Martin Bauer | Rezension | 01.07.2024
Ursprung in Aktion
Rezension zu „ursprung in actu. Zur Rekultifizierung des Denkens in Martin Heideggers ‚Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)‘“ von Klaus Heinrich

Pünktlich zu seinem 100. Geburtstag erscheinen 1989 Martin Heideggers Beiträge zur Philosophie. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Texten, die der Freiburger Philosophieprofessor zwischen 1936 und 1938 zu Papier gebracht hatte, ohne sie damals veröffentlichen zu wollen. Fünf Jahrzehnte später verlassen sie den Schutzraum des Nachlasses, ergänzt um den Zusatz „Vom Ereignis“. Ihm verdankt das Buch seinen eigentlichen Titel. Neben Sein und Zeit, dem ersten, 1927 veröffentlichten, allerdings Torso gebliebenen Hauptwerk gilt das Konvolut als zweites Opus magnum von Heidegger. Er selbst hat die Texte zusammengestellt und für die beabsichtigte, posthume Veröffentlichung sorgfältig überarbeitet. Heidegger revidiert Positionen, die seine frühere Fundamentalontologie entfaltet hatte, um auf die leitende Frage nach dem „Sinn von Sein“ zu antworten. Der Philosoph spricht – wie dann die seiner Selbstdeutung gehorchende, orthodoxe Heidegger-Rezeption – von „der Kehre“. Da diese Konversion in den „Beiträgen“ dokumentiert wird, stieß ihre Publikation zumal in denjenigen Teilen der philosophischen Öffentlichkeit, die Heidegger für einen der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts halten, auf besonders große Aufmerksamkeit.
Die Überschrift „Vom Ereignis“ ist insofern auskunftsträchtig, als Heidegger bereits in früheren, noch zu seinen Lebzeiten erschienenen Aufsätzen hervorgehoben hatte, „Sache des Denkens“ sei es, das Sein (oder wie er – typografisch antikisierend – schließlich schreibt: „Seyn“) „hinsichtlich seiner Wesensherkunft aus dem Ereignis“ zu denken.[1] Dieser Sache hatte sich Heidegger spätestens seit der sogenannten Machtergreifung der NSDAP im Jahre 1933 mit Nachdruck verschrieben und an ihr bis zu seinem Tod im Mai 1976 festgehalten.
Während des Sommersemesters 1990 hielt Klaus Heinrich, der im November 2020 verstorbene Religionshistoriker und -philosoph an der Freien Universität Berlin, zwölf Vorlesungen, die sich in minutiösen Auslegungen sowohl mit den Heidegger‘schen „Beiträgen“ als auch mit den Texten aus dessen Feder beschäftigten, die sachlich zu ihrem Umkreis gehören. Die hermeneutische Barmherzigkeit, die Heinrich den Ausführungen eines Philosophen angedeihen lässt, der in seiner eigenen Bildungsgeschichte keine unbedeutende Rolle gespielt hatte, stellt sicher, dass sich der Text dieser Vorlesungen als äußerst kundige, wiewohl ungewöhnliche Einführung in Heideggers Ontologie lesen lässt. Weder versäumt Heinrich, deren Genese auszuleuchten, noch verpasst er Gelegenheiten, philosophie- und zeithistorische Kontexte aufzurufen, die Heideggers Seinslehre imprägniert haben und bestimmend für jene Revisionen sind, mit denen er nun von der Daseinsanalyse in Sein und Zeit Abschied nimmt.
