konsistentesten Argumenten verdanken, sondern ihrem Einsatz als Instrumente für bestehende Herrschafts- und Ausbeutungsinteressen. In der Geschichte gebe es „viele bedeutende Fälle, in denen die Festlegung der Beweislage vorauseile (…) oder in denen sich Menschen von Theorien abwendeten, die nicht wirklich widerlegt worden seien, bei denen sie aber einfach die Motivation verloren haben, sie weiter zu verfolgen.“ (S. 195)
Der Philosoph bekennt offen, dass seinem eigenem Werk eine „tiefe, dauerhafte und im Laufe der Jahre zunehmend reflektierte Aversion gegen bestimmte Begriffe, Theorien, Argumente, Sichtweisen auf die Welt und Formen der Sensibilität“ (S. 231) zugrunde liegt. Seine Apologie des Ressentiments gegen das Ideal Ich-freier Neutralität hat eine triftige Seite. Motivierende Affekte in der Forschung anzuerkennen kann ihrer Wissenschaftlichkeit durchaus zuträglich sein – so sie denn durchgearbeitet werden. So entwaffnend Geuss‘ Freimut auch ist: über manche begriffliche Schwäche kann er nicht hinwegtäuschen. Den Liberalismus beschreibt er nach eigener Aussage idealtypisch; planierend trifft es allerdings besser. Ihm sei Toleranz, Präferenz für Diskussion und eine gewisse Beliebigkeit zu eigen, als Doktrin bestehe er in der „Sammlung zweifellos wohlmeinender, aber doch ziemlich schönfärberischer Plattitüden“ (S.56). Dass, wie Geuss behauptet, liberale Theorie in der Regel eine geschichtslose Verklärung anonymer Herrschaft im Kapitalismus liefert, hat schon John Rawls in seiner am damaligen Status quo der USA entwickelten Theorie der Gerechtigkeit (1971) gezeigt. Aber ein Seitenblick auf den kontinentalen Neoliberalismus von Friedrich August Hayek bis Alexander Rüstow, der die Zäsuren der sozialistischen Staatswirtschaft und faschistischen „Ökonomie der Zerstörung“ (Adam Tooze) – wie kaltschnäuzig auch immer – verarbeitet hat, wäre produktiv gewesen. Weil diese sanierte liberale Ideologie seit 1945 der Entmachtung von Lohnabhängigen zuarbeitet, hätte eine Reflexion auf den Neoliberalismus Geuss‘ These von der falschen Dichotomie von Liberalismus und Autoritarismus stützen können. Seine Schilderungen machen jedoch anschaulich, wie unpassend die Nostalgie um den atlantischen Liberalismus der 1950er- bis frühen 1970er-Jahre ist, der die internationale Debatte um Populismus und Autoritarismus prägt. Denn Geuss erinnert daran, dass die Liberalen für die Ausweitung des Vietnamkrieg standen, „bestenfalls auf Kräfte in der schwarzen Community [reagierten]“, und beim Bearbeiten rassistischer Strukturen „vielleicht eine geringfügig bessere Bilanz vorzuweisen“ (S. 160) hatten als ihre rechten Gegner. Vor diesem Hintergrund wirkt die Verteidigung der liberalen politischen Kultur gegen die illiberale Rechte nicht so überzeugend, wie sich manche Liberale wünschen mögen.
Geuss eigenes philosophisches Programm bleibt im Buch fragmentarisch und wird nicht systematisch entfaltet. Sein Zugriff auf Gewährsleute wie Adorno oder den Dichter Paul Celan besteht vor allem in Pessimismus: dass die Annahme, dass das Individuum zur Einsicht in sein eigenes Selbst fähig wäre, Unsinn sei, „Sterblichkeit und Vergeblichkeit unendlich“ (S. 217) seien und alle Menschen, ob sie Ideale haben oder nicht, vor allem situativ handeln müssten. Die Menschen, die sich der angeblich totalen liberalen Ideologie widersetzen, haben nach Geuss den entscheidenden Nachteil, sich nicht so klar und alltagsverständlich ausdrücken zu können wie die Verteidiger des neoliberalen Status quo. Denn es fehlen diesen Kritiker*innen die „sozialen Institutionen, festgelegten Abläufe, Verhaltensgewohnheiten und gängigen Handlungsmuster (…) die der Idee einer ‚klaren Darstellung‘ Substanz geben würden.“ (S. 224) Es sei „ein gründlicher Irrtum“, anzunehmen, „dass die Wahrheit einfach ist, dass sie leicht formuliert und allen zugänglich gemacht werden kann, sofern die freie Diskussion (…) erlaubt sei.“ (S. 227) Mit Herbert Marcuse befindet Geuss: „Unklarheit ist eine Tugend“ (S. 222) und meint damit, dass Klarheit leicht durch stillschweigende Affirmation hegemonialer liberaler Prämissen herzustellen sei oder in einem „unabhängigen Bereich der Bedeutung“ entstehe, „der völlig funktional ist, aber mit dem menschlichen Handeln und menschlicher Geschichte überhaupt nicht zusammenhängt.“ (S. 226) Er betont, dass, wenn er von der Unklarheit nicht-liberalen Denkens spricht, er mitnichten die „aktive Erzeugung künstlicher Dunkelheiten“ (S. 218) meint, für die etwa der Kreis um den Dichter Stefan George steht. Stattdessen sei das Diffuse eine unvermeidliche Folge sorgfältiger Wirklichkeitsbeschreibung, wie an den opaken Gedichten Paul Celans deutlich werde.