So kommt mit Edmund Husserl die transzendental- und bewusstseinsphilosophische Phänomenologie des Lehrers zu Wort, den Heidegger nicht nur 1927 radikal kritisiert, sondern ein paar Jahre später verraten hatte: In Nachauflagen während der Zeit des Nationalsozialismus ist die Widmung getilgt, mit der Heidegger die Erstauflage von Sein und Zeit Husserl zugeeignet hatte. (Der Freiburger Mitbürger war Jude.) Auch das ontologische Alternativunternehmen von Nicolai Hartmann, einem vormaligen Kollegen Heideggers im Kreis der Marburger Universitätsprofessoren, bedenkt Heinrich in einer Skizze, die in ihrer Präzision mindestens so bestechend ist wie in der Kritik an Hartmanns Stoizismus: Das Leben (unterm Hakenkreuz) sei hart, gerade die Härte dieser Wirklichkeit verlange indes, sie duldend zu ertragen. Selbst auf Karl Jaspers kommt die Rede, hält er, darin Heidegger nicht unverwandt, die Zeit der Ontologie doch für passé. In der Abkehr von Ontologie votiert Jaspers für eine philosophische „Existenzerhellung“, die nicht mehr auf Wissen setzt, sondern Dechiffrierung menschlicher Existenz durch Chiffren sein soll. Eben Sinnstiftung ohne Seinslehre. Nicht zuletzt geht Heinrich in einer seiner Vorlesungen ausführlich auf Wilhelm Windelband ein, dessen neukantianische Wissenschaftstheorie die Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften in dem Umstand begründet sieht, dass beide Erfahrungswissenschaft seien. Ihre Eigenarten erklären sich daraus, dass Naturwissenschaft stets Gesetzeswissenschaft sei, während die Geisteswissenschaft als eine Ereigniswissenschaft aufgefasst werden müsse, weil sie es mit singulären Entitäten zu tun habe, die sich nomologisch nicht erklären lassen.
Bei der Lektüre von Heinrichs Vorlesungen ist jedoch nicht nur mitzuverfolgen, wie die von Heidegger reklamierte Sache des Denkens zum Sprechen gebracht, das heißt in nachvollziehbare, diskursive Rede überführt und dadurch Kontroverse möglich wird. Was Heinrich nach eigener Auskunft dazu motiviert, sich einen religionsphilosophischen Reim auf Heideggers Unterfangen zu machen, das ‚Seyn‘ vom Ereignis her zu denken, war ein zeitdiagnostischer Impuls: Auch wenn er gleich eingangs der ersten Vorlesung erklärt, zu „den aktuellen völkischen Ereignissen“ nichts sagen zu wollen, „weil ich nachher noch andere völkische Ereignisse zu rezitieren habe“ (S. 9), dürfte Eines außerfrage stehen: Heinrich doziert im Dahlemer Hörsaal unter dem Eindruck desjenigen Ereignisses, das im Herbst des Vorjahres stattgefunden hatte und sofort als welthistorische Zäsur wahrgenommen wurde. Die Mauer, die Berlin in einen West- und einen Ostteil zerschnitten hatte, war gefallen; das Land nicht mehr geteilt. Auf den Leipziger Montagsdemonstrationen, die im Herbst 1989 begonnen hatten, verwandelte sich die anfängliche Parole „Wir sind das Volk!“ in den vielstimmigen Chor: „Wir sind ein Volk!“
Eine postmoderne Übertrumpfungsfigur
Zum Thema wird ‚Ereignis‘ bei Heinrich jedoch nicht primär, weil zufällig ein Jahr zuvor Heideggers „Beiträge“ erschienen waren und außerdem die eine Hälfte der vormals bipolaren Weltordnung vor seinen Augen (und denen seiner damaligen Zuhörer: innen) kollabiert war. Der Zeitdiagnostiker Heinrich wittert vielmehr eine „‚Ereignis‘-Euphorie“, die ob ihrer Bedeutung für die Gegenwart nach Analyse verlangt. Für Heinrichs Begriffe verweist diese Euphorie einerseits auf Denkfiguren in Heideggers Spätwerk. Andererseits soll die Beschäftigung mit ebendiesen Topoi dazu dienen, die diagnostizierte Befindlichkeit als „postmoderne Übertrumpfungsfigur“ zu entschlüsseln. Heinrich sieht Entsprechungen am Werk, die seine Vermutung begründen, unter dem Stichwort ‚Ereignis‘ agiere sich der Zeitgeist aus. „Katastrophenfaszination“ mache sich breit, eine in Angstlust getränkte Erwartung, Katastrophe sei Synonym für Befreiung, ein Versprechen auf „Erlösung“ von „allen historischen wie kategorialen“ Bedingtheiten menschlicher Existenz (S.302).
Mit Blick auf diese Faszination und das affektdynamische Potenzial, das die individuelle wie kollektive Ereignisattraktion unterfüttert, konstatiert Heinrich, „der Ereignisbegriff“ markiere „das Ende einer Entwicklung“, welche die Erfahrung gegenständlicher Welt (Objektivität) ebenso wie das Erleben in sozialer Interaktion (Subjektivität) deshalb außer Kraft setze, weil ein „katastrophischer Einbruch“ in Aussicht stehe. Ein derartiges Ereignis vermag in dem Maße zu faszinieren, wie es „mit initiarischer Erwartung aufgeladen wird“ (ebd.).
Von der emotiv wie kognitiv belastenden Zumutung, objektive Welt erfahren und soziale Mitwelt subjektiv erleben zu müssen, womöglich mit einem einzigen Schlag entlastet zu werden, kann erlösend wirken, falls das Ereignis als ‚Katastrophe‘ im Wortsinne erwartet wird, nämlich als Umschlag oder Wende. Unter solchen Umschreibungen nimmt das katastrophische Ereignis die Gestalt einer Initiation an: Erahnt, ersehnt, begehrt wird ein Untergang, der seine Bedrohlichkeit einbüßt, weil er, die Wende, mit einer Wiedergeburt belohnt. Der schmerzhafte Verlust eines vormaligen Status mitsamt all seiner Attribute wird durch die Anerkennung einer neu gewonnenen Identität gratifiziert. Darin besteht der Kern jedes initiatorischen Ritus. Diese Metamorphose herbeizuführen, sie an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit in Szene zu setzen, macht die Initiation zu jener außeralltäglichen Kultpraxis, die sie nach einhelliger Auskunft von Ethnologie, Soziologie und Religionswissenschaft ist. Noch jede längere Sitzung in einem zeitgenössischen Tattoo-Studio wird von der Erwartung zehren, dass ein sichtbarer Wandel des äußeren Erscheinungsbildes die Schmerzen vergütet, die bei der gewollten Verzierung von Hautoberflächen unvermeidlich sind.
Zur Opferung bestimmt
Wie aber kommt Heinrich zu seiner Behauptung, ‚Ereignis‘-Euphorie in ihrer zeitgenössischen Erscheinungsform verweise auf Dokumente, die Heidegger Mitte der 1930er-Jahre in der Abgeschiedenheit seiner Hütte in Todtnauberg aufsetzt? Die Antwort liefern zwei Passagen, um deren immer präzisere und immer weiter ausgreifende Interpretation alle Vorlesungen kreisen.
Der erste Passus ist kurz, umfasst nur einen Satz, der lautet: „Im anderen Anfang wird alles Seiende dem Seyn geopfert, und von da aus erhält erst das Seiende als solches seine Wahrheit.“ Diese Behauptung findet sich auf Seite 230 der „Beiträge“. Heinrich hält sie für „die schrecklichste Wahrheitsstelle im ganzen Opus Heideggers“ (S. 69). Wenn das Seiende als solches, folglich auch dasjenige Seiende, das Heidegger als „Dasein“ verstanden und als ein Seiendes ausgezeichnet hatte, das sich in seinem Sein um sein Sein selbst sorgt, erst von dort seine Wahrheit erhält, wo es dem Seyn geopfert wird, dann ist der Augenblick dieser Enthüllung für das Dasein der Moment, in dem es sich – so Heinrich – „nicht mehr dagegen sträubt […], daß es eigentlich Opferstoff ist“ (S. 68). Um seiner Wahrheit willen, in der Sorge um ein Verständnis der eigenen Existenz, hat das Dasein Heidegger zufolge die Unumgänglichkeit seiner Opferung einzusehen.
Die fundamentale Wahrheit, zur Opferung bestimmt zu sein, empfängt das Seiende im Allgemeinen und das Dasein im Besonderen nach Heideggers Auskunft im Modus einer Unterwerfung. Es wird durch einen Vorgang entmächtigt, der für den Religionswissenschaftler Heinrich die „aller-, allerüberspitzeste und totalisierte Form des Opferrituals“ ist (S. 68). Mit der Behauptung, dass „in der Tat“, wie Heinrich paraphrasiert, „alles Seiende zum Opfer bestimmt“ ist (S. 68), erhebt sich Heidegger zum unumwundenen Fürsprecher eines Kults, der in seinen Ausmaßen sämtliche Opferrituale übertrumpft.