Einer realistischen Philosophie weist Geuss die Aufgabe zu, Begriffe zu prägen, die nicht nur wertfrei beschreiben, sondern auch politischer Praxis den Weg bereiten. Das ist nahe an Antonio Gramscis kommunistisch interessierter Theorie kultureller Hegemonie, und es überrascht kaum, dass Geuss in seiner polemischen Kritik der politischen Philosophie (2011) mit einem Neo-Leninismus liebäugelt, den heute etwa der schwedische Humanökologe Andreas Malm in einer ökomarxistischen Variante vertritt. Während Malm jedoch eine Analogie zwischen der Klimakatastrophe und der Katastrophe des Weltkriegs herstellt, die im zaristischen Russland zu einem revolutionären Umsturz des politischen und ökonomischen Systems geführt hat, ruft Geuss, als „organischer Intellektueller“ ohne revolutionäre Organisation, die Gesellschaftswissenschaften dazu auf, als parteiliche Denker ihren begrifflichen Beitrag gegen die sozial-ökologische Menschheitskatastrophe zu leisten. Im Sinne seines historisch informierten Realismus hegt er große Zweifel, dass in einer liberalen Demokratie der Wechsel von einer kapitalistisch organisierten hin zu einer ökologisch verträglichen Ökonomie ohne Privateigentum an Produktionsmitteln möglich ist. Zu eng sei die liberale Demokratie mit dem Primat des Privateigentums verflochten, zu stark der ideologische Drang, gesellschaftliche Krisen zu individualisieren. Übereinstimmend mit Malm kann Geuss „sich nicht vorstellen, wie die Katastrophe abgewendet werden könnte, ohne dass erhebliche Zwangsmaßnahmen gegen die Akteure und tonangebenden Institutionen unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems ergriffen werden“. (S. 238) Doch während Malm sich diese Zwangsmaßnahmen gegen den fossilen Kapitalismus als eine Neuauflage des sowjetischen Kriegskommunismus vorstellt, richtet Geuss zum Schluss die weniger leninistische denn existenzialistische Frage an die Leser*innenschaft, „was für eine Sorte Mensch wir sein wollen, sowohl als Individuen als auch kollektiv, als Gruppenakteure“ (S. 242). Vor dem hegemonialen Gegner Liberalismus schwankt Geuss also bis zuletzt zwischen Aggression und Depression. Das lässt sich als unsouveränes Scheitern am Problem lesen. Folgt man seiner Argumentation, dann ist sein Scheitern gegen die „totale Ideologie unserer Ära“ (S. 17) allerdings folgerichtig und die Unklarheit seiner Anläufe gegen den Liberalismus Zeichen wahrhaftigen Denkens.
Dementsprechend ist Nicht wie ein Liberaler Denken vor allem eine anregende Lebenserzählung für geneigte Liberalismuskritiker*innen. In der Gattung intellektueller Autobiografien besticht sie durch den Mangel an eitlen Anekdoten und die Beschränkung auf die zumeist wenigen prägenden Jahre einer intellektuellen Laufbahn. Geuss legt die subjektiven Impulse offen, emanzipatives Denken von Topoi wie Gleichheit oder Menschenrechten abzulösen. Als idiosynkratischer Beitrag zur Selbstproblematisierung der philosophischen Persona hat das Buch hohen Erkenntniswert. So apodiktisch und sprunghaft es jedoch über weite Strecken argumentiert, ist es freilich mehr von intellektuellengeschichtlichem als gesellschaftsanalytischem Interesse.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Demokratie Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Philosophie Politik Politische Ökonomie Wissenschaft
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