Als Propagandist eines derartig entgrenzten Opferkults kann Heidegger allerdings nur unter einer Bedingung auftreten. Es muss, wie Heinrich zu Recht überlegt, eine Möglichkeit geben, den behaupteten Opferzusammenhang zu transzendieren, sich seiner vernichtenden Gewalt zu entziehen. Andernfalls ließe sich nicht verkünden, wie es um die Bestimmung allen Seienden zum Objekt eines so gigantischen Opferrituals steht. Heidegger braucht also Abstand vom Ritual, um es in den „Beiträgen“ überhaupt bekunden zu können. Diese Distanz schafft ein „seherisches Verhalten zum Sein“ (S. 69). Es steht nach Heideggers Ermessen nur „Wenigen“ und „Seltenen“ zu Gebote. Zu ihnen zählt sich der Philosoph, muss dafür allerdings seine Rolle verändern. Er mutiert zum Seher, wird Prophet.
Wegen dieses Rollenwechsels lastet Heinrich ihm eine „Rekultifizierung des Denkens“ an. Die betreibt Heidegger im Habitus des Propheten, der für sich einen privilegierten Zugang zur Wahrheit in Anspruch nimmt. Er ist das besondere Opfer, das sich von den anderen Opfern absetzen kann, weil es sieht, was geschieht und ausspricht, welches Opfer ansteht. Mithin argumentiert Heidegger nicht mehr als Philosoph, der über jene Vernunft verfügt, die er mit der Rationalität seiner Zeitgenoss:innen teilt. Und anders als die Propheten der Hebräischen Bibel tritt Heidegger auch nicht als Herrschaftskritiker im Namen universaler Moral auf, sondern verkündet im diametralen Gegensatz dazu einen Kult, unter dessen totaler Herrschaft das Seiende auf dem Altar des Seyns rituell geopfert wird, um seiner Wahrheit inne zu werden.
Heinrichs resümierendes Fazit lautet, Heideggers Prophetie sublimiere eine realhistorische Erfahrung: Ihn wie all die anderen Volksgenoss:innen hatten die „völkischen Ereignisse“ ergriffen, ein Aufbruch, der ihn zum euphorisierten Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung machte. Heidegger, das Parteiabzeichen der NSDAP am Revers, wähnte sich in einem anderen Anfang, aus dem heraus er jetzt meinte, das Seyn neu denken zu müssen. Theodor W. Adorno formuliert es an einer Stelle im Jargon der Eigentlichkeit bündig, die Heinrichs Befund korrespondiert: „‚Das Opfer wird uns frei machen‘, schrieb, in polemischer Variation einer sozialdemokratischen Parole, 1938 ein NS-Funktionär. Heidegger ist damit einig.“[2]
Ursprung in actu
Nach Adornos ideologiekritisch akzentuierter Auseinandersetzung mit Heideggers Eigentlichkeitsphilosophie zu Beginn der 1960er-Jahre nimmt auch Heinrichs Interpretation der Ereignisphilosophie Heideggers dreißig Jahre später einen Wink auf, den Paul Tillich hinterlegt hatte: In seiner 1933 veröffentlichten Broschüre Die sozialistische Entscheidung bemerkt der damals noch in Frankfurt lehrende protestantische Theologe und Philosoph, Ontologie sei „die letzte, abstrakte Fassung des Mythos vom Ursprung“.[3] Tillichs These war nicht direkt auf Heidegger gemünzt, sollte vielmehr den Nationalsozialismus als totalitäre Weltanschauung kennzeichnen, die in ihrem ursprungsmythischen Vokabular („Blut und Boden“) offenkundig engen, geistesverwandtschaftlichen Kontakt zu politisch nicht minder fragwürdigen Ontologien der Weimarer Jahre hielt. Tatsächlich bringt aber auch Heidegger, wenn seine „Beiträge“ einen „anderen Anfang“ beschwören, einen Ursprung ins Spiel. Ihm schreibt er die doppelte Macht zu, dem Seienden sowohl seine Wahrheit zu übermitteln als es mit diesem Akt an ebenjene Wahrheit zu binden. Darin aber liegt die Pointe jeder Version ursprungsmythischen Denkens: Stets werden Anfänge oder Herkünfte evoziert, die etwas in Gang bringen, das sich der Wirkmacht seines Ursprungs nur um den Preis eines Verfalls oder einer (Selbst-)Verkennung entwinden kann. Also fragt Heinrich, ob nicht auch Heidegger „folgerichtig unter die Ursprungsdenker gerechnet werden“ müsse (S. 120). Dass er diese Einordnung letztlich verwirft, hat damit zu tun, wie Heidegger besagten Ursprung expliziert.
Und damit kommt die zweite, nicht minder rätselhaft anmutende Passage ins Spiel, um die Heinrichs Interpretation kreist:
„Ontische und ontologische Wahrheit betreffen je verschieden Seiendes in seinem Sein und Sein von Seiendem. Sie gehören wesenhaft zusammen auf Grund ihres Bezugs zum Unterschied von Sein und Seiendem (ontologische Differenz). Das dergestalt notwendig ontisch-ontologische gegabelte Wesen von Wahrheit überhaupt ist nur möglich in eins mit dem Aufbrechen dieses Unterschieds.“[4]
Im ersten Schritt differenziert Heidegger hier ganz in der Tradition herkömmlicher Ontologie zwischen Seiendem und Sein. Sein kann nicht Seiendes sein, denn dann wäre es nur Seiendes unter anderem Seienden. Andererseits ist Sein eine Eigenschaft, die allem Seienden zukommt. Entsprechend unterscheidet er zwischen ontischer Wahrheit, die Seiendes betrifft, und ontologischer, die sich auf Sein bezieht. Statt die Ausgangsdifferenz schlicht logisch zu formalisieren, A (Seiendes) ist nicht B (Sein) und B (Sein) ist nicht A (Seiendes), dramatisiert Heidegger sie im nächsten Schritt. Seiendes wie Sein sollen trotz ihres Unterschieds deshalb „wesenhaft“ zusammengehören, weil sich beides, Seiendes wie Sein, zu der Differenz verhält, die sie unterscheidet. Was getrennt schien, gehört dennoch zusammen. Wie? Heidegger benennt keine Identität, die zunächst verborgen gewesen wäre, jetzt aber die Zusammengehörigkeit von Seiendem und Sein verbürgte, vielmehr postuliert er ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Das Unterschiedene, Sein wie Seiendes, verhält sich zu dem, was es unterscheidet. Ob sich unter einer solchen Relation überhaupt etwas denken lässt, sei dahingestellt. In jedem Fall sticht an Heideggers Vorgehen ins Auge, dass er die Differenz zwischen Sein und Seiendem offenbar als Produktivität begriffen wissen will. Um diese eigentümliche Schöpfungskraft näher zu bestimmen, behauptet er im letzten und für Heinrich entscheidenden Schritt, dass der Unterschied, zu dem sich Sein und Seiendes in ihrer Bezogenheit aufeinander verhalten, keine Gegebenheit ist, sondern eine ereignishafte Aktivität: Der Unterschied zwischen Sein und Seiendem bricht auf. Im Ereignis dieses Aufbruchs wird – so Heidegger – ein Verhältnis begründet, das sich zu sich selbst verhält. Also ist die ‚ontologische Differenz‘ keine Gegebenheit, sondern der Name für einen Ursprung, der sich als Aufbruch ereignet. Wir haben es, wie Heinrich darlegt, mit einem „Ursprung in actu“ (S. 79 und S. 138) zu tun. „Und als dieser in Aktion beobachtete Ursprung“ ist er für Heidegger, wie Heinrich hinzufügt, „natürlich unendlich vielmehr […] als alle symbolische Redeweise uns präsentieren kann“ (S. 138).
Maßnahmen zur Angstabwehr
Das Programm, das Heinrichs Religionswissenschaft an den Stoffen einlöst, die sie jeweils exemplarisch untersucht, besteht darin, „Prozesse der Zivilisationsgeschichte so weit wie möglich aufzuklären, um nicht zu widerstandslosen Objekten solcher Prozesse zu werden“.[5] Es ist ein Programm zivilisationshistorischer Aufklärung, das die in Religionen, ihren Kulten, Ritualen und Liturgien, ihren Mythologien und heiligen Texten verwendeten Symbole kraft vergleichender Analyse aufschlüsselt. Deren Gehalte werden in Beziehung zu den realhistorischen Erfahrungen gebracht, die in solchen Symbolbildungen verhandelt, sowohl bearbeitet als auch verdrängt werden. Zivilisationsgeschichte ist für Heinrich stets dieses Zugleich von verdrängender Bearbeitung konfliktueller Erfahrung und aufklärender Bearbeitung verdrängter Konflikte. Beides hinterlässt wahrnehmbare Spuren in den Symbolbildungen, zumal in denjenigen, die Ursprünge repräsentieren. So vermag Heinrich darzulegen, dass „ein Ursprung, der in Aktion ist“, einen Anfang symbolisiert, der sowohl „etwas hervorbringt“, als auch „etwas wieder zu sich zurückholt“ (S. 138). Dementsprechend repräsentiert dieser Typus von Symbolbildung, der zivilisationshistorisch auf archaische Opferkulte zurückgeht, auch bei Heidegger eine Produktivität, die, gerade weil sie Leben spendet, es zugleich vernichten, eben opfern kann. Dass Heidegger dieses Kultkontinuum nicht erkennt, dass er es vielmehr unaufgeklärt, ungebrochen, ja affirmativ fortschreibt, indem er Opferung zum Wahrheitsereignis adelt, provoziert Heinrichs Einspruch.
Es ist ein weitreichender Protest, keine nur innerphilosophische Kritik an der Begrifflichkeit von Heideggers „Beiträgen“, auch keine nur ideologiekritische Polemik. Er betrifft „diese sich ängstigende Schoßphantasie der Philosophie in all ihren Spielarten: vom Taoismus über das buddhistische Denken, bis hin zum griechischen Seinsdenken, das sind lauter abstrakte Schöße, die da hervorbringen und wieder zurückschlingen“ (S. 138).
Wo die in der Regel männliche Schoßphantasie in philosophischen Entwürfen virulent ist, erweisen sich die Abstraktionsleistungen der Philosophen nach Heinrich ganz generell als Maßnahmen zur Angstabwehr. Abgewehrt wird, wie Heinrichs religionswissenschaftliche Aufklärung darlegt, der Angst auslösende Zwiespalt, in den Schoß zurückzuwollen, doch nicht sicher sein zu können, ob die gewollte Regression wirklich zur Rückkehr in ein ersehntes, zweites, neues Leben führt. Was Heideggers Unterfangen im Vergleich mit anderen Veranstaltungen, die Angst symbolisch überformen, sie damit aber zugleich verdrängen, mithin nicht wirklich bewältigen, besondert, war seine Erwartung, „tatsächlich auf den Ursprung in actu zu treffen. Die reale NS-Zeit schien es zu sein.“ (S. 139) Heidegger wähnte sich, anders gesagt, in einer Weise vom aktiven Ursprung ergriffen, die ihn über dessen bloß symbolische Vergegenwärtigung in ontologischer Begrifflichkeit hinausträgt. Man könnte diese extraordinäre, wenn nicht manische Selbstwahrnehmung eine genuin Heidegger‘sche Version der Aufhebung von Philosophie in kultische Praxis nennen – wobei anzumerken bleibt, dass diese Opferpraxis faktisch der im September 1939 von den Nationalsozialisten begonnene Zweite Weltkrieg gewesen ist.
Fußnoten
- Siehe etwa Martin Heidegger, Der Weg zur Sprache [1959], in: ders., Unterwegs zur Sprache, 5. Aufl., Pfullingen 1975, S. 260.
- Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie [1964], in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Bd. 6, Frankfurt am Main 2003, S. 501.
- Siehe Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, in: ders., Christentum und soziale Gestaltung, Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, Bd. II, Stuttgart 1962, S. 239.
- Martin Heidegger, Vom Wesen des Grundes [1929], in: ders., Wegmarken, Frankfurt am Main 1996, S. 134.
- Klaus Heinrich, Dahlemer Vorlesungen: Giovanni Battista Piranesi, in: Arch+, Zeitschrift für Architektur und Urbanismus 56 /2023), 254, S. 23.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.
Kategorien: Moderne / Postmoderne Philosophie Wissenschaft
